Leopardenjagd

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»Aber das waren Löwen damals?«

»Ja. Zwei alte Männchen. Haben die Bahnarbeiter gleich dutzendweise aus den Zugwaggons geholt, so wurde es jedenfalls überliefert. War um die Jahrhundertwende, als man die Bahnlinie von Mombasa nach Nairobi baute. Ein englischer Jäger namens Patterson hat die beiden Löwen dann zur Strecke gebracht. Wurde übrigens verfilmt die Geschichte, mit Michael Douglas, ein super Film. Ich hab ihn daheim auf Video.«

»Das ist ja echt komisch …«

»Was?«

»Na ja, dass in Kenya fast dasselbe passiert wie am Bodensee. Ich meine, mit der Leiche auf dem Baum.«

Babs zögerte. Ihr fiel ein, was Clemens gesagt hatte, als sie von Lindas Problemen sprachen. Die muss mal wieder raus, was anderes machen …

»Was ist?«, fragte Linda.

»Ich dachte nur, das schreit doch nach einer Recherche in beide Richtungen. Vielleicht möchtest du ja …?«

»Ich? Aber Dossenberg hat doch dich beauftragt.«

»Na und? Das wär’ doch endlich mal wieder ’ne spannende Recherche! Nicht bloß die Wirtschaftsstatistiken aus der Region und die Umfragen in der Tübinger Fußgängerzone: ›Was halten Sie vom Klimawandel …?‹. Ich finde, das kannst du ruhig wieder unseren Hospitanten überlassen. Wird Zeit, dass du mal wieder ein richtig gutes Thema anpackst!«

Linda schwieg.

»Was ist?«, fragte Babs, »hast du Lust?«

»Du meinst, an den Bodensee?« Sie sah die blaue Wasseroberfläche vor sich, die barocke Fassade der Birnau inmitten herbstlich leuchtender Rebhänge, drüben im Dunst die Umrisse der Mainau, die Unteruhldinger Pfahlbauten, die Fähre, die von Meersburg nach Konstanz übersetzte und die Segler, die ihr immer einen Hauch von Urlaub und Süden vermittelten. Sie dachte an den Zeppelinflug, den sie vor wenigen Wochen dort gemacht hatte, und an ihr Abenteuer mit dem Luftschiff in Südafrika. Sie könnte vielleicht noch mal einen Flug buchen, diesmal die andere Route, über Wasserburg und Lindau Richtung Bregenzerwald. Ein Flug in die Berge, wie damals in den Felsschluchten der Luiperdskloof.

Sie würde den See genießen, die alte Heimat wiedersehen, jetzt, wo die Touristenmassen ausblieben; endlich mal abschalten, ein, zwei Tage nur. Ja, dazu hatte sie Lust! Weg, weg von hier, fort aus Tübingen, wo sie so vieles an Alan Scott erinnerte, weil sie dort schon mal mit ihm gesessen hatte, hier mit ihm entlanggeschlendert war, er sie in ihrer Wohnung geküsst und in ihrem Bett geliebt hatte. Fort mit der verteufelten Erinnerung, weg mit der Illusion, das Leben neu beginnen. Und sie sagte: »Okay.«

Babs sah sie groß an. Damit hatte sie nicht gerechnet, und sie freute sich über Lindas spontan gefassten Entschluss.

»Du willst?«, fragte sie zur Vorsicht noch mal nach.

»Ich will. Wann beginnt die PK?«

»Heut Nachmittag um vier.«

»Und wo?«

»In Friedrichshafen. Kennst du das Polizeigebäude in der Ehlersstraße?«

Linda nickte.

»Die haben einen neuen Pressesprecher«, fügte Babs hinzu. »Er soll gut aussehen und geschieden sein …« Sie lächelte ihr spitzbübisches Lächeln und die Sommersprossen schienen in ihrem Gesicht zu tanzen. Sie beobachtete Lindas Reaktion und stellte erfreut fest, dass ihre Freundin wieder zugänglich für solche Anspielungen war.

