Schwestern

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„Au ja, ich auch“, rief Dani – und etwas leiser: „Da ist Georg zu Hause, das brauche ich nicht den ganzen Tag.“










Furchtbar, fand Katrin, als sie wieder in ihrer heißgeliebten, sparsam möblierten Wohnung war. Dani trank zu viel, war aber davon abgesehen heute durchaus vernünftig gewesen. Mutti kapierte ja wohl gar nichts – und diese übergriffige Art! Ich mag Sahne, also tu ich dir auch welche auf, egal, was du eben erst gesagt hast.



Außerdem hortete sie offensichtlich viel zu viel sinnloses Zeug – woher hatte sie bloß ungefähr hundert Tischdecken? Von diesem rosa Plastikscheiß mal ganz zu schweigen!



Und Tanja – Tanja hatte echt ein Problem. Diese Sendung, von der Dani gesprochen hatte, kannte Katrin zwar nicht, aber so sollte Tanja doch nicht enden!



Fraß sie so viel, weil sie ihr Leben so schrecklich fand? Aber es wurde davon doch nicht besser, im Gegenteil! Gut, sie hatte einen blöden, schlecht bezahlten Job, aber warum suchte sie sich nichts Besseres? Sie hatte immerhin Abitur!



Und weniger zu essen, das musste doch möglich sein? Gab es nicht andere Trostmechanismen? Erfolge aufschreiben, meinetwegen winzig kleine Erfolge?



Aber war sie dafür nicht schon zu sehr in ihrem Selbstmitleid gefangen? Hatte sie ein ernsthaftes psychisches Problem? Aber welches? War sie süchtig nach dauerndem Essen?



Und Danis Ehe schien auch nicht mehr besonders glücklich zu sein, Dani war ja offenbar froh, wenn sie diesen Georg nicht sehen musste. Der war aber doch ohnehin nur am Wochenende da, oder? War er nicht Vertreter oder so?



So ging´s eben, wenn man sich nicht für die Einzelheiten interessierte – auch nicht gerade sehr familienorientiert…



Ob sie mal ernsthaft mit Tanja reden konnte? Aber wie sollte sie das anfangen, ohne dass die sofort zumachte und nur winselte, sie verstehe sie eben nicht und habe sie noch nie gemocht und niemand unterstütze sie… genau das Gejammer, das Katrin selbst sofort ungeduldig machte. Und dann vergriff sie sich garantiert wieder im Ton.



Dani war auch nicht gerade zartfühlend… und Mutti hatte das Problem doch gar nicht erfasst! Sie hatte ja selbst eins, mit dieser fast schon manischen Kruscht-Sammelei.



Jemand Professionelles? Unmöglich! Tanja, mach ne Therapie, das ist doch krankhaft. - Hältst du mich etwa für verrückt? – Das wäre wohl noch die maßvollste Antwort!



Tanja war krank, das war doch klar! Irgendetwas war bei ihr schiefgelaufen und jetzt flüchtete sie sich ins Futtern. Wonach hungerte sie wohl wirklich? Wenn sie selbst Psychologie statt BWL studiert hätte, überlegte Katrin, dann könnte sie ihr jetzt vielleicht helfen, aber sie hatte ja schon vor der Einschreibung erkannt, dass es ihr ziemlich an Empathie und vor allem an Geduld fehlte. Irgendwer – war es ein Kurzzeitlover gewesen? – hatte sie als Nerd bezeichnet. Vielleicht hatte er gar nicht so unrecht gehabt…



Sie setzte sich vor ihren Rechner und rief den Online-Kalender auf, den sie akribisch führte. Organisation! Organisation war überhaupt das Wichtigste, und wenn man sie hundertmal als Korinthenkackerin bezeichnete. Ohne ihren Kalender würde sie wirklich nervös werden…



Essen bei Mutti konnte sie als erledigt markieren, sie klickte das Feld an und änderte die Farbe von Rot in ein mittleres Blau, ihre Lieblingsfarbe.



Eingekauft hatte sie vorher und staubgesaugt auch schon. Dann würde sie morgen… staubwischen und eine Ladung Wäsche waschen, ach, das stand ja auch schon da. Und in der Firma… genau, alles war schon in Orange angelegt. Ach, und in Rosarot: den Knopf am hellblauen Blazer wieder fester annähen. Das hatte sie vorhin erledigt, also konnte sie es ebenfalls blau färben. Schon vorausgearbeitet - das sah ja so toll aus!



