Eine böse Überraschung

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Eine böse Überraschung
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Elisa Scheer

Eine böse Überraschung

Kriminalroman

Alles frei erfunden!

Imprint

Eine böse Überraschung. Kriminalroman

Elisa Scheer

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Copyright: © 2017 Elisa Scheer/R. John (85540 Haar)

www.elisa-scheer.de

ISBN 978-3-7450-1568-3

1

Als ihr Handy brummte, warf Henriette einen eher desinteressierten Blick auf das Display. Ach?

„Willi! Was gibt´s, dass du mich in der Arbeit anrufst?“

„Weißt du, was morgen Nachmittag passiert?“

„Was denn?“

„Der Abbruch beginnt! Ich dachte, wir wollten zusehen?“

„Au ja! Wann genau?“

„Um zwei, glaube ich.“

„Super! Ich hab noch was abzufeiern, ich bin um zwei dort. Was ist mit Ulli und Luggi?“

„Der Ulli ist in München und der Luggi auf einem Kongress in Villingen. Irgendwas über Hautkrankheiten, er hat´s wahnsinnig wichtig gehabt. Wir sollen Fotos machen.“

„Heißt das, mich rufst du als letzte an? Willi, ich bin enttäuscht vor dir!“

Willi lachte nur. „Wieso, bei dir weiß ich doch eh, dass du danach fieberst zu sehen, wie sie die Hütte einreißen. Du könntest Prosecco und zwei Gläser mitbringen.“

„Und du zwei Klappstühle. So schnell wird es wohl nicht gehen, schließlich müssen die das doch sortenrein machen, oder?“

„Na, beim Sortieren müssen wir dann ja nicht mehr zusehen. Mehr beim Zerstörungswerk.“

Henni musste auch lachen. „Sind wir Rabenkinder, dass wir begeistert zusehen, wie unser Elternhaus dem Erdboden gleichgemacht wird?“

„Komm, jetzt mach keinen auf pietätvoll. Die Hütte ist doch der letzte Graus. Erinnerst du dich an diese Heizung?“

„Welche Heizung? Sag bloß, man konnte das Haus tatsächlich heizen? Ich habe nie wieder so gefroren wie damals.“

„Ja, und immerzu kalt duschen.“

„Und dann das Bad aufwischen, weil wir es nie zu einem Duschvorhang gebracht haben.“

„Mit der Hand abspülen, wegen der alten Leitungen.“

„Porzellansicherungen aus dem vorvorigen Jahrhundert, die dauernd rausgeflogen sind. Wenn wir damals schon so viel mit dem Rechner gemacht hätten, wären wir wahrscheinlich wahnsinnig geworden!“

„Waren nicht auch die Wände oben leicht feucht? Womit hatten sie diese Hütte damals wohl isoliert?“

„Gar nicht, vermute ich mal.“

„Nein“, überlegte Willi, „irgendwelchen Mist müssen die sogar damals in die Wände gestopft haben. Wann wurde die Bruchbude gebaut, 38, oder?“

„Stimmt. Hat Papa nicht immer was von Friedensware gesagt?“

„Papa hatte von Geschichte keinen Schimmer. 38 war der Krieg schon längst geplant, da haben sie garantiert nur noch zweitklassiges Zeug freigegeben und den Rest für kriegswichtige Projekte reserviert.“

Willi liebte historische Dokumentationen, wie sie auf bestimmten Sendern praktisch rund um die Uhr liefen – und da neunzig Prozent dieser Dokumentationen aus dem Bereich „Geheimnisse des Dritten Reiches“ stammten, wusste er mittlerweile nahezu alles über die Finanzen der Nazis, ihre Wirtschaft, ihre Geheimwaffen, den Berghof, Hitlers Frauen (oder eher nicht?), Nazibauten und das Kriegsende in Farbe. Henni hatte, wenn sie beim Zappen auf so etwas stieß, immer das Gefühl, genau diese Doku schon einmal oder gar mehrfach gesehen zu haben. Sie zog BBC-Serien vor und war bei einem Streaming-Portal abonniert. Nur keinen Kram anhäufen!