»Na dann«, sagte sie, »noch ein Grund, den Termin zu machen!« Und zum ersten Mal seit Tagen umspielte ein Lächeln ihre Lippen.

»Kannst du nach Sarah sehen, falls es spät wird heute Abend?«

»Klar, wie immer.«

Zwei Stunden später verließ Linda Roloff Tübingen und fuhr durch das spätsommerliche Neckartal über Hirschau und Wurmlingen auf den Autobahnzubringer zur A 81 Stuttgart – Singen. Am Rasthof Hegau genehmigte sie sich einen Espresso und freute sich beim Anblick der Hegauvulkane auf den Nachmittag am Bodensee.

Sie dachte nicht, dass sie länger bleiben würde.

Sie ahnte nicht, was sie erwartete.

12

Der Uaso Nyiro, den die Weißen Brauner Fluss nennen, gleicht einer trägen Riesenschlange, die das Land der Samburu in zahlreichen Schleifen und Bögen durchquert, der Weg gesäumt von Dumpalmen und roten Sandbänken, ursprünglich und wild, schroff und schön zugleich. Die Ufer Heimat der großen Grevyzebras, deren enge Streifenzeichnung sie von ihren südlicheren Artgenossen unterscheidet.

Die kleine Herde war auf dem Weg zum Fluss hinunter und trabte zielstrebig über die Akaziensavanne am Farmhaus der Shamba Kifaru vorbei. Die gestreiften Wildpferde mit der aufgestellten Nackenmähne und ihren großen Fledermausohren hatten den heißen Tag im Schatten des Buschlands verbracht, das sich in sanften Hügeln ansteigend bis zum Horizont erstreckt, wo es in den mächtigen Felsbrocken der Sambururange seine Grenzen findet.

Drüben, am jenseitigen Ufer des Uaso Nyiro, waren die Hälse der Netzgiraffen zu entdecken, deren feine Zeichnung sie anmutiger erscheinen lässt als die größeren Massaigiraffen, die in der Serengeti und am Mara leben. Drei Dutzend der prähistorisch anmutenden Langhälse zogen in zwei Linien am Fluss entlang, die einen unten im trockenen Randbereich des Betts, die anderen eine Etage höher in der Böschung, wo grüne Feigen reichlich Nahrung boten. Einige der Tiere näherten sich vorsichtig dem Ufer, spreizten umständlich die Beine und reckten ihre Hälse zum Wasser, um zu trinken. Verzerrt spiegelte sich ihr Bild an der Oberfläche, und der graugrüne Baumstamm, dessen gezackte Rinde aus der braunen Flut ragte, trieb fast regungslos auf die Giraffen zu. Plötzlich war er verschwunden, untergetaucht im trüben Sud. Die Schnauzen der Giraffen erhoben sich, Wasser triefte von ihren Lefzen, da verriet ein leichter Strudel die Gefahr. Mit einem Ruck fuhren die Hälse nach oben, die Beine streckten sich durch und mit zwei raschen Sprüngen, die man den behäbigen Tieren nie zugetraut hätte, begaben sie sich aus der Gefahrenzone.

Das Krokodil schoss aus dem Wasser, schäumende Gischt peitschte ans Ufer und überschwemmte die Stelle, wo die Hufe der Giraffen kleine Löcher im Schlamm hinterlassen hatten. Eine Schar Gelbkehlfrankolins flatterte erschrocken auf, doch der gepanzerte Räuber war zu schnell. Gewaltig packten die zahnbewehrten Kiefer zu, schlossen sich um einen der hühnergroßen Vögel und zogen die Beute, die jetzt nicht mehr war als ein Knäuel aus Federn, Knochen, Fleisch und Blut, in das braune Wasser. Sekunden später war nichts mehr von dem Angreifer zu erkennen, kein Strudel, keine Bewegung auf dem ruhig dahingleitenden Strom. Zögernd kehrten die Frankolins zurück, um erneut ihren Durst zu löschen, nur die Giraffen trauten sich nicht mehr heran.