Da waren Donnerstag und Freitag eigentlich einigermaßen entspannt, wenn Daniel nicht wieder mit einem fantastischen neuen Projekt um die Ecke kam. Andererseits war ein neues Projekt doch auch immer interessant, vor allem, wenn es um Start-ups mit wirklich tollen Ideen ging. Da freute man sich, wenn sie, von FinanceServices optimal betreut, schließlich Erfolg hatten.



Naked Beauty zum Beispiel. Wer da an Aktfotografie dachte, war selbst schuld – es ging um unverpackte Kosmetika, feste Shampoos, Gesichtsseifen, Gesichtswasser, das man in einer Pumpflasche aus Leitungswasser mit einem Wirkstoff-Tab selbst zusammenmischen konnte, und ähnliche Dinge. Katrin hatte sich alles, was NB produzierte, sofort im Unverpacktladen im Dortmunder Weg gekauft und es nicht bereut.



Wann wohl der Punkt erreicht war, an dem plastikverpackte Kosmetika uncool wurden?



Natürlich finanzierte FinanceServices auch Unternehmen, die bloß die Konsumlust befriedigten, aber dabei wenigstens soweit Gewinn machten, dass sie die Finanzierung in der vorgesehenen Zeit ablösen konnten. Allerdings weigerte Daniel sich, offen naturschädliche Konzepte zu finanzieren. Dieser komische Kerl, der ernsthaft glaubte, Autositzbezüge aus echtem Pelz seien eine Marktlücke, war stinkbeleidigt abgezogen. So ein Käse, dachte Katrin auch jetzt noch – warum nicht Webpelz? Oder einfach wärmere Klamotten? Echter Pelz taugte doch nur zum Angeben und dazu, „Ich-scheiß-auf-Tiere“ zu verkünden!



Aber der Typ war doch sowieso erledigt – oder?



Gut, mal schnell googeln, wenn sie sowieso schon vor dem Rechner saß. Perfect Fur hatte er seine Schnapsidee genannt… und er? Oliver Mannlicher, glaubte sie sich zu erinnern. Mannlicher, war das nicht eine Gewehrmarke? Das passte ja mal wieder!



Waffen würde Daniel wohl auch nicht finanzieren wollen. Und sie selbst würde dann ein mieses Konzept entwerfen, so eins, wo die ganze Summe viel zu früh fällig wurde!



Nein, Blödsinn, das schadete dann vor allem ihren eigenen Ruf – als sei sie zu blöd, es besser zu machen. Besser war es, den Kunden von Vorneherein abzulehnen. Von Perfect Fur war nichts zu finden, von Oliver Mannlicher aber schon, denn er hatte eine neue Idee entwickelt: Er wollte Strümpfe produzieren, die beim Tragen die Haut mit Feuchtigkeitscreme versorgen sollten – Zeitersparnis! Nie mehr die Beine eincremen müssen! Dummerweise (Katrin grinste beim Lesen) hätte man die Strümpfe, um die Wirkung zu erhalten, niemals waschen dürfen. Spöttische Kommentare, aber keine Finanzierung. Nun ja, bei einer solchen Schnapsidee wohl kein Wunder!










Daniela war nach Hause gekommen, noch den etwas faden und zugleich künstlichen Geschmack von Muttis Dessert auf der Zunge. Das Haus lag im Dunklen, also schliefen wohl alle schon? Eigentlich erstaunlich… War Georg etwa überraschend nach Hause gekommen und gleich zu Bett gegangen? So früh? An einem Mittwoch? Und warum wartete er dann nicht, um sich zu beklagen, dass für ihn kein Abendsnack bereitgestellt war? Nein, das war extrem unwahrscheinlich, er war doch erst heute früh nach Augsburg gefahren! Sollte er nun plötzlich Sehnsucht nach Weib und Kindern entwickeln? Extrem unwahrscheinlich, wirklich. Völlig abwegig.



Wenn doch, hätte ihn wohl niemand empfangen. Ob er wohl zur Strafe das Wohnzimmer verwüstet hätte? Den Fernseher zerschmettert? Mit einem Hauch böser Ahnung schaute sie ins Zimmer. Dunkel, wie alles andere. Sie knipste das Licht an und blinzelte erleichtert: Na bitte, tadellose Ordnung, ordentlicher als sie das Zimmer hinterlassen hatte! Alle Sofakissen aufgeschüttelt, die Fernsehzeitung und die Fernbedienungen perfekt auf einer Seite des Couchtischs. Kein Bierglas, keine Flasche, gar nichts?



