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Egon Erwin Kisch

Wagnisse in aller Welt

Egon Erwin Kisch

Wagnisse in aller Welt

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2021

EV: Universum-Bücherei, Berlin, 1929

1. Auflage, ISBN 978-3-962818-89-0

null-papier.de/724


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Inhaltsverzeichnis

Ritt durch die Wüs­te und über den Schott

Sei­ne Ma­je­stät die Nick­ma­schi­ne

Die Fahrt der Flö­ßer

Auf der Ree­per­bahn von Rot­ter­dam

Jus­tiz ge­gen Ein­ge­bo­re­ne

Ver­wun­dung

Sil­ves­ter­nacht in Mar­seil­le

Kä­se­markt zu Alk­maar

Chi­ne­sen­stadt

Das Ver­mächt­nis der Frau Men­de

Va­ti­kan in der Sa­ha­ra

West­front 1918 – Fran­zö­si­sche Re­vo­lu­ti­on – Goe­the

Der, der das Ra­dio sieht

Die Kas­bah von Al­gier

Pro­test ge­gen eine Ver­ur­tei­lung

Wer mag wohl in die­sem Schlos­se woh­nen

Ku­rio­si­tä­ten­ka­bi­nett des Vieh­ho­fes

Städ­te­bil­der, per­spek­ti­visch ver­kürzt

Die tu­ne­si­schen Ju­den von Tu­nis

Po­li­zei­schi­ka­nen in Sar­di­ni­en

Me­moi­ren ei­nes Film­sta­tis­ten

Die Po­li­zei und ihre Beu­te

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr

Jür­gen Schul­ze

Kisch bei Null Pa­pier

Ritt durch die Wüste und über den Schott

Stun­den­lang be­geg­net man kei­nem Le­be­we­sen, au­ßer ei­nem sand­far­be­nen, stel­zen­den Vo­gel, der, vor Mensch und Pferd nicht er­schre­ckend, sei­nen Mo­no­log fort­setzt.

Fel­si­ger Bo­den wech­selt mit san­di­gem, man schlägt die Steig­bü­gel nach ara­bi­scher Ma­nier dem Gaul in die Flan­ken, auf dass er ga­lop­pie­re; zwar hat man nichts we­ni­ger als Eile, aber die Luft wird küh­ler, wenn sich das Tem­po er­höht.

Ein Weg ist da, ein deut­li­cher Weg, doch schwer zu sa­gen, wo­durch er sich vom üb­ri­gen Ter­rain un­ter­schei­det. Ist er an­ders als grau­braun, ist er nicht stei­nig, ist er nicht san­dig wie al­les rings­um­her, was man seit Son­nen­auf­gang durch­rit­ten hat und was man durch­rei­ten wird bis zum Son­nen­un­ter­gang? Nein, er ist durch­aus nicht an­ders, es sei denn, dass er im Sand­ge­biet et­was här­ter er­scheint als sei­ne Um­ge­bungs­flä­chen, dass im Fel­sen­ge­biet we­ni­ger Blö­cke auf ihm als ne­ben ihm lie­gen; wo er eine Fur­che über­quert (ein Rinn­sal viel­leicht in der Re­gen­zeit), stützt ein Pal­men­stamm sei­nen Rand, ein ver­san­de­ter, ver­staub­ter, halb ver­stein­ter Pal­men­stamm, wer weiß, wer ihn hier­her­brach­te.

Ge­gen Mit­tag sprengt man eine Sand­dü­ne hin­auf und sieht in der Fer­ne einen klei­nen See. Die Stra­ße durch­schnei­det ihn als Damm, Pal­men ste­hen an sei­nem Ufer und nicht weit von ih­nen das qua­dra­tisch ge­mau­er­te Grab­mal ei­nes Ma­ra­but,1 ei­nes Hei­li­gen aus Mo­ham­meds Nach­kom­men­schaft. Men­schen sin­gen, ist’s auch nur eine gut­tu­ra­le Ele­gie, sie er­frischt, so wie der An­blick des sal­zi­gen Was­sers er­frischt, ob­wohl sich kei­ne noch so klei­ne Bri­se er­hebt, von sei­ner Küh­le et­was ins Ge­sicht zu fä­cheln. Die Sän­ger sit­zen in der Pal­me­rei und ach­ten dar­auf, dass die Bäu­me ihr Was­ser­quan­tum be­kom­men, der Esel trabt im Krei­se, um es aus dem Brun­nen zu pum­pen.