Ein paar Meter stromabwärts ragte jetzt die gezackte Rinde des graugrünen Baumstamms aus dem Fluss, wie von Zauberhand in der Strömung festgehalten. Das Licht der langsam über den Dumpalmen sinkenden Sonne zauberte Farbenspiele auf Land und Wasser, bronzen leuchteten die kurzhaarigen Felle der Impalas und fast schwarz glänzte die borstige Haut des kapitalen Warzenschweinkeilers, der mit eingeknickten Vorderläufen im morastigen Uferschlamm nach Nahrung suchte.

Die Frau, die auf der Terrasse der Shamba Kifaru die letzten Sonnenstrahlen genoss, setzte das Fernglas ab und blickte zu der Dunstsäule, die das näher kommende Fahrzeug schon von Weitem ankündigte. Ein Besucher um diese Zeit?, dachte sie und sah auf ihre Armbanduhr. Von den Fahrern war keiner mehr mit Touristen auf der Farm unterwegs, die nächsten Neuankömmlinge wurden erst in zwei Tagen erwartet, und Freunde und Nachbarn kamen nur aus ganz besonderen Gründen noch so spät auf die abgelegene Shamba, da es auch in ruhigen Zeiten riskant war, sich hier im Gebiet somalischer Shiftas nachts allein auf den Straßen herumzutreiben.

Auch sie hatten nach Sonnenuntergang Patrouillen laufen, junge Samburus, die sich lieber auf diese Weise ihr Geld verdienten als bei traditionellen Stammestänzen für die Touristen der Lodges im Reservat. Doch sie waren nicht etwa zur Sicherheit der Gäste angeheuert worden, sondern wegen der vierbeinigen dickhäutigen Bewohner der Shamba Kifaru, die hier besonderen Schutz genossen, denn die Farm im Norden war eines der letzten Refugien für Schwarze und Weiße Nashörner in Kenya.

Jede Bewegung der Tiere wurde mittels im Horn versteckter Mikrochips per GPS überwacht und von einem Computer aufgezeichnet. Die Chips wurden, von außen nicht sichtbar, in die Hörner eingepflanzt, und so war es nicht nur möglich, lebende Tiere ständig zu beobachten, sondern auch die Auftraggeber und Hintermänner des internationalen Handels mit gewildertem Nashorn aufzudecken. Jedes Tier, das auf der Farm von Georgia Marsh mit einem Minisender ausgestattet und anschließend ausgewildert wurde, barg ein Risiko für die Wilderer in sich, denn um den Sender zu entfernen und unbrauchbar zu machen, musste das Horn aufgebrochen werden und zerstörtes Horn war für den Handel wertlos.

Auf die stattliche Zahl von 15 Schwarzen und fast 30 Weißen Nashörnern war die Anzahl der Schützlinge von Georgia Marsh inzwischen angewachsen, die in den letzten Jahren erfolgreich ausgewilderten Tiere nicht mitgezählt.

Auf der Nashornfarm waren die Tiere sicher, die wenigen Mitarbeiter Georgias waren zuverlässig und kontrollierten täglich das Gelände. Touristen, die sie auf die Safaris mitnahmen, sorgten für eine sichere Einnahmequelle. Das über 250 Quadratkilometer umfassende Gebiet der Farm war durch einen 5000-Volt-Zaun geschützt und hier im Norden bildete der Uaso Nyiro die natürliche Grenze.

Shamba Kifaru – Moses Kyalo Nderi las die großen weißen Buchstaben, die über der Zufahrt zur Farm auf ein morsches graues Brett gemalt worden waren. Die holprige Fahrt im Nissan hatte über eine Stunde gedauert, die Shamba der weißen Frau lag weitab der üblichen Verbindungsstraßen und war nur über waschbrettartige Holperpisten, meist ehemalige Wanderwege der Samburu, zu erreichen. Vereinzelt grasten die halbwilden Dromedare der Nomaden am Rand der Piste, sonst gab es wenig Abwechslung in der staubigen Steppe.