Georg konnte das gar nicht gewesen sein, er würde sich nie mit Weiberkram befassen! Die Kinder? Das konnte sie sich auch nicht vorstellen, aber sie hatten doch keine Heinzelmännchen!



Sie kontrollierte sicherheitshalber auch das Schlafzimmer: dunkel, leer, kein Geruch nach einem schlafenden Mann, der etliche Biere konsumiert hatte. Licht – das Bett war leer und glattgestrichen.



Sie war allmählich schon ganz verwirrt, musste sie zugeben – warum sollte Georg denn eigentlich unter der Woche nach Leisenberg kommen? Hatte sie jetzt Verfolgungswahn?



Joschi schlief, Valli nicht, sie hörte leise Musik und las dabei etwas im Schein ihrer Nachttischlampe. Als sie ihre Mutter bemerkte, nahm sie die Kopfhörer aus den Ohren. „Wie war´s bei Omi?“



„Wie immer“, seufzte Daniela. „Hast du das Wohnzimmer so schön aufgeräumt?“



„Zusammen mit Joschi. Nur so ein bisschen. Papa ist wohl in Augsburg?“



„Denke ich auch. Kommt bestimmt erst am Freitag. Oder hat er vielleicht angerufen?“ Was er normalerweise auch nicht zu tun pflegte.



Valli schüttelte den Kopf. „Niemand hat angerufen. Einmal hat das Telefon geläutet, aber als Joschi drangegangen ist, war niemand mehr in der Leitung. Hat sich´s wohl anders überlegt.“



„Hm, komisch. Naja, dann kommt er eben erst am Freitag von seiner Tour zurück. Ich dachte vorhin, er hätte irgendwas gesagt von heute, aber da hab ich mich wohl vertan…“



Valli sah ihre Mutter nachsichtig an. „Also, ich schreib mir sowas ja auf, dann muss ich´s mir nicht merken. Ist ganz praktisch. Übrigens ein Tipp von Katrin!“



„Für deine knapp Siebzehn bist du ganz schön besserwisserisch“, gab Daniela zurück, aber sie stellte fest, dass sie sich nicht wirklich ärgerte. Heute Abend hatte sie sich ja auch viel weniger über Katrin geärgert als sonst, warum wohl?



Sie wünschte Valli rasch eine gute Nacht und verzog sich ins Schlafzimmer, um in aller Ruhe zu überlegen, warum sie sich heute mit Katrin direkt einigermaßen verstanden hatte.



Wahrscheinlich lag es bloß daran, dass Mutti und vor allem Tanja noch viel mehr genervt hatten. Mutti mit ihren Dutzenden von Tischdecken! Flohmarkt war wirklich eine gute Idee – und hier hatte sich auch ganz nett etwas angesammelt, vielleicht sollte sie den Kram morgen Abend nach der Arbeit mal durchsehen…

 










Tanja saß auf der Kante ihres Bettsofas und tat sich leid. Mutti war die einzige, die sie verstand! Das Eis war wirklich lecker gewesen – und welches Glück, dass Katrin so albern mäkelig war, Sahne war doch das Beste? So hatte sie doch glatt zwei Portionen abgekriegt. War sie satt? Oder brauchte sie noch einen kleinen Snack?



Doch, ja. Aber nur einen kleinen, natürlich! In dem Regal neben dem Bettsofa bewahrte sie einen beruhigenden Vorrat an solchen Snacks auf. Sie klappte die Schachtel auf und musterte das Angebot. Diesen Schokoriegel mit Marzipan und Mandeln? Oder eine kleine Tüte Chips? Die englischen mit Brathähnchengeschmack? Die waren so schwer zu kriegen… aber in der Peutingergasse war doch dieser Laden, Old England… da konnte sie morgen nach der Arbeit einmal hinfahren. Dann jetzt lieber den Schokoriegel und morgen, wenn sie ihren Vorrat wieder aufgefüllt hatte, das Chipstütchen. Diese Tütchen waren allerdings schon sehr klein – mal sehen, ob es die nicht auch in größer gab! Die würde sie dann eben in der Küche aufbewahren…



Eigentlich blöd, dass sie hier alleine in diesem Zwergenappartement wohnte, wo Mutti doch das ganze Reihenhaus hatte und da genauso alleine herumsaß… aber so leben wie Mutti es wollte? Auch nicht so toll…



Dani hatte diesen Bungalow, das waren doch bestimmt vier oder fünf Zimmer… sowas hätte sie auch gerne! Wieso hatte Dani damals das Haus von Tante Gertraut geerbt? Bloß weil sie ihr Patenkind war und schwanger, bevor sie zwanzig war? Und weil Tante Gertraut auf Vati sauer war, der sie alle verlassen hatte… aber dann hätte sie ihr ja auch was schenken können!