Am Saum der Oase fünf­zehn Häu­ser, der Hain zählt etwa drei­hun­dert Bäu­me. Den güns­tigs­ten Fall vor­aus­ge­setzt, dass je­des Fa­mi­li­enober­haupt Be­sit­zer von Pal­men ist und je­der Baum acht­zig Kilo Dat­teln trägt von je fünf Fran­ken Kauf­wert, so er­gibt das im Durch­schnitt einen Jah­res­ver­dienst von acht­tau­send Fran­ken (etwa tau­send Reichs­mark) pro Fa­mi­lie, wo­von die Steu­er ab­ge­ht, ein Fran­ken fünf­zig pro Baum. Ziem­lich leicht ist die Ar­beit, im­mer­hin muss sie in flam­men­der Glut ge­leis­tet wer­den und ohne Un­ter­bre­chung, die Pal­me bringt (wie das afri­ka­ni­sche Mäd­chen) in ih­ren ers­ten neun Le­bens­jah­ren über­haupt kei­ne Frucht, und der ar­te­si­sche Brun­nen, vom Tug­gur­ter Schlos­ser­meis­ter Obach (aus Straß­burg) her­ge­stellt, kos­tet drei­tau­send Fran­ken.

Ver­zei­hung – aber zu sol­chen Be­rech­nun­gen ver­führt die Oase; lang rei­tet man über Sand und Stein, der kei­nen Ge­dan­ken ein­gibt, und plötz­lich sieht man sich ei­ner deut­li­chen Ver­mö­gensauf­stel­lung ge­gen­über.

Die üb­ri­gens nicht voll­stän­dig ist. Mit Dat­telnüs­sen er­nährt man das Ka­mel, aus Palm­zwei­gen wer­den Kör­be und Mat­ten ge­floch­ten, mit den dür­ren Blät­tern der Kü­chen­herd ge­heizt.

Am Rand des Seeu­fers ras­ten No­ma­den. Über­all, wo Was­ser ist oder eine Sied­lung, schla­gen Bo­he­miens der Wüs­te ihre Wan­der­stä­be in die Erde, einen grö­ße­ren in die Mit­te und zwei klei­ne­re rechts und links da­von, eine zer­fetz­te dunkle De­cke dar­über – fer­tig ist die Lau­be; nicht an­ge­bun­den wird das Maul­tier, es fühlt sich ras­sen­zu­ge­hö­rig, stam­mes­be­wusst, fällt ihm gar nicht ein, in das Dé­sert zu flie­hen, zu de­ser­tie­ren. Das Zelt ist of­fen, drei Frau­en glot­zen, alle mit Tand be­hängt und schmut­zig und in Lum­pen. Mehr als ein Dut­zend Kin­der und ein Mann. Nie­mand bet­telt – das ist das ein­zi­ge, was die Arbi Sa­ha­ra von den eu­ro­päi­schen Zi­geu­nern un­ter­schei­det, äu­ßer­lich wür­de kei­ner auf­fal­len un­ter den wan­dern­den Kes­sel­fli­ckern, Wahr­sa­ge­rin­nen, Pfer­de­händ­lern und Jahr­mark­t­akro­ba­ten in Braun. Auf der einen Sei­te der Wüs­ten­dör­fer woh­nen stän­dig und ab­ge­son­dert die Aus­sät­zi­gen, auf der an­de­ren: un­be­stän­dig und ab­ge­son­dert die mit der Le­pra der Frei­zü­gig­keit Be­haf­te­ten.

Hin­ter dem See: der Schott, eine sil­ber­glän­zend-trü­ge­ri­sche Flä­che. Der Weg, bei­der­sei­tig durch brei­te Grä­ben von ihr ge­schie­den, führt fest­ge­stampft ent­lang, doch ist die auf­re­gen­de Ju­gend­lek­tü­re von Ver­fol­gun­gen da­von­ja­gen­der Wüs­ten­räu­ber über Salz- und Sand­ge­län­de nicht ohne nach­hal­ti­gen Ein­druck ge­blie­ben, und man muss die Ge­fahr ver­kos­ten. Der Hengst scheint gleich­falls sei­nen Karl May ge­le­sen zu ha­ben, er will nicht über den Gra­ben, er bockt, ihm das Zau­ber­wort »Rih« ins Ohr zu flüs­tern oder die Sure des To­des auf­zu­sa­gen wür­de kaum et­was fruch­ten, selbst die wü­tends­ten Fer­sen­hie­be fruch­ten ja nichts, er bockt nur.