 

Inmitten einer akazienbestandenen Buschlandschaft fand er am späten Nachmittag das Farmhaus und stieg die breite Treppe hinauf, die über drei Stufen zu der schmalen, schattigen Veranda führte. Die Frau stand auf und trat ihm entgegen. Sie hatte eine feine, leicht gebogene Nase und große blaugrüne Augen. Unter dem Schlapphut quirlten braune Haare hervor, in denen sich erste graue Strähnen zeigten. Der Mund war blass und schmal, die Haut im Gesicht wettergegerbt und von feinen Fältchen durchsetzt. Sie hatte eine zierliche Figur, doch er sah ihren schwieligen Händen an, dass sie harte Arbeit gewohnt war.

Er nahm Haltung an, stellte sich als Constabler der Isiolo Police Station vor und fragte nach Rob Roloff.

»Mister Roloff ist in Mombasa«, sagte sie und fragte: »Darf ich wissen, was Sie von ihm wollen?«

»Sie sind Georgia Marsh, die Mama Kifaru?«, fragte er statt einer Antwort. Die Frau lächelte und nickte. Mutter des Nashorns, so hatten sie die Samburu genannt, als sie vor vielen Jahren, von ihrem Mann verlassen, allein mit zwei Kindern, diese Farm am Uaso Nyiro übernommen und aufgebaut hatte. Inzwischen standen Sohn und Tochter auf eigenen Beinen, Mike arbeitete im Serenahotel in Nairobi, Dianne promovierte gerade in Deutschland und würde als Ärztin nach Kenya zurückkehren. Sie hatte ihr Leben selbst in die Hand genommen, damals – und es nie bereut. Moses Kyalo Nderi riss sie aus ihren Gedanken:

»Mister Roloff hat eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Ein gewisser Alan Scott. Kennen Sie ihn?«

»Alan Scott? Natürlich kenne ich ihn. Er ist einer der besten Freunde, die wir hier auf der Farm haben. Hat uns erst vor wenigen Jahren geholfen, eine Wildererbande zu überführen. Er wollte eigentlich zu einer Freundin nach Deutschland fliegen, ist dort aber nicht angekommen. Wir haben seither nichts von ihm gehört und daher hat ihn Mister Roloff vermisst gemeldet.« Georgia schluckte trocken. Wenn sich ein Constabler der Isiolo Police Station wegen eines vermisst gemeldeten Mannes extra auf den Weg zur Shamba Kifaru machte, konnte das nichts Gutes bedeuten.

»Haben Sie ihn gefunden?«, fragte sie und ihre Stimme zitterte.

»Nun …« – der Constabler zögerte – »wir haben einen Toten, auf den die Beschreibung passt, die uns Mister Roloff von Mister Scott gegeben hat. Außerdem wurde ein Schlüsselbund mit den Buchstaben AS gefunden.« Georgia Marsh schrie auf und hielt sich die Hand vor den Mund. »Nein! Das kann nicht sein!«

Der Polizist schwieg und sah die Frau bekümmert an. Er hatte nur seinen Auftrag zu erfüllen und konnte mit dieser Situation nicht umgehen.

»Haben Sie vielleicht ein Bild dieses Toten?«, fragte Georgia Marsh, nachdem sie sich wieder gefasst hatte.

»Leider nein«, der Constabler schüttelte den Kopf. »Es würde aber auch nichts nützen. Der Leopard hat nicht viel vom Gesicht des Mannes übrig gelassen.«

»Ein Leopard?«, fragte Georgia nach.

Der Polizist nickte. »Offensichtlich ein Menschenfresser. Im Tsavo. Wie vor 100 Jahren die Löwen. Sie wissen …« – seine Stimme klang geheimnisvoll – »man nannte sie den Geist und die Dunkelheit.« Er schien nicht zu spüren, was ihr im Augenblick wirklich Sorgen bereitete. Alan Scott tot. Von einem Leoparden gerissen? Das konnte, das durfte nicht sein!

»Sie wollen, dass Rob ihn identifiziert?«, fragte sie noch einmal nach. Ein stummes Nicken war die Antwort.