Katrin, die alte Besserwisserin, brauchte nichts. Die war ja angeblich so supererfolgreich, die konnte sich ein Schloss leisten!



Tanja kaute genüsslich auf dem Schokoriegel herum, musste aber feststellen, dass der Gedanke an ihre Schwestern den Genuss ziemlich schmälerte. Katrin hätte ihr ja ruhig mal anbieten können, bei ihr zu wohnen! Zwei oder drei Zimmer und ein richtig schönes Bad würden ihr ja schon genügen und Katrin hatte doch bestimmt das eine oder andere Gästeappartement, auch wenn sie immer einen auf bedürfnislos machte. Diese alberne Art, mit der sie Muttis Tischdecken abgelehnt hatte!



Katrin wohnte in Zolling, da gab es ja sogar ein richtiges Schloss. Eigentlich sollte sie sich das mal anschauen, aber wie sollte sie da bloß hinkommen? Fuhr da ein passender Bus? Eine Löffelkarte hatte sie ja – die war eigentlich nicht teuer. Dreißig Euro für den ganzen Monat und den gesamten Leisenberger Öffentlichen Verkehrsverbund, das ging. Ein vernünftiges Auto wäre ihr natürlich lieber, aber sie verdiente netto gerade mal 1400 Euro und die Zwergenwohnung kostete mit Nebenkosten schon 650. Essen, Kosmetika, Kleidung fraßen den Rest auf.



Gemeinsam auf den Flohmarkt…das klang eigentlich toll, aber hatte sie überhaupt etwas, was sie verkaufen konnte? Klamotten, die ihr nicht mehr passten? Unsinn, die gingen eines Tages bestimmt wieder!



Sie aß den letzten Bissen – oh, ganz viele Mandeln! –und legte die zerknüllte Verpackung auf das Regal. Jetzt aber schlafen, sonst machte sie morgen bloß Fehler beim Verpacken!




III



Katrin zwang sich, nicht an Mutter und Schwestern zu denken, während sie den Businessplan eines neuen Unternehmens durchlas. Hm, ökologisch einwandfreie Verpackungen waren ja schon nicht schlecht, aber wozu überhaupt Verpackungen? Konnte man da nicht noch grundlegender sparen? Angeblich abbaubarer Kunststoff war nicht das Optimum, eher eine Form von Greenwashing! Sie machte sich Notizen, was ihre Bedenken betraf, und studierte dann, welche Abnehmer das Start-up ins Auge gefasst hatte. Naja! Mindestens die Hälfte wäre wohl nicht gar so hingerissen… Der Businessplan hatte nicht Hand noch Fuß, fand sie.



Trotzdem stellte sie ein überschlägiges Budget auf. Dieser Jan Kayser würde ganz schöne Summen brauchen – und wenn man seine Einkünfte realistisch einschätzte, würde es deutlich länger als veranschlagt dauern, eine Finanzierung in der Höhe, die er haben wollte, zurückzuzahlen. Sie stellte alles zusammen, was sie berechnet hatte, und brachte es Daniel, der es durchlas und brummte. „Das hab ich mir fast schon gedacht – schwache Idee, zu großer Optimismus. Ich werde mit ihm reden. Das hier“ – er schwenkte die dünne Mappe – „wird mir dabei eine große Hilfe sein. Danke, Katrin! Aber jetzt ist es fast halb zwei – mach erst mal Mittagspause. Danach hab ich sicher etwas Spannendes für dich!“



Nun gut, machte sie eben Mittagspause. Vielleicht sollte sie heute mal den Asia Food-Truck zwei Ecken weiter ausprobieren? Sechs kleine Frühlingsrollen mit Gemüsefüllung? Wo war ihre Tupperdose?



Der Asia-Truck war regelrecht umlagert, aber sie hatte ja eine Dreiviertelstunde Pause.



Lieber Gott, der Pummel in der Schlange, das war doch wohl nicht Tanja? Die sollte ja eigentlich kein Fastfood… okay, wer im Glashaus sitzt? Sagte sie eben nichts. Was Tanja genau kaufte, konnte sie auf die Entfernung nicht erkennen, aber auf jeden Fall hatte man ihr einiges in eine dünne Tüte gepackt und offensichtlich noch Pommes dazu.