„Pass auf, Willi“, sagte sie nach einem Blick auf ihr Handgelenk, „ich muss hier mal weiter machen. Also morgen um zwei?“

11:25, 4329 Schritte, Puls normal, Blutdruck niedrig – so ein Fitnessarmband war eine praktische Sache, fand sie. Solange man nicht alle fünf Minuten alle Daten abrief und dann besorgt in sich hineinhorchte.

Sie würde jetzt mit diesem Entwurf in die Fertigung hinuntergehen und mal schauen, was der Chef dazu sagte!

Den Lärm in der Fertigung liebte sie, zeigte er doch, dass der Laden brummte, nicht nur ganz wörtlich genommen.

Der Fertigungschef war in seinem erhöhten Glasverschlag und hatte Zeit, als Henni die Treppe aus Eisengitter hinaufgestiegen war.

„Ja, das sieht gut aus… sind Sie sicher?“ Er deutete auf eine Berechnung am Rand.

„Ich habe es mehrfach überprüft, wir würden tatsächlich zwanzig Prozent Material einsparen – und Aussehen und Stabilität blieben gleich. Die Stabilität wäre sogar etwas besser, allerdings nur im niedrigen einstelligen Prozentbereich.“

„Trotzdem sehr gut! Was sagen die anderen in der Entwicklung?“

„Wir haben die Idee gemeinsam entwickelt und an der Umsetzung gearbeitet. Wenn Sie uns die Genehmigung geben, stellen wir einige Probestücke her.“ Sie reichte ihm das Genehmigungsformular und der Fertigungschef unterschrieb.

„Schön wäre es“, regte er während des Schreibens an, „wenn Varianten im Design möglich wären. Sie wissen ja – unsere Kunden setzen sich gerne von der Konkurrenz ab.“

„Das dürfte gar kein Problem sein“, antwortete Henni und nahm ihm das Klemmbrett mit dem Formular wieder ab.

Die Leusch KG produzierte Bedienelemente für die Automobilindustrie – genau genommen lieferten sie allerdings zunächst an die Zulieferer im Bereich der Autoelektrik, die die Leusch-Knöpfe und Griffe mit der nötigen Verkabelung versahen. Immerhin, solange die Automobilindustrie boomte… und wenn eines Tages doch alle auf das Fahrrad umsteigen sollten, überlegte Henni auf dem Weg zurück in ihr Büro, gab es andere Geräte, die ebenfalls Bedienfelder brauchten, die elegant designt und materialsparend konzipiert waren.

„Und, was hat er gesagt?“, rief Anja, die gerade um ihr Zeichenbrett herumlugte.

„Grünes Licht – wir können Probestücke fertigen lassen.“

Allgemeiner Jubel. „Wusste ich´s doch“, verkündete Oliver, „wir sind einfach die Besten!“

Nach einem Gläschen Prosecco für jeden gingen sie gemeinsam daran, die Anweisungen für die Fertigung zu formulieren. Henni als Teamleiterin verteilte die Jobs und bis zum Abend hatten sie alles weitergeleitet. Kurz vor Arbeitsschluss kam der nächste Auftrag herein; Henni las ihn sich mit gerunzelter Stirn durch und warf das Blatt dann auf ihren Schreibtisch. „Leute, morgen ist auch noch ein Tag. Aber morgen muss ich mittags weg, sie reißen mein Elternhaus ab und das will ich sehen.“

„Ach, Henni“, seufzte Oliver, „du hast ja schon ein Gemüt wie ein Fleischerhund, was?“

Henni grinste breit. „Klar doch! Ich sag dir, ohne Sentimentalitäten ist das Leben viel leichter. Das Haus ist übrigens scheußlich, runtergewohnt und architektonisch eine Katastrophe. So ein Nazi-Siedlungsding.“

„Äh…“ machte Sandra und Henni lachte: „Das Wort zum Feierabend!“

2

Henni radelte nach Hause; da die Leusch KG in der MiniCity firmierte, hatte sie sich vor acht Jahren, als sie hier angefangen hatte, eine kleine Wohnung in Zolling gekauft, knapp eine Viertelstunde zu Fuß oder fünf Minuten mit dem Rad. Schließlich war sie zu Recht davon ausgegangen, dass nahezu alle Betriebe, die an einer Ingenieurin im Bereich Entwicklung Interesse haben konnten, in der MiniCity saßen. Da lag diese Wohnung unglaublich günstig.