»Mein Gott, es kann noch Tage dauern, bis Rob aus Mombasa zurückkommt. Wo befindet sich die Leiche jetzt?«

»In Nairobi«.

»Ich könnte«, überlegte sie laut, »versuchen, Rob unterwegs zu erreichen. Aber das ist mir zu unsicher. Besser ich mach das selbst. Mit zwei Fahrzeugen sollten wir auch in der Nacht sicher sein.«

Diese Äußerung war an den Constabler gerichtet. Er sah sie mit großen Augen an. Natürlich hatte er damit gerechnet, über Nacht auf der Farm bleiben zu können und erst am nächsten Morgen mit dem Zeugen nach Nairobi aufzubrechen. Jetzt sah er sich damit konfrontiert, den langen Weg noch in der Finsternis fahren zu müssen, als Begleiter für eine Frau, die verrückt genug war, ein solches Wagnis einzugehen.

»Es reicht noch, wenn wir morgen fahren«, wandte er daher ein, doch sie überhörte ihn einfach.

»Ruhen Sie sich noch etwas aus, dann fahren wir los. Ich muss am Mittag wieder hier sein«, sagte sie und verschwand im Innern des Hauses.

In der Nacht verließen zwei Fahrzeuge die Shamba Kifaru. Georgia hatte vergeblich versucht, Rob Roloff in Mombasa zu erreichen. Er schien keine Handyverbindung zu haben, und so hinterließ sie ihm eine Notiz in der Küche.

Wie ein Schatten folgte sie dem Nissan des Constablers, achtete darauf, die roten Rücklichter in keiner Kurve aus den Augen zu verlieren. Sie bogen südlich von Buffalo Springs auf die A2 ein, die sie über Isiolo und Nanyuki, am Mount Kenya vorbei nach Karatina und Thika und schließlich nach Nairobi führte.

13

Der Stau auf der B 31 zwischen Hagnau und Immenstaad drohte, ihre komplette Zeitreserve zu verschlingen. Nervös trippelten die Finger ihrer linken Hand auf das Lenkrad des Citroën, während sie mit der Rechten versuchte, einen vernünftigen Radioempfang zu bekommen. Sie ärgerte sich, dass gerade kurz nach halb vier, wo es die Verkehrshinweise gab, ihr Radio wieder zwischen dem DRS, irgendeinem französischen Privatsender, und SWR1 hin und her sprang. Ländlermusik, drei Worte auf Französisch, dann plötzlich der schrille Hinztriller, der die Verkehrsnachrichten beendete. »Wo’s geht, gute Fahrt!«, näselte der Kollege. Dummschwätzer!, dachte Linda genervt. Wo’s nicht geht, brauch ich gute Fahrt, und zwar bald, sonst ist die PK gelaufen!

Kurz hinter Schloss Kirchberg sah sie das Blaulicht am Straßenrand, zehn Minuten später passierte sie die Unfallstelle, ein Auffahrunfall auf der Gegenspur, in den offensichtlich mehrere Fahrzeuge verwickelt waren; dort war der Stau berechtigt. Aber auf ihrer Seite war freie Fahrt möglich. Eigentlich. Stau durch Gaffer, kam es ihr in den Sinn und sie zwang sich, stur auf die Straße zu sehen, die Unfallszene keines Blickes zu würdigen und möglichst zügig vorbeizufahren.

Lastwagen, PKW, PKW, Lastwagen, der Stau auf der Gegenfahrbahn Richtung Hagnau zog sich inzwischen bis nach Fischbach hinein. Sie registrierte die Zufahrt zum Campingplatz, die herbstliche Dekoration des Hotels, ließ die Straße zum Frei- und Seebad rechts liegen und fuhr über die Manzeller Brücke an Windhag und Seemoos vorbei, von wo aus ein schmaler Fußpfad, der ›Königsweg‹, am Bodensee entlang Richtung Schlosskirche führte.