Tanja zahlte, drehte sich um und erkannte ihre Schwester. Katrin quittierte den giftigen Blick mit einem freundlichen Lächeln und sagte nur: „Hallo, Tanja!“



„Spionierst du mir nach?“



„Warum sollte ich? Ich hab Mittagspause und Hunger. Der Truck soll doch gut sein?“



„Haha.“



Der Verkäufer im Truck warf Tanja einen scharfen Blick zu und fertigte die nächste Kundin ab. Tanja blieb stehen und starrte ihre Schwester an, bis Katrin drankam, sechs Mini-Frühlingsrollen mit süßer Chilisauce bestellte und ihre Plastikdose über den Tresen reichte.



Keine Hygiene-Debatten, glücklicherweise.



Schließlich wandte sie sich Tanja zu. „Wird dein Zeug nicht langsam kalt – oder matschig?“



„Was willst du wirklich hier?“



Katrin hob die Dose. „Ein halbes Dutzend Mini-Frühlingsrollen. Mittagessen, du verstehst?“



„Du willst mich bloß bespitzeln!“



„Quatsch. So interessant bist du gar nicht. Ich schlage vor, du gehst dahin, wohin auch immer du zum Essen hingehst, und isst dein Mittagessen, bevor es endgültig kalt und scheußlich ist.“



„Du weißt also, wo ich esse!“



„Nein, weiß ich nicht, sonst hätte ich ja wohl kaum gesagt wohin auch immer. Das bedeutet gemeinhin, dass man keine Ahnung hat und das auch irrelevant findet. Du kannst auch gerne hier stehen bleiben, aber ich gehe jetzt zu FinanceServices zurück und esse am Schreibtisch. Ciao, wir sehen uns ja bestimmt am nächsten Mittwoch!“



Damit ließ sie die wütende Tanja stehen und eilte zurück in ihr Büro, ärgerlich vor sich hinmurmelnd. Tanja war aber auch zu blöd! Hatte sie allmählich Verfolgungswahn? Mutti und Dani regten sich sowieso nicht über ihre Fresserei auf – und sie selbst hatte doch nur gelegentlich etwas gesagt?



Außerdem musste Tanja eigentlich wissen, dass ihre Klitsche und Katrins Firma nur zwei Ecken auseinanderlagen – und wenn sie heute mal Lust auf Asia hatte, statt auf Salat oder Sandwich? Hatte Tanja etwa das Recht auf Fastfood gepachtet? Aussehen tat sie ja allmählich so…



Unter diesem stummen Gemaule war sie wieder in ihrem Büro angekommen und öffnete voller Vorfreude ihre Plastikdose. Hm… und die Sauce war ja auch sehr lecker…



Kaum war sie fertig, trat Daniel ein. „Hier riecht es wie beim Chinesen – da knurrt mir ja gleich der Magen!“



„Mini-Frühlingsrollen. Leider schon verspeist – aber vorne beim Food Truck haben sie sicher noch welche!“



„Später. Ich hab dein Gutachten gelesen und dem Typen, diesem Jan Kayser, abgesagt. Du hattest Recht, das hat alles nicht Hand noch Fuß, da kriegen wir unser Investment ja nie zurück. Aber schau dir mal das da an…“



„Ich glaube, erst mache ich mal das Fenster auf. Der Geruch wirkt direkt einschläfernd!“



„Und danach gehst du an die Arbeit?“



Katrin sah ihn spöttisch an.










Als Dani nach ihrer Arbeit nach Hause fuhr, eine Tasche voller Lebensmittel im Kofferraum, malte sie sich schon deprimiert aus, wie es im Haus aussah: Georg war womöglich doch überraschend zurückgekommen - sie hätte doch besser zuhören sollen! - und hatte seine Reisetasche im Flur als Stolperfalle stehengelassen. Auf allen empfindlichen waagrechten Flächen waren klebrige Ringe von Bierflaschen zu sehen und im Schlafzimmer lag ihr Göttergatte und schnarchte. Wie so ein Klischee – und wieso eigentlich Göttergatte? Eher ein Gatte aus der Hölle: Teufelsgatte? Nein, das klang irgendwie düster-gefährlich-verführerisch, nach miesem Roman. Verführerisch war Georg schon lange nicht mehr, bei ihr wenigstens nicht. Egal, sie fand ihn auch nicht mehr sexy. Mochte er es bei einer anderen probieren, das war ihr doch egal!