Und schön war sie auch. Eher klein, aber unglaublich geschickt geschnitten, mit einer Luxusdusche, einer perfekten Küchenzeile und einer Regalsäule in der Mitte. Manchmal kam sie sich vor wie in einer Kabine auf der Enterprise. Neben der Tür zu dem winzigen Balkon stand die breite schwarze Lederliege, die tagsüber als Lümmelcouch und nachts, nach dem Ausrollen von Schlafauflage und Bettzeug, als unglaublich bequemes Bett diente.

Sie schloss die beiden Schlösser der Wohnungstür auf, tippte dann ihren Code ein und stieß die Tür auf. Eigentlich war das leicht paranoid, es gab hier gar nichts zu holen, aber diese Sicherungstechnik war – wie die Fensterschlösser (die im siebten Stock auch nicht so nötig waren) – schon drin gewesen.

Es roch frisch, denn über der Balkontür gab es eine kleine Fensterklappe, die mit einem Drahtnetz gesichert war. Henni musste lächeln – vor kurzem hatte sie eine Doku über einbruchssichere Wohnungen gesehen, und dabei kamen die drei Zollinger Wohntürme tatsächlich vor. Ob das diese reisenden Banden aus Osteuropa abschreckte?

Sie schloss die Wohnungstür von innen ab, hängte ihre Jacke an die Garderobe (zwei stylische Wandhaken neben der Tür) und betrat das Zimmer. Dreißig Quadratmeter und halb leer, das wirkte großzügig.

Links befand sich der Tisch, auf dem ihr Laptop stand und an dem sie gelegentlich auch zu essen pflegte; rechts hinten ihr schwarzlederner Wohlfühlplatz mit dem perfekten Blick auf den Fernseher in der Säule (das Fach war auch noch drehbar!), der selbstverständlich mit dem Internet verbunden war, so dass sie problemlos streamen konnte (die Kamera hatte sie natürlich abgeklebt).

Die Säule enthielt ansonsten noch den WLAN-Router, ihren E-Book-Reader, das Tablet und eine winzige Stereoanlage, in den Fächern darunter tatsächlich noch die Bücher, die bis jetzt noch nicht in digitaler Form erhältlich waren, und ganz unten einige Ordner mit persönlichen Daten und wichtigen Projektunterlagen.

Zuerst einmal schauen, ob es neue Nachrichten gab! Aha:

Willi nochmal: Bitte zu Prosecco und Gläsern auch Chips mitbringen!

Henni: Alter Vielfraß, ist gut.

Belli: Wir sind heute Abend im Ratlos. Kommst du auch? Und viele Gläser-Emojis.

Uäh… sie war eigentlich müde. Aber Belli, Tom und Iris waren auch saulustig. Warum eigentlich nicht? Dann konnte sie auch im Ratlos etwas essen und musste sich hier keine Mühe machen… nicht schlecht.

 

Henni: Okay, wann? Aber soo viel trinke ich bestimmt nicht!

Belli: Halb acht. Musst du ja auch nicht. Bring die Fotos von London mit!

Ach herrje, die London-Fotos… waren die auf dem Tablet? Und war das überhaupt aufgeladen? Natürlich nicht… Die Mediensäule hatte auch einen geeigneten Ladeanschluss. Sie steckte das USB-Kabel ein: 24 Prozent? Das hätte nie gereicht.

Stirnrunzelnd studierte sie den Inhalt ihres Einbauschranks und zog schließlich die ausgewaschenen Jeans heraus, dazu ein geringeltes T-Shirt und eine dunkelblaue Strickjacke. Für das Ratlos war das genau das Richtige, ihren Teamleiter-Hosenanzug brauchte sie dort nicht.