Erst die nie­der­klat­schen­de Nil­pferd­peit­sche zwingt ihn zum Sprung. Jetzt saust er mit damp­fen­den Nüs­tern, als be­fürch­te er, die Geis­ter, die da un­ten woh­nen und ihre sil­ber­grau­en Köp­fe em­por­stre­cken, könn­ten ihn an den Fes­seln pa­cken und hin­ab­zie­hen in den schlam­mi­gen Sand, den san­di­gen Schlamm. Oh­ne­hin sin­ken trotz des tol­len Ga­lopps die Pfer­de­hu­fe tief, tief in den Bo­den.

Den zwei­ten Satz über den Stra­ßen­gra­ben, den auf den si­che­ren Weg zu­rück, tut der Gaul wil­lig, es be­darf kei­nes Fer­sen­hiebs und nicht der Nil­pferd­peit­sche, noch wei­ter­hin bebt Un­ru­he un­ter dem Sat­tel, sie legt sich erst, bis das Reich der Flit­ter­ge­spens­ter auch rechts und links ver­schwun­den ist und die ver­trau­te Wüs­te­ne­be­ne wie­der be­ginnt.

Nach ei­ner Stun­de spren­gen von der Wel­le am Ho­ri­zont zwei Rei­ter her­an. Das Pferd des einen ist ein Schim­mel, pracht­voll auf­ge­zäumt, die Steig­bü­gel sind Häu­schen aus ge­trie­be­nem Sil­ber, Tur­ban und Haïk des Rei­ters aus Sei­de und der Bur­nus aus gold­be­stick­tem blau­em Stoff.

Er grüßt und fragt, wo­hin man rei­te. Denn er ist der Kaid der nächs­ten Stadt und be­sorgt, man könn­te ein In­spek­tor der Ver­wal­tung oder ein Steu­er­kon­trol­leur sein. Man ist we­der ein In­spek­tor der Ver­wal­tung noch ein Steu­er­kon­trol­leur, was der Kaid er­leich­tert hört. Er hat beim Mi­li­tär­kom­man­dan­ten zu tun, des­halb der ras­sigs­te Schim­mel­hengst und das fest­lichs­te Zaum­zeug, die Of­fi­zie­re wer­den al­les nei­disch mus­tern, die­weil sein Dai­ra das Ross vor dem Tor am Zü­gel hält. Im Üb­ri­gen wünscht er gute Rei­se, wor­auf man er­wi­dert, ihn (der sich so­wie­so be­rei­chert) möge Gott be­rei­chern, Al­lah jer­ze­kek.

Rast im Ne­ger­dorf. Die Kin­der ha­ben kaum je­mals einen Wei­ßen ge­se­hen, wie es scheint, nur sel­ten ein Pferd. Sie schrei­en ein­an­der ihre Be­mer­kun­gen über den Fremd­ling zu, un­be­küm­mert dar­um, dass man sie ver­ste­hen kön­ne – ver­steht doch nicht ein­mal ein Ara­ber die Spra­che der Ruar­ha, der schwar­zen Mu­sel­ma­nen.

Drei­jäh­ri­ge, vier­jäh­ri­ge Mäd­chen, alle an der Schlä­fe tä­to­wiert, kni­en auf der Stra­ße, die Ärm­chen in den Staub stüt­zend, denn auf ih­rem Rücken ist eine Last fest­ge­bun­den: ein Säug­ling. Der schläft. Flie­gen krie­chen ihm in die Na­sen­lö­cher, in die Au­gen und in den Mund, ohne ihn zu we­cken. Auch die, die wach sind, Er­wach­se­ne und Kin­der, stört es nicht, wenn auf ih­rem Ge­sicht dich­te Flie­gen­schwär­me schmau­sen, kei­ne Hand­be­we­gung ver­scheucht sie.