Sie parkte vor dem Haus und trug die Tasche zur Haustür. Kaum hatte sie aufgeschlossen, fiel ihr auf, wie leer der Flur war. Leer und sauber. Keine Reisetasche.



Schon mal ein gutes Zeichen! Georg war der Ansicht, niedere Dienste wie hinter ihm herzuräumen seien Weiberkram. Hatte Valli sich erbarmt?



Auf der Kommode lag ein Zettel: Bin bei Melli zum Matheüben, komme um halb sieben heim. Valli.



Sehr brav. Warum waren Valli und Joschi seit neuestem so - so erwachsen? So vernünftig? Hatte Joschi vielleicht aufgeräumt?



Sie sah nach, aber Joschi saß vor seinem Rechner und drehte sich etwas belästigt um, als sie hereinschaute. „Wenn du schon mal da bist, Mama – was ist Werkgerechtigkeit?“



„Was?“



„Egal.“



„Hast du Papas Gepäck aufgeräumt?“



„Ist der heimgekommen? Ich hab nichts gehört. Und Valli ist bei Melli.“



„Ja, danke, ich weiß. Na, ich schau mal, ob der Papa hier irgendwo ist.“



„Steht der Audi nicht draußen?“



„Mensch! Den hab ich nicht gesehen… ich bin ja doof!“



Joschi grinste, sagte aber nichts.



Dani zog die Tür wieder zu und wunderte sich direkt – ein zivilisiertes Gespräch mit ihrem Teenie-Sohn? Es geschahen ja noch Zeichen und Wunder! Und Georg hatte doch nicht etwa seine Reisetasche selbst - ? Aber wo hatte er dann den Audi mit dem Schriftzug seiner Firma gelassen? Unfall? Bei der Filiale in der MiniCity abgestellt? Nur: wozu? Um mit dem Bus nach Moosfeld zu gondeln und morgen wieder zurück? Morgen war doch erst Freitag, da musste er doch entweder wieder los oder in der Firma Dinge erledigen – was auch immer, er erzählte ja nichts, machte nur immer einen auf Megastress…



Aber im Schlafzimmer war er auch nicht! Die Betten waren glatt gestrichen, alles war perfekt aufgeräumt – also, für ihre Verhältnisse. Der Wäschekorb quoll über und auf ihrem Nachttisch befand sich reichlich viel Kruscht. Sie dachte an ihre neuerdings so braven Kinder und räumte hastig gebrauchte Wattepads, Nagellackentferner, eine leere Schokoladenverpackung und zwei ausgelesene Bücher weg, danach sortierte sie eine Ladung Wäsche aus und steckte sie in der Küche in die Waschmaschine.



Schon besser!



Wenn die Kinder sich plötzlich so sehr zum Positiven gewandelt hatten, konnte sie ja wohl auch versuchen, aus ihrem Schlendrian herauszufinden!



Das Schlafzimmer sah schon besser aus, na, abgesehen von dem Nachttischchen neben Georgs Seite. Aber von seinen halb gelesenen Ganze Kerle-Magazinen ließ sie lieber die Finger…



Konnte er nicht mal zum Holzfällen nach Kanada fahren? Oder zur Bärenjagd? Und dann eine nette Kanadierin kennenlernen und nie zurückkommen! Andererseits: die arme Kanadierin…



Die Kinder würden es verkraften, überlegte sie und sah sich mit kritischem Blick im Wohnzimmer um. Viel Zeugs. Zu viel Zeugs!



Flohmarkt? Katrin war ihr gestern recht vernünftig erschienen. Nicht besserwisserisch-vernünftig, sondern eher mit brauchbaren Ideen. Und Katrin schien mit ihrem Leben so richtig zufrieden zu sein. Beneidenswert… wie machte sie das wohl?



Unter der Spüle stand die Wodkaflasche… ein Gläschen? Zur Belohnung nach einem langen, harten Tag?

 



Keine Lust, dachte sie und erschrak regelrecht: Wieso hatte sie plötzlich keine Lust auf einen Drink? Vielleicht auch, weil der Tag gar nicht lang und hart gewesen war? Im Büro hatte alles geklappt – und hier waren die Kinder nicht maulig. Und am allerbesten: Georg war nicht da. Entspannung total!



Bis halb sieben, als Valli auf die Minute pünktlich nach Hause kam, hatte sie die Wäsche aufgehängt, einen Gemüseauflauf (mit getrockneten Tomaten, Chili und Pfeffer gewürzt) in den Ofen geschoben und war bereits mit einer riesigen Tüte durch das Wohnzimmer gezogen, um Flohmarktkrempel einzusammeln.