Sie verließ die parallel zum See verlaufende Zeppelinstraße, drückte aufs Gas, um die Grünphase der Ampel noch zu erwischen. Dann kurz Abbremsen wegen des Blitzers. Bei Dunkelgelb schoss sie an der Hochstraße über die Kreuzung und parkte fünf Minuten später auf einem der freien Parkplätze des Finanzamts, das im linken Bauteil des Gebäudes der Polizeidirektion Friedrichshafen untergebracht war.

Die Pressekonferenz hatte gerade begonnen, und sie platzte in die Begrüßung des Pressesprechers, als sie das große Zimmer im zweiten Stock betrat. Der Raum war gut gefüllt, einige Mitarbeiter der SOKO, die man zur Bearbeitung des Falles aus den verschiedenen Bereichen der Polizeidirektion zusammengestellt hatte, saßen an den Tischen und an der Telefonanlage, wo der Funkverkehr abgehört werden konnte. Der Raum war abgedunkelt, die Lamellen der Fenster waren geschlossen und ein Beamer projizierte Bilder auf eine weiße Tafel. Im Türrahmen wurde sie von hinten angerempelt und ein groß gewachsener Kerl mit blauem Jeansanzug, Turnschuhen und Schlägermütze schob sich an ihr vorbei, schlank, fast hager, das Diktiergerät in der Hand.

»Entschuldigung!«, flüsterte er. »Hatte Stau.« Er huschte an ihr vorbei und drängelte durch die Reihe wartender Kameraleute und Fotografen nach vorn.

»Arschloch!«, zischte sie wütend, duckte sich auf einen der hinteren freien Sitze und fluchte innerlich, weil es jetzt zu spät war, ihr Mikrofon am Rednerplatz zu installieren. Mit dem Richtmikrofon konnte sie zwar auch einiges aufnehmen, doch die Qualität mit den Störgeräuschen aus dem Raum entsprach nicht ihrem Anspruch. Sie musste unbedingt versuchen, im Anschluss an die PK ein persönliches Statement von einem der Ermittler zu bekommen. Lindas Blick erfasste die anderen Leute im Raum. Sie erkannte Reporter und Fotografen der beiden großen Tageszeitungen Schwäbische und Südkurier, Vertreter der regionalen Sender und des Lokalfernsehens, Korrespondenten überregionaler Blätter und ein Fernsehteam des SWR.

Gerade hatte der Pressesprecher seine Einleitung beendet – sie hatte noch etwas von einem außergewöhnlichen Fall, bei dessen Aufklärung wir auf die Mithilfe der Bevölkerung angewiesen sind, aufgeschnappt – und das Wort an den Chef der Kriminalinspektion I, einen graumelierten Hauptkommissar in den Fünfzigern, übergeben. Lindas Augen ruhten noch für einen Moment auf dem Pressesprecher. Babs hat recht, dachte sie, sieht wirklich gut aus, doch dann fiel ihr Blick auf einen jung wirkenden Mann, der neben dem Chefermittler stand. Kommissar … spekulierte sie, Mitte vierzig, sportlich, attraktiv, ziemlich gestylt, und – leider – ein Ring an der rechten Hand …!

Der Hauptkommissar wirkte etwas unbeholfen, wie er dort am Rednerpult lehnte, und Linda vermutete, dass er andere Stärken hatte, als vor einer großen Ansammlung neugieriger Presseleute ein Statement abzugeben.

»Die Fakten«, begann er und räusperte sich gleich im ersten Satz, »kennen Sie ja schon. Eine männliche Leiche, sie wurde heute früh kurz vor sieben Uhr von einer Frau entdeckt, die am Fundort mit ihrem Hund spazieren ging. Das Auffällige …«, er verbesserte sich, »das Ungewöhnliche ist, dass man die Leiche auf einem Baum gefunden hat, quer über einen Ast gehängt, und wir können davon ausgehen, dass der Tote nicht von allein dorthin gelangt ist.« Gemurmeltes Lachen folgte dieser Äußerung. Er machte eine bedeutungsvolle Pause und sah an einer jungen Reporterin vorbei, die den Arm für eine Frage gehoben hatte.