Wie elend ist die­ses Dorf. Die en­gen Gas­sen sind manch­mal über­wölbt, manch­mal auch un­ten zu­sam­men­ge­scho­ben, wo sich die Lehm­hüt­ten zu ei­ner Art Bank aus­buch­ten. Da­rauf hocken, da­mit die Flie­gen et­was zu fres­sen ha­ben, die Män­ner des Dor­fes und dö­sen, ne­ben sich einen Kes­sel, in dem Boh­nen in Was­ser ko­chen. Nur vor ei­ner Tür ar­bei­ten zwei Män­ner; sie flech­ten Pal­men­zwei­ge, nach­dem sie sie durch einen Biss längs­seits ge­spal­ten ha­ben, zu Mat­ten.

In man­chen Gäss­chen, hei­ßen Röh­ren, kön­nen die auf Eseln rei­ten­den Kna­ben ihre Bei­ne nicht sprei­zen, der­art nah ste­hen die Hüt­ten ein­an­der ge­gen­über. Die Ka­me­le muss man aus ei­ni­ger Ent­fer­nung für Strau­ße hal­ten, so klein sind sie, so ma­ger ihr Hals, ihre Bei­ne. Als Haus­tür dient ein Ge­flecht aus Pal­men­blät­tern, bes­ten­falls ei­ni­ge Kis­ten­bret­ter. Selbst das Mau­er­werk der Pries­ter­grä­ber ist nicht in­takt – wie fern liegt Nor­dal­ge­ri­en, wo man die Grüf­te der Ma­ra­buts mit Op­fer­ga­ben schmückt, mit bun­ten Sei­den­tü­chern, mit be­stick­ten Fah­nen, mit blau­en Ka­cheln, mit gol­de­nen Halb­mon­den, mit kost­ba­ren Tep­pi­chen, mit rie­si­gen Strau­ßen­fe­dern, und wo fast nir­gends, als ein­zi­ges von den Ara­bern an­er­kann­tes Wun­der­werk des Wes­tens, eine große Em­pi­re-Stand­uhr fehlt, die man auf den er­beu­te­ten Schif­fen der Gi­aurs fand!

Zwei, drei Kauf­manns­lä­den, je eine Dat­tel­waa­ge hängt dar­in, ein Kar­ton mit win­zi­gen Fläsch­chen bil­ligs­ten Par­füms, ka­na­ri­en­gel­be Tü­cher, Le­der­täsch­chen für Amu­let­te, ei­ni­ge Streich­höl­zer­päck­chen, Spie­gel und Glas­per­len.

Nicht ein­mal ein Kaf­fee­haus gibt es, der kleins­te Duar der brau­nen Ara­ber hat ih­rer zehn. Nur sü­ßen Pfef­fer­minz­tee kann man be­kom­men, der Kauf­mann be­rei­tet ihn, und da er fünf­zig Fran­ken nicht zu wech­seln ver­mag, macht er eine gleich­mü­ti­ge Hand­be­we­gung, schenkt dem Gast die Ze­che.

Der schwingt sich wie­der aufs Pferd, das die Ju­gend stau­nend um­steht, ein Kna­be hält den Half­ter, er­hält eine Zi­ga­ret­te, o Sen­sa­ti­on: eine fer­ti­ge Zi­ga­ret­te!, man rei­tet wei­ter, um den Bordj, der zum Nacht­quar­tier aus­er­se­hen ist, noch vor Son­nen­auf­gang zu er­rei­chen, in­sch’ Al­lah, wenn Gott will.

1 is­la­mi­scher Hei­li­ger <<<

Seine Majestät die Nickmaschine

Kei­ne Ope­ret­te kann das Hofle­ben ei­nes exo­ti­schen Mon­ar­chen läp­pi­scher dar­stel­len, als es das Sei­ner Ho­heit des Beys von Tu­nis ist.

Be­kannt­lich ist Tu­nis nicht etwa fran­zö­si­sche Ko­lo­nie, son­dern ein selbst­stän­di­ges Reich, das un­ter fran­zö­si­schem Pro­tek­to­rat steht. Das heißt, der Bey hat ohne Wi­der­spruch das an­zu­ord­nen, was der fran­zö­si­sche Ge­ne­ral­re­si­dent von ihm ver­langt, und das Volk hat ohne Wi­der­spruch zu ge­hor­chen, denn der Bey ist ab­so­lu­tis­ti­scher Re­gent.