„Was machst du da, Mama?“



„Katrin hat gestern vorgeschlagen, mal auf den Flohmarkt zu gehen. Sie findet ja, wir sammeln alle viel zu viel Kram an. Ganz Unrecht hat sie da wohl nicht…“



„Da hast du aber mal recht! Minimalismus heißt die Devise! Kann ich da mitgehen?“



„Ja, unbedingt! Und du magst Katrin doch?“



„Klar. Die hat immer gute Ideen. Hast du noch so eine Tüte? Dann suche ich auch mal… es riecht zwar toll, aber ich glaube doch, das Essen braucht noch ein bisschen?“



Dani reichte ihr eine große blaue IKEA-Tasche und Valli grinste. „Die krieg ich voll, wetten?“



Dani strich weiter durch das Wohnzimmer. In der Anrichte, die Georg von seiner Mutter übernommen hatte, gab es mindestens drei Tischdecken, die sie nie benutzte, zwei Serviettenständer (wozu das denn?), in einer altmodischen Schachtel ein Pralinenbesteck für vier Personen, das war ja fast etwas für Bares für Rares. Naja, so rar war es wohl auch noch nicht… Sie kannte jedenfalls niemand, der Pralinen zierlich mit Besteck aß. Außer Tanja und vielleicht noch Mutti aß ohnehin niemand Pralinen. Obwohl, diese mit den Nüssen und den guten Obstbränden darin?



Nein, brauchte sie nicht. Und wie sollte man auch flüssige Pralinen durchschneiden? Das gab doch bloß eine irre Sauerei? Weg mit dem Zeug!



Hinter den Tischdecken im unteren Fach gab es noch diverse Dekorationen aus Plastikblüten. Sie grinste kurz – für Mutti?



Die Schrankwand hatte diverse geschlossene Fächer. Eins enthielt Georgs Videos in neutralen Hüllen – aber auf den DVDs selbst stand allerlei Verräterisches. Nein, diese Pornoscheiße rührte sie nicht weiter an. Hoffentlich geriet Joschi nicht mal darüber?



Ach, der wusste darüber doch Bescheid – und im Internet gab es schließlich auch alles, wahrscheinlich Härteres als auf Kauf-DVDs!



Sieben Vasen – vier davon hatte sie noch nie verwendet – zu enge Öffnungen, zu blöde Farben, zu groß, zu klein. Weg.



Ein gutes Gefühl, fand sie, während sie die Vasen in die unnützen Tischdecken wickelte. Hätte sie eigentlich nicht gedacht!



Sie fand noch elf alberne Romane, die sie garantiert nie wieder lesen würde – aber Hardcover! Da freute sich der Flohmarkt – Quatsch! Lesefabrik! Gab´s die überhaupt noch? Morgen arbeitete sie vormittags, da konnte sie doch nachmittags zur Lesefabrik und danach mal schauen, wo der nächste Flohmarkt war. Und dann Katrin und Mutti informieren. Das konnte recht lustig werden!



Valli tauchte auf, mit der gut gefüllten IKEA-Tasche. „Ich hab ganz viele Bücher gefunden, die totaler Mist sind. Da schau ich dann mal in die-“



„-Lesefabrik. Mach ich morgen Nachmittag auch, nach der Arbeit!“



Valli lachte. „Und weißt du was? Joschi sucht auch. Der hat aber eher uncoole Klamotten gefunden.“



„Gut, wenn sie gewaschen sind… Notfalls bleibt immer noch der Wertstoffhof. Mir hat das Ausmisten jetzt richtig Spaß gemacht, dir auch?“



„Voll! Irgendwie ist das total befreiend. Ballast abwerfen und so. Gehen wir morgen zusammen zur Lesefabrik?“



„Ja, gerne! Wann hast du Schule aus?“



„Um zwei.“



„Ich auch so etwa. Dann treffen wir uns um halb drei hier und fahren zur Lesefabrik?“



„Hm“, machte Valli, „warum bis hier heraus fahren? Ich packe meine Bücher gleich in deinen Kofferraum und du gabelst mich am Mariengymnasium auf? Dürfte Zeit sparen.“



„So machen wir´s.“ Dani kam sich vor, als hätten sie beide einen Kurs zur harmonischen Gesprächsführung absolviert. Was war hier eigentlich los?



Ob Joschi genauso vernünftig geworden war? Aber sie wollte ihn jetzt nicht beim Entrümpeln stören.