»Ich möchte bitte zuerst meine Ausführungen beenden, dann können Sie mir gern Fragen stellen«, sagte er tonlos. Dann fuhr er fort: »Wir haben Spuren gefunden, die darauf hindeuten, dass der Täter – ich nenne ihn bewusst nicht Mörder, dazu komme ich gleich – die Leiche mit Hilfe eines sogenannten Greifzugs in den Baum gehievt hat. Diese Geräte wiegen selbst nur ein paar Kilogramm, man kann mit ihrer Hilfe aber Lasten von bis zu einer halben Tonne Gewicht heben oder absenken. Es gibt Abschürfungen an der Rinde der Kastanie und Löcher in einem der Äste, vermutlich an der Stelle, wo der Greifzug befestigt war, und wir haben Seilfasern im Baum und an einem der Geländer gefunden, die zu dieser Stunde noch genauer analysiert werden.«

Auf der weißen Tafel erschien eine Zeichnung, die einen solchen Greifzug skizzenhaft zeigte.

»Auf diese Weise ist es geradezu ein Kinderspiel, eine Leiche auf einen Baum zu befördern und sie in Ruhe zu fixieren. Außerdem gibt es Fasern von Sackleinen, die darauf hindeuten, dass der Täter die Leiche in einem grauen Sack zum Fundort geschafft hat. All diese Spuren werden zur Zeit von den Kollegen der Kriminalinspektion 4, das ist unsere Kriminaltechnik, untersucht. Sicher ist, dass der Fundort nicht der Tatort war, das heißt, der Mord hat nicht auf oder unter dem Baum stattgefunden. Daher wissen wir auch nicht, ob die Person, die die Leiche dort aufgebahrt hat, dieselbe ist, die den Mann getötet hat.«

Wieder holte er Luft und blickte auf sein Manuskript, hakte mit dem Stift etwas ab und kam zum nächsten Punkt:

»Bei dem Toten handelt es sich um einen 44-jährigen Mann aus Friedrichshafen, er hatte einen Geldbeutel mit Personalausweis und Führerschein bei sich. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir den Namen erst dann bekannt geben, wenn wir seine Angehörigen verständigt haben. Dies erweist sich im Augenblick noch als schwierig, da er offensichtlich nicht verheiratet war und keine Familie mehr hat. Die Kollegen der Sonderkommission ›Kastanie‹ sind dabei, die Nachbarn zu befragen. Ich bitte Sie in diesem Punkt noch um etwas Geduld.«

Der Hauptkommissar blickte den Pressesprecher fragend an und sah zur Uhr.

»Ich werde mich jetzt etwas beeilen und mich auf das beschränken, worin wir Sie, also Ihre Leser und Zuschauer, um Hilfe bitten …« – Typisch, dachte Linda, die Radiohörer lässt er aus, dabei werden die es als Erste erfahren! – »Es geht uns zunächst darum, festzustellen, wie der Täter die Leiche unbemerkt auf den ehemaligen Landungssteg vor dem Schloss schaffen konnte. Die Spuren am Fundort weisen darauf hin, dass der Täter mit einem Boot dort angelegt hat. Es gibt Fußspuren im Gras vor der Schlossmauer von jemandem, der dort etwas Schweres getragen hat. Wir haben Faserspuren am Geländer und eine Anwohnerin aus der Olgastraße, die behauptet, bei Einbruch der Dunkelheit trotz schlechter Sicht ein Boot auf dem See erkannt zu haben. Was wir jetzt brauchen, sind weitere Zeugen: Wer hat ein Boot beobachtet, das am frühen Abend trotz Sturmwarnung allein auf dem See unterwegs war? Vermutlich ein kleines Boot, Ruder- oder Tretboot mit flachem Kiel, damit es überhaupt an der Mauer dort draußen anlegen konnte. Wer hat verdächtige Personen gesehen, die sich gestern Nachmittag irgendwo mit einem Boot zu schaffen machten, es beluden, und irgendwann in der Nacht vielleicht wieder anlegten? Wird ein Boot vermisst und wurde irgendwo ein verlassenes gefunden?«

 

»Sie schließen also aus, dass der Täter mit der Leiche auf anderem Weg zum Tat- ääh – Fundort gelangt ist?«, fragte jetzt doch der Reporter dazwischen, der sich an Linda vorbei nach vorn gedrängt hatte.