Die­ses Sys­tem hat den Vor­teil, dass die Ein­ge­bo­re­nen für ihr Un­glück nur den an­ge­stamm­ten Mon­ar­chen ver­ant­wort­lich ma­chen könn­ten, und sol­ches ver­bie­tet ih­nen die Re­li­gi­on; fer­ner hat das Pa­ri­ser Par­la­ment, des­sen Op­po­si­ti­on zum Bei­spiel die Maß­nah­men der fran­zö­si­schen Re­gie­rung in Al­ge­ri­en un­an­ge­nehm kri­ti­siert, in tu­ne­si­sche Din­ge nichts hin­ein­zu­re­den. Was geht’s die fran­zö­si­sche Re­gie­rung an, was der Bey von Tu­nis, ein Selbst­herr­scher, ver­fügt?

Die Thron­fol­ge­ord­nung von Tu­nis kommt die­ser Re­gie­rungs­wei­se sehr zu­stat­ten. Stirbt ein Bey, so wird we­der sein Sohn noch ein ge­wähl­tes Mit­glied der Fa­mi­lie sein Nach­fol­ger, son­dern der äl­tes­te Prinz aus dem seit zwei­hun­dertzwan­zig Jah­ren re­gie­ren­den Hau­se der Hus­se­ni­ten. So ist der neue Fürst ge­wöhn­lich fünf­und­sech­zig Jah­re alt und hat nicht Lust und Tem­pe­ra­ment, sich durch un­be­son­ne­nen Wi­der­stand den Le­bens­abend zu ver­gäl­len.

Ge­gen­wär­tig schwingt Mo­ham­med el Ha­bib Bey das Zep­ter, der schon vor sech­zig Jah­ren – da­mals spür­te man von Frank­reichs Pro­tek­to­rat noch kein An­zei­chen, und das Bey­li­kat war wirk­lich ab­so­lu­tis­tisch – als äl­tes­ter Sohn des Sou­ve­räns im Schlos­se an der tu­ne­si­schen Kas­bah wohn­te. Seit­her hat ein hal­b­es dut­zend­mal der Thron sei­nen Be­sit­zer ge­wech­selt, be­vor Mo­ham­med el Ha­bib wie­der in den Dar el Bey ein­zog. Im Jah­re 1906, achtund­vier­zig Jah­re alt, rück­te er in den Rang ei­nes Kron­prin­zen und Feld­mar­schalls vor, aber er hat­te noch sech­zehn Jah­re zu war­ten, ehe sein Vor­der­mann und Vet­ter, Mo­ham­med el Nassr, starb.

Es war höchs­te Zeit, denn für ihn wa­ren, wie für alle Prin­zen, die fet­ten Jah­re vor­bei, und die ma­ge­ren dau­er­ten be­reits ziem­lich lan­ge. Die fet­ten Jah­re wa­ren die ge­we­sen, als man un­be­schränkt herrsch­te, in Saus und Braus leb­te und sich vom Un­ter­ta­nen pum­pen konn­te, was man woll­te, ihn höchs­tens durch die Ver­lei­hung des Or­dens Nischan If­tik­har ab­spei­send; zu den fet­ten Jah­ren ge­hör­ten fer­ner die, in de­nen die War­te­zim­mer der fran­zö­si­schen Ok­ku­pa­ti­ons­be­hör­den voll wa­ren von Kauf­leu­ten und Ge­wer­be­trei­ben­den aus der Ge­gend von Bar­do, des Kas­bah-Plat­zes, von La Mar­sa auf den Trüm­mern Kar­tha­gos und an­de­ren Or­ten Tu­ne­si­ens, wo die Hus­se­ni­ten ihre Sch­lös­ser hat­ten; es wa­ren Gläu­bi­ger, sie prä­sen­tier­ten Rech­nun­gen und er­hiel­ten sie be­zahlt. Die ma­ge­ren Jah­re aber be­gan­nen am 11. Juni 1902, als vor Stadt und Welt und ara­bisch und fran­zö­sisch, also urbi et orbi et arbi et rumi, kund­ge­tan wur­de das De­cret sur l’ad­mi­nis­tra­ti­on des biens bey­li­caux:

»Jede Aus­ga­be, jede Rech­nung, je­der Ver­trag, wel­cher­art sie auch im­mer sei­en, dar­auf ab­zie­lend, die Per­son oder die per­sön­li­chen Gü­ter der Herr­scher­fa­mi­lie zu ir­gen­det­was zu ver­pflich­ten, sind nicht gül­tig und kön­nen dem be­tref­fen­den Mit­glie­de des Herr­scher­hau­ses, auch wenn sie von ihm be­foh­len oder si­gniert sind, nicht als For­de­rung vor­ge­legt wer­den, so­bald sie nicht mit Au­to­ri­sa­ti­on des Bey durch den be­son­de­ren Ad­mi­nis­tra­tor un­se­rer Zi­vil­lis­te vi­diert sind.«

Mit die­sem schä­bi­gen De­kret hör­te je­der Kre­dit auf, man muss­te sich mit der Apa­na­ge be­schei­den, und es lässt sich den­ken, dass un­ser Freund Mo­ham­med el Ha­bib heil­froh war, end­lich den Thron sei­ner On­kel zu be­stei­gen und eine Zi­vil­lis­te von 280 000 Fran­ken im Mo­nat zu er­hal­ten.

Da­mals war er nicht nur ein al­ter, son­dern auch kränk­li­cher Mann, und der fran­zö­si­sche Re­si­dent be­müh­te sich, die Krö­nungs­fei­er­lich­kei­ten hin­aus­zu­zie­hen – sol­che Din­ge kos­ten Geld, und man will sie des­halb nicht all­zu rasch wie­der­ho­len.

Aber wie sich be­kann­ter­ma­ßen Päps­te und Staats­prä­si­den­ten nach ih­rer Wahl er­staun­lich rasch ver­jün­gen, er­ging es auch nach dem 10. Juli 1922 dem neu­en Bey, der sich bald dar­auf in fei­er­li­cher Wei­se aber­mals ver­mähl­te. Die Lan­des­mut­ter war nur über zwei­und­fünf­zig Jah­re jün­ger als ihr kö­nig­li­cher Ge­mahl, nach ei­ni­gen An­ga­ben war sie drei­zehn, nach an­de­ren fünf­zehn Jah­re alt (der Go­thai­sche Hof­ka­len­der ver­schweigt de­li­kat die Da­men der ori­en­ta­li­schen Herr­scher­häu­ser), si­cher je­doch ist, dass sie die Toch­ter ei­nes Grün­zeug- und Milch­händ­lers war und die Unklug­heit oder Klug­heit be­gan­gen hat­te, sich un­ver­schlei­ert vor dem vor­bei­ge­hen­den Kö­nig zu zei­gen.

Die­ser be­sitzt zwei Söh­ne von etwa vier­zig Jah­ren, eine sei­ner Gat­tin­nen lebt ein­ge­schlos­sen in Me­non­ba, die an­de­re im Som­mer­schloss La Mar­sa, wäh­rend die drit­te und jüngs­te im Dar el Bey zu Tu­nis schläft, im­mer zur Sei­te ih­res Gat­ten sitzt und ihm, eine lie­ben­de Bey-Sit­ze­rin, be­reits eine klei­ne Prin­zes­sin ge­schenkt hat.