Vielleicht noch duschen…

Als sie abgetrocknet, eingecremt und angezogen war, betrachtete sie sich im Spiegel: Ging schon. Immerhin, für fünfunddreißig sah sie noch ganz ordentlich aus. Nicht übermäßig verwittert, jedenfalls nicht so wie ihre Schwägerin Claudia. Willis Frau sah eindeutig älter als achtunddreißig, warum, war nicht festzustellen. Ansprechen konnte man sie darauf schließlich nicht… Henni grinste bei dem Gedanken und revidierte ihren blauen Lederbeutel: Geld, Handy… die alten Busfahrkarten konnten ins Altpapier und – Himmel! – die verbrauchten Batterien trug sie ja immer noch spazieren! Halb acht im Ratlos, da konnte sie unterwegs noch in einen Supermarkt huschen und die alten Dinger endlich in die entsprechende Pappkiste werfen.

So klein, leer und übersichtlich die Wohnung war, irgendwelcher Mist sammelte sich eben doch immer wieder an.

Natürlich vergaß sie die Sache mit den alten Batterien schon wieder auf dem Weg zum Ratlos. Kein Wunder, denn auf der recht langen Strecke musste sie sich mehrfach ärgern: über Autofahrer, die die Türen öffneten, ohne zuvor auf die Radfahrer zu achten, über alle diejenigen, denen man mal wieder die Blinker gestohlen hatte (was machten die Diebe nur mit all diesen Blinkern??), über zwei saublöde Werbeplakate und schließlich über den dunkelbraunen Lieferwagen eines Paketdienstes, der mit eingeschalteter Warnblinkanlage mitten auf der Emilienstraße stand, so dass sich hinter ihm eine lange, eifrig hupende Schlange bildete und Henni selbst mit ihrem Fahrrad auf den Bürgersteig umziehen und tugendhaft schieben musste.

Nur Idioten unterwegs! Wie sollte man sich da an diese dämlichen Batterien erinnern?

Leider konnte sie die Dinger morgen Nachmittag anstandshalber auch nicht in den bestimmt aufgestellten Bauschuttcontainer werfen…

Ökologie war manchmal schon ein Fluch. Okay, wenigstens lästig, ab und zu…

Immerhin kam das Ratlos in Sicht, und mittlerweile durfte man sein Rad auch im Hinterhof abstellen.

Sie kämpfte sich durch den wie immer überfüllten Gastraum und fand Belli, Iris und Tom in der hintersten Ecke; Tom hielt mit der einen Hand sein Bier fest, mit der anderen die Lehne des vierten Stuhls.

„Gibt´s hier heute was gratis?“, fragte Henni beim Hinsetzen. „Heute ist es ja noch schlimmer als sonst!“

„Montags gibt´s doch seit Kurzem immer ein nostalgisches Gericht“, erklärte Iris. „Keine Ahnung, wieso, aber darauf fahren die Leute voll ab. Fast schon bedenklich…“

Belli kicherte. „Meinst du, alle, die sowas essen, wählen insgeheim AfD und pöbeln vor dem Flüchtlingsheim herum?“

„Na, nicht ganz so.“ Henni sah sich trotzdem kritisch im Lokal um. „Also, ich mag diese Rückwärtsgewandtheit einfach nicht. Früher war nicht alles besser.“

„Denkt man nur, weil wir heute die Probleme von damals lösen könnten“, dozierte Tom.