Tanja hatte immer noch schlechte Laune, als sie im Bus saß. Was der blöden Katrin nur eingefallen war, herumzuschnüffeln? Sie konnte doch wohl in der Mittagspause essen, was sie wollte? Und Katrin verleidete ihr jetzt auch noch den Asia Truck – nein, das konnte sie nicht, die Samosas und die Wan-Tans waren hier einfach die besten!



Katrin aß doch sonst immer nur Salat und Gemüse, oder? Die Frühlingsrollen waren bestimmt bloß Tarnung gewesen! Und wozu machte sie das? Wollte sie sie bei Mutti und Dani verpetzen? Denen war doch egal, wieviel sie aß, Mutti freute sich wohl sogar. Dani hatte sich allerdings gestern mindestens so gemein benommen wie Katrin.



Gestern war es lecker gewesen – und dann der doppelte Nachtisch… Warum gönnten ihr eigentlich ihre Kollegen das Essen nicht? Heute hatten sie jeden Schokoriegel kommentiert und mittags gefunden, sie sollte ihren Chinascheiß gefälligst draußen futtern, das Zeug verpeste die ganze Packerei. Aber Käsebrot stank nicht, was?



Und dann hatte Alice ebenfalls Pakete gepackt und zwar gut doppelt so schnell wie Tanja selbst. „Ich ernähre mich ja auch gesund!“, hatte sie noch angemerkt, die magere Kuh, die!



Blödes Pack. Wenn sie da nicht mehr arbeiten müsste… aber wäre es so einfach, etwas anderes zu finden? In einem Fastfood-Restaurant hatte sie es auch nicht lange ausgehalten, da taten sie ihr immerzu die Füße weh. Und die beiden Bürohilfe-Jobs: naja! Mit Computern hatte sie es nicht so, und immerzu Zettel abzuheften war auch nicht gerade spannend. Außerdem regten sich immerzu Leute auf, dass irgendetwas nicht schnell genug gegangen war. Blöde Hektiker! Das alles machte ja so müde…



Immerhin war an der nächsten Haltestelle das Old England. Vielleicht hatten die wirklich große Tüten mit Brathähnchengeschmack? Und gab es nicht auch welche mit richtig guten Kräutern?



Tatsächlich – Hähnchen, Kräuter, Tomate und Bratwürstchen, ein ganzes englisches Frühstück in Chipsform!



Eine große Plastiktüte mit dem Union Jack darauf in der Hand (mit acht Chipstüten darin), stieg sie wieder in den Bus und fuhr zur Bonifatiusstraße.



Das Haus war scheußlich. Dass ausgerechnet sie in einem solch furchtbaren Haus wohnen musste! Sie verdiente doch weiß Gott etwas Besseres?



Aus den Briefkästen quoll mal wieder die Werbung, der Aufzug war total zerkratzt und auf der ersten Treppe lag ein leerer Pizzakarton. Naja, warum sollten die Leute hier auch auf Ordnung achten…



Sie fischte ihre Post aus dem Briefkasten und steckte sie ein, dann fuhr sie hinauf in den sechsten Stock.



Scheußliche Wohnung. Viel zu klein! Und die Möbel waren auch nichts…



Mit der Post ließ sie sich auf ihr Bettsofa fallen und sah sie rasch durch – Stromrechnung, Handyrechnung, Pizzaflyer, Chinaflyer, Sonderangebote, Sonderangebote… Postkarte: Ui. Nein, die war im falschen Briefkasten gelandet, offenbar war sie für die Frau aus 608. Nachher dort an die Tür stecken.



Jetzt hatte sie aber eine Pause verdient! Brathähnchen hieß die Devise!



Und die Flyer würde sie aufheben…










Als Dani vor dem Mariengymnasium anhielt, stand Valli schon parat und schlüpfte rasch auf den Beifahrersitz.



„Ist Papa jetzt eigentlich gekommen?“ Sie schnallte sich an.



„Nein. Vielleicht kommt er tatsächlich erst morgen Abend. Ist wohl auch nicht so wichtig.“



„Vor allem, wo jetzt so schön aufgeräumt ist. Papa macht doch bloß Unordnung.“



Dani gluckste unwillkürlich. „Mit seinen Bierflaschen?“



„Und seiner Reisetasche, die immer in den Flur schmeißt, als ob wir die Dienstboten wären!“



„Gut beobachtet.“



„Da! Da ist eine Parklücke!“



Dani lenkte den Wagen hinein, froh, dass sie nicht so ein Schiff fuhr wie Georgs Dienstwagen. In der Lesefabrik kassierte