Sonst hat der Bey von Tu­nis we­nig zu tun. Er un­ter­schreibt und sie­gelt die von der fran­zö­si­schen Re­si­den­tur ver­fass­ten Er­läs­se, na­tür­lich nicht er selbst, es gibt einen Mi­nis­ter der Fe­der und einen Groß­sie­gel­be­wah­rer. Drei­mal im Jahr hat er die mar­mor­ne Lö­wen­trep­pe des Palas­tes Bar­do hin­an­zu­stei­gen, am Aid el Ke­bir, dem Tage des Op­fer­lamms, am Mor­gen des Mu­lud, dem Ge­burts­ta­ge des Pro­phe­ten, wor­auf er mit sei­nem Ge­fol­ge die be­leuch­te­ten und be­kränz­ten Ge­schäf­te in den Suks ab­schrei­tet, und am Aid es Seg­hir, am Ende des Ra­ma­dan-Mo­nats. Dort in Bar­do, wo die Wän­de mit Ala­bas­ter aus Kar­tha­go, mit tu­ne­si­schen Fayencen aus Na­beul, mit mau­ri­schen Stuck­a­ra­bes­ken und mit rie­si­gen Por­träts eu­ro­päi­scher Kai­ser ge­schmückt sind und der Thron­ses­sel mit ei­nem rie­si­gen Bril­lan­ten, reicht er den Wür­den­trä­gern sei­nes Rei­ches die Hand zum Kus­se und nickt den Ehren­gäs­ten gnä­dig zu, so wie er die von den Fran­zo­sen vor­ge­leg­ten Ge­set­ze mit ei­nem Kopf­ni­cken zu emp­fan­gen und zu un­ter­fer­ti­gen hat, wo­für er das Sa­lär von drei­ein­halb Mil­lio­nen Fran­ken per Anno be­zieht. Ebener­dig ist ein Saal, in dem er je­dem zum Tode ver­ur­teil­ten und nicht be­gna­dig­ten Un­ter­tan ins Ge­sicht sa­gen muss, dass er ihn nicht be­gna­digt habe.

Dem Herr­scher bleibt also aus­gie­big viel Zeit, sich sei­nen Pri­vat­pas­sio­nen zu wid­men. Mo­ham­med el Ha­bib übt drei Spor­te aus: ers­tens das Do­mi­no­spiel, zwei­tens das ita­lie­ni­sche »Sco­pa«, ein Spiel mit vier­zig Kar­ten, und drit­tens den Fisch­fang; man kann in La Mar­sa wäh­rend des gan­zen Som­mers den Bey von Tu­nis stun­den­lang an der Bai von Tu­nis mit der An­gel­ru­te sit­zen se­hen. Mit Vor­lie­be näht er An­zü­ge und kocht, was nur für die Be­tei­lig­ten un­an­ge­nehm ist.

Au­ßer­dem bil­det er sich auch ein, ein Ma­ler zu sein. Das über­le­bens­große Selbst­bild­nis im Au­di­enz­saal ist von Fach­leu­ten der­art kor­ri­giert wor­den, dass es in­mit­ten der an­de­ren Por­trät­kit­sche nicht auf­fällt, je­doch bei den Ar­ran­geu­ren der Kunstaus­stel­lung von Tu­nis er­reg­te es vor zwei Jah­ren pein­li­ches Auf­se­hen, als plötz­lich ein Öl­ge­mäl­de des Prä­si­den­ten Mil­le­rand, ge­malt von Sei­ner Ho­heit, an­kam, um aus­ge­stellt zu wer­den. Das ging nicht – bei al­ler loya­len Ge­sin­nung ging das nicht. Man muss­te im »Palast der fran­zö­si­schen Ge­sell­schaf­ten«, wo der Sa­lon ver­an­stal­tet wur­de, ein Zim­mer als »Ex­po­si­ti­on ori­en­ta­li­scher Mö­bel« ein­rich­ten, und dort­hin hing man nun den Prä­si­den­ten der fran­zö­si­schen Re­pu­blik.

Von den drei­ein­halb Mil­lio­nen Fran­ken, die dem Bey jähr­lich be­wil­ligt sind, wer­den vor al­lem sei­ne Hof­hal­tung, sei­ne Palast­be­am­ten und sein Heer be­zahlt, das al­ler­dings nur sie­ben­hun­dert Mann zählt, aber ein­ge­teilt ist wie eine rich­ti­ge Ar­mee und aus ei­nem Feld­mar­schall, zwei Di­vi­si­ons­ge­ne­ra­len, ei­nem Bri­ga­de­ge­ne­ral, ei­nem Ba­tail­lon In­fan­te­rie, ei­ner Es­ka­dron1 Ka­val­le­rie, drei Ar­til­le­rie­bat­te­ri­en mit zu­sam­men zwei Ka­no­nen von 90 mm Ka­li­ber und ei­ner Mu­sik­ka­pel­le be­steht; zur Si­cher­heit ist die­ses Heer dem Chef der fran­zö­si­schen Mi­li­tär­mis­si­on un­ter­stellt, der al­lein eine Aus­rückung be­feh­len darf.