„Da ist was dran… was ist denn heute das gutbürgerliche Nostalgiemahl?“

„Kabeljaugulasch im Reisrand. Mit grünem Spargel, Kapern und ziemlich exotischen Kräutern“, erklärte Iris. „So konservativ sind Birgit und Rudi eben auch nicht.“

Wie aufs Stichwort tauchte Birgit hinter Henni auf. „Bier und was zu essen?“

„Ein Radler und diesen Kabeljau“, bestellte Henni. „Oder gibt es etwas noch Unwiderstehlicheres auf der Tafel? Ich kann sie in diesem Gedränge nicht sehen.“

„Der Fisch ist leider schon aus“, bedauerte Birgit. „Lachs im Blätterteig haben wir noch, asiatischen Nudelsalat, den scharfen, du weißt schon, und Tortellini mit Brokkoli, Tomaten und Serrano.“

„Den Lachs, bitte. Ich bin jetzt voll auf Fisch eingestellt.“

„Ess ich auch“, lobte Tom. Birgit entfernte sich, während Iris und Belli zu streiten begannen, ob man angesichts der Überfischung der Meere überhaupt noch Fisch essen sollte.

„Das ist Zuchtlachs“, versuchte Tom die Diskussion zu beenden, aber weit gefehlt.

„Du meinst, der war in so einem Becken eingesperrt, der arme Hund?“

„Hund esse ich nicht“, warf Henni ein, aber das trug ihr nur einen irritierten Blick ein. Tom grinste. „Wahrscheinlich hat der Lachs einen psychischen Schaden erlitten, weil er nie stromaufwärts schwimmen durfte.“

„Um sich fortzupflanzen, meinst du? Der Arme, nie Sex – obwohl, müssen die sich in einer Zuchtfarm nicht auch fortpflanzen?“

Tom lachte und wandte sich an die streitenden Frauen. „Was meint ihr?“

„Was?“ Iris war sofort abgelenkt.

„Haben Fische Spaß am Sex?“

Iris starrte ihn an, Belli winkte verächtlich ab. „Männer!“

„Wieso?“, verteidigte Henni ihren Kumpel. „Wenn der arme Lachs in der Zuchtfarm dauernd den Hengst geben muss, wäre es doch interessant zu wissen, ob er da wenigstens Lust drauf hat. Vielleicht ist er ja jetzt heilfroh, seine Ruhe zu haben und friedlich und schön kuschelig warm im Blätterteig zu liegen?“

Jetzt starrte Belli genauso verdutzt wie Iris, dafür tauchte Tom unter den Tisch, von wo unterdrücktes Gelächter erscholl.

„Gegessen werden will er bestimmt nicht“, fuhr Belli Henni an, sobald sie sich wieder gefasst hatte.

„Ihr fallt aber auch auf jeden Blödsinn rein“, konnte Henni sich nicht verkneifen. „Jedenfalls ist ein Lachs kein Haustier, also bricht es mir nicht das Herz, wenn er schön saftig in Blätterteig auf den Tisch kommt. Seit wann seit ihr denn so vegan unterwegs?“

„Wieso vegan?“, wollte Iris wissen. „Ich hab den letzten Kabeljau geordert.“

„Ach? Kabeljau darf man essen und Lachs ist ein teures Mitgeschöpf – oder wie?“

Iris winkte ab. „Lass gut sein, Henni. War doch bloß Quatsch.“

„Na gut, lassen wir das Thema. Wisst ihr was? Morgen reißen sie die alte Hütte ab!“

„Welche alte Hütte denn?“

„Na, unser verwarztes Elternhäuschen. In Zolling, für mich aber am falschen Ende.“

„Da müsstest du das Auto zu Leusch nehmen, was? Wo du doch so gerne radelst!“ Tom hatte sich beruhigt und war wieder unter dem Tisch hervorgekrochen.

„Macht dir das gar nichts aus?“ Belli hatte die blauen Augen weit aufgerissen.

„Wieso denn? Die Hütte ist hässlich, heruntergewohnt, außerdem total eng und klein und stört nur auf dem Grundstück, das wir für eine ziemlich anständige Summe verkauft haben. Da kommen mir nicht die Tränen.“

„Ich weiß nicht… das ist doch auch deine Kindheit, nicht? Also, ich könnte das nicht, so kalt darüber reden…“

Henni grinste, sowohl über Bellis Gefühlsseligkeit als auch über den Lachs, der soeben auf dem Tisch erschien, zusammen mit Kabeljau, Nudelsalat und Tortellini.

Sie konzentrierte sich zunächst darauf, vorsichtig ein Stückchen der duftenden Teighülle abzuschneiden und es ekstatisch schnaufend zu verspeisen. „Boah, lecker. Hier esse ich immer noch am allerliebsten! Hältst du mich für kaltschnäuzig, Belli? Dann nimm dies: Morgen schauen Willi und ich auch noch zu, wenn die Abrissbirne hineinfährt. Mit Prosecco und Klappstühlen!“

Belli riss die Augen noch weiter auf: „Das ist aber nicht dein Ernst, doch?“

„Aber mein voller Ernst! Belli, warum sollte ich so pietätvoll sein, wenn es in der Hütte immerzu kalt war, das Linoleum komisch gerochen hat, dauernd die Sicherungen rausgeflogen sind und man die Hakenkreuze in der Haustür nur mit viel Mühe rausfräsen konnte?“

„H-hakenkreuze?“ Iris stotterte vor Abscheu.

„Ja, was denkt ihr denn? Baujahr 38, erbaut von einem ganz Hundertprozentigen!“

„War das dein Großvater?“

„Quatsch, mein Großvater war damals gerade mal aus der Volksschule raus. Vierzehn oder so. Nein, der Nazibonze hatte mit uns nichts zu tun, Gott sei Dank. Seine Witwe hat kurz nach dem Krieg wieder geheiratet, einen Wirtschaftswundertypen mit einem viel besseren Haus. Na, keine große Kunst“, fügte sie gedankenvoll hinzu. „Jedenfalls hat sie die Hütte dann verkauft, ich glaube, 1949. Jetzt wirklich an meinen Opi, der war damals 25 und frisch verheiratet und Omi war schon mit Onkel Klausdieter schwanger…“ Sie grinste. „Der war auch so ein Siebenmonatskind…“

„Ein Mickerling?“, fragte Tom etwas ratlos, was ihm mitleidige Blicke aus drei Augenpaaren eintrug. Männer – von nichts eine Ahnung!

„Nein, Omi war bei der Hochzeit schon schwanger“, erklärte Henni im Tonfall nachsichtiger Geduld.

„Was – ach so.“

„Damals musste man noch schleunigst heiraten“, erläuterte Iris, die bei einer Familienberatungsstelle arbeitete und alles über ungewollte Schwangerschaften im Lauf der Jahrhunderte wusste.

Tom nickte, als sei ihm das natürlich längst klar gewesen, und widmete sich schleunigst wieder seinen Tortellini.

„Also haben meine Großeltern dort Onkel Klausdieter, meinen Vater und Tante Christa großgezogen. In den Fünfzigern war das Haus wahrscheinlich noch ganz annehmbar. Ich meine, da hat man ja auch noch nicht so viel verlangt, nicht?“

„Zumindest haben die Sicherungen nicht so viel aushalten müssen“, gab Tom den Technikspezialisten.

„Ja, und als die Kinder erwachsen waren, sind die Eltern dort weggezogen. Klausdieter war nach Amerika gegangen, Christa hat nach Stuttgart geheiratet, also war Papa alleine dort. Deshalb hat er da eine WG aufgezogen.“

„Hui, so progressiv?“

„Wieso, damals war das die große Mode. Das muss so um 1972 gewesen sein, da war Papa Anfang zwanzig.“

„Aber das deine Großeltern weggezogen sind?“ Iris wunderte sich. „Ich meine, heute machen das ja viele, in einen Kurort ziehen oder nach Mallorca – aber vor vierzig Jahren, sind die alten Herrschaften da nicht einfach geblieben, wo sie waren, bis es – naja – bis es eben vorbei war?“

„Stimmt schon, aber meine Oma hatte ja eine Schwester, die Erika.“

„Spießiger Name“, kommentierte Belli.