Bar­geld be­kommt der Bey sehr we­nig in die Hand, und da er von Schma­rot­zern um­ge­ben ist und gleich am Mo­nats­ers­ten al­les ver­schleu­dert und da sei­ne Er­läs­se, ver­mit­tels wel­cher er ver­schie­de­ne Lie­fe­ran­ten mit dem Nischan If­tik­har aus­zu­zeich­nen die Gna­de hat, von der Re­si­den­tur ad acta ge­legt wer­den, borgt ihm kein Mensch einen Sou. Der Gla­ser, der ge­holt wird, der Flei­scher, der täg­lich kommt, die Ärz­te, die eine un­heil­ba­re Krank­heit des Bey seit Jah­ren be­han­deln, wol­len vor­her be­zahlt sein.

Was Wun­der, dass Sei­ne Ho­heit ewig Geld ver­langt, un­ge­hal­ten wird, wenn man kei­nes gibt, und ei­nes schö­nen Ta­ges sei­nen Mi­nis­ter­prä­si­den­ten Mu­sta­pha Du­gez­li win­del­weich prü­gel­te, weil eine sol­che For­de­rung ab­ge­lehnt wur­de. Schnur­stracks lief der miss­han­del­te Pre­mier zu sei­nem ei­gent­li­chen Vor­ge­setz­ten, dem fran­zö­si­schen Ge­ne­ral­re­si­den­ten, und be­schwer­te sich, wor­auf Mon­sieur Saint mit Du­gez­li und ei­nem Angst-ein­flö­ßen-sol­len­den Rei­ter­fähn­lein beim Bey vor­fuhr. Kaum sah die­ser die böse Mie­ne des Mon­sieur Saint, so fiel er dem Du­gez­li um den Hals und tat, als wei­ne er vor Schmerz. »Über mich gehst du dich be­schwe­ren, über mich, dei­nen Va­ter, der dich liebt und züch­tigt wie sei­nen ei­ge­nen Sohn …« Kein Auge blieb trä­nen­leer ob sol­cher Va­ter­lie­be.

Fran­zö­sisch ver­steht Sei­ne Ho­heit, der fran­zö­si­sche Pro­tegé, über­haupt nicht, er spricht nur ein we­nig Ita­lie­nisch, und da er auch ara­bisch kein po­li­ti­sches Wort sa­gen darf und der Dol­metsch selbst das, was er sagt, nicht über­setzt, kann man sich vor­stel­len, wie die Au­di­enz ei­nes Eu­ro­pä­ers bei Sei­ner Ho­heit ver­läuft. Spielt nun der frem­de Gast nicht »Sco­pa«, kann ihn nur sei­ne Kennt­nis des Do­mi­no­spiels vor so­for­ti­ger stum­mer Ver­ab­schie­dung ret­ten.

Prä­sum­ti­ver Nach­fol­ger Mo­ham­med el Ha­bibs ist der Prinz Is­mail Bey, ein sehr di­cker, le­bens­lus­ti­ger und mit­teil­sa­mer Herr, der aus sei­nem zu­künf­ti­gen Herr­scher­pro­gramm kein Hehl macht und im­mer wie­der­holt, er wer­de sich bei der Thron­be­stei­gung einen or­dent­li­chen Rausch antrin­ken. Der Ver­wirk­li­chung die­ses Ent­schlus­ses sieht man in po­li­ti­schen Krei­sen mit Be­sorg­nis ent­ge­gen, denn auch die jet­zi­gen Räu­sche des star­ken Prin­zen kön­nen von nor­ma­len Men­schen nicht ge­ra­de als un­or­dent­lich qua­li­fi­ziert wer­den.

Man hofft also, Mo­ham­med el Ha­bib wer­de noch lan­ge kei­nem Nach­fol­ger Platz ma­chen, und die Ara­ber, un­ter­drückt und aus­ge­po­wert, ver­eh­ren in der von Re­li­gi­on und Ge­setz vor­ge­schrie­be­nen Wei­se ih­ren Herr­scher, der ma­len und lie­ben und ko­chen und schnei­dern kann, nur das Bes­te sei­nes Lan­des will und sei­nen Ers­ten Mi­nis­ter ver­prü­gelt hat, »weil die­ser dem Vol­ke wie­der eine Steu­er auf­bür­den woll­te«.

1 Schwa­dron <<<

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Volume:
181 p. 2 illustrations
ISBN:
9783962818890
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