„Damals nicht. Die Erika soll in ihrer Jugend toll ausgesehen haben und hat auch prompt einen sehr feinen Herrn geheiratet, einen Adalbert von Dohme. Der hatte eine schicke Villa in München. Nymphenburg, glaube ich. Wirklich mit allen Schikanen. Na, und der ist gestorben, als Papa und seine Geschwister gerade erwachsen waren. Die Erika wollte, dass ihre Schwester bei ihr wohnt, also haben die das gemacht, Christa und Klausdieter sind weggezogen, also konnte mein Vater diese WG aufziehen.“

„Die reinste Familienserie“, spottete Tom, der mittlerweile als einziger schon aufgegessen hatte. „Schreib doch mal einen Roman darüber!“

„Schreiben - ich??“, wunderte sich Henni. „Sonst hast du keine Probleme? Futtere lieber nicht so hektisch!“

„Lass du dein Essen nicht vor lauter Erzählen kalt werden!“, gab Tom sofort zurück.

Henni verspeiste den nächsten Bissen Lachs und Blätterteig, dann sagte sie: „Aber viel erzählt hat er nie über diese WG. Obwohl er und meine Mutter doch damals noch ganz jung und frisch verheiratet waren… eigentlich seltsam.“

„Wieso?“ Iris war ganz Erwartung, die beladene Gabel hoch erhoben.

„Na, komm, erzählen nicht alle Leute gerne von ihrer wilden Jugend?“

„Also, meine nicht. Die waren angeblich früher immer die Allerbravsten und keinesfalls hätten sie irgendwas von den Sachen gemacht, die Vi und mir immer so eingefallen sind…“

„Also haben sie aus pädagogischen Erwägungen gelogen?“, schlug Tom vor.

„Ja, glaube ich auch. Wenn die beiden wirklich so super in der Schule waren, warum haben wir immer noch keinen Nobelpreis in der Familie? Und wenn sie wirklich immer ihr Taschengeld gespart haben, warum sind wir dann nicht steinreich? Und wenn -“

„Wir haben es begriffen“, wehrte Henni ab. „Meine Eltern haben ja die Tatsache der WG nicht verschwiegen, aber einfach keine lustigen Einzelheiten erzählt. Ich weiß nicht einmal genau, wer alles dort gewohnt hat. Lange hat das Ganze sowieso nicht gedauert. Ich glaube, 1972 hat Papa die WG aufgemacht, wahrscheinlich mit Leuten, die er aus der Uni kannte, und mit Mama – und etwa 73 war es damit schon wieder vorbei. Da war der Willi gerade mal unterwegs, wenn überhaupt schon. Dem wollten sie das wohl nicht zumuten…“

 

„Ist das so eine richtige Nazivilla?“, wollte Iris wissen. „Wegen dem Hakenkreuz, meine ich.“

Henni aß weiter. „Nazi ja, Villa nein. Ein richtiges Siedlungshäuschen eben, in Einfachbauweise, wie es damals üblich war. Kaum zu heizen, dünne Wände, Leitungen zum Teil über Putz. Du weißt schon, wir schaffen für arme Volksgenossen günstigen Wohnraum. Luxus schadet dem Kampf ums Dasein. Bei den Bonzen ist der Luxus natürlich völlig unschädlich.“

„Wie immer eben“, kommentierte Tom, nun wider Willen doch gefesselt.

„Willi und ich sind vor allem auf den Moment gespannt, wenn man eine der Außenmauern mal im Querschnitt sieht. Wir haben uns immer schon gefragt, ob das Haus überhaupt gedämmt ist – und wenn ja, womit zum Teufel. Keinesfalls irgendein wirkungsvolles Zeug, das war wahrscheinlich kriegswichtig und für die Leute zu schade.“

„Alte Zeitungen sollen ja sehr wirkungsvoll isolieren“, schlug Belli vor.

„Uäh“, machte Henni und schüttelte sich. „Dann kommen da womöglich lauter Seiten aus dem Völkischen Beobachter zum Vorschein und wir müssen uns vor den Abbruchleuten noch schämen… Na, mal sehen, wie das morgen so läuft.“

„Mach Fotos!“, verlangte Iris. „Vielleicht ist ja was Interessantes dabei.“

„Dann zeigt deine Schwester es im Unterricht, was?“

„Warum nicht? Alltag unterm Hakenkreuz oder sowas.“