»Es gibt keine Spuren, die über den Landweg, also dem einzigen Zugang von der Olgastraße aus, zum Fundort führen. Wir gehen davon aus, dass es dem Täter zu riskant war, dort entdeckt zu werden. Vermutlich hat er sich von Westen her, also aus Richtung Strandbad, dem Landungssteg genähert, hat die Leiche an Land gehievt, dafür gibt es, wie gesagt, Spuren, und sie zum Baum geschafft. Daher sind vor allem Beobachtungen, die sich auf den Uferweg zwischen Schlosskirche und – sagen wir mal – Strandbad beziehen, von größtem Interesse. Und dann müssen wir natürlich den Tatort finden, also den Ort, an dem der Mann umgebracht wurde. Wir warten noch auf das Obduktionsergebnis der Rechtsmedizin in Ulm, aber nach den ersten Erkenntnissen gehen wir davon aus, dass der Tod etwa zwei bis drei Stunden vor der Aufbahrung eingetreten ist. Das heißt, irgendwann gestern Nachmittag muss der Mord geschehen sein. Wir haben abgeschabte Rindenfasern an der Kastanie gefunden, die darauf hindeuten, dass man die Leiche zwischen 19 und 21 Uhr aufgebahrt hat; das deckt sich auch mit der Zeugenaussage der Anwohnerin. Vorher muss die Leiche ins Boot verfrachtet und zum Fundort gebracht worden sein. Wenn der Täter dazu eine bis zwei Stunden gebraucht hat, kann der Tatort selbst also auch nicht allzu weit vom See entfernt sein.«

»Können Sie noch was zur Todesursache sagen?«, fragte jetzt die junge Reporterin, die sich schon einmal vergeblich zu Wort gemeldet hatte.

»Hab ich das noch nicht?«, fragte der Hauptkommissar verwirrt und starrte in sein Manuskript. »Man hat ihm die Kehle durchgeschnitten, und zwar auf äußerst brutale Weise! Nicht mit einem einzigen Schnitt, aber sehr wohl mit einer glatten Klinge. Der Hals ist dabei regelrecht zerfetzt, die Kehle aufgeschlitzt worden. Die Tatwaffe muss ein sehr großes Messer, vielleicht ein Dolch oder ein Kurzschwert, gewesen sein.«

»Vielleicht eine Panga?«, fragte der Hüne, der Linda angerempelt hatte.

»Eine Panga?«, fragte der Kriminalhauptkommissar zurück.

»Eine ostafrikanische Machete aus der Mau-Mau-Bewegung«, erklärte der Reporter.

Der Hauptkommissar zuckte mit den Schultern. »Die Kollegen der K4 werden das herausfinden«, sagte er, irritiert über die ungewöhnliche Zwischenfrage. »Aber wie kommen Sie darauf?«

»Nur so eine Idee«, sagte der Hühne. Es gab noch ein paar unwichtige, aber sehr wichtigtuerische weitere Fragen von anderen Kollegen, dann beendete der Pressesprecher die Konferenz mit einem Dank an alle Anwesenden und der eindringlichen Bitte, eventuell eingehende Hinweise umgehend an die Sonderkommission weiterzuleiten.

Linda stand auf, ging nach vorn und stellte sich in die Reihe derjenigen, die noch persönlich mit dem Leiter der Kriminalinspektion 1 sprechen wollten. Sicher hatte er anderes zu tun, als ihr ein Privatinterview zu geben, nur weil sie zu spät gekommen war und keinen O-Ton mitschneiden konnte, aber einen Versuch war es wert. Der jung wirkende Kommissar, der ihr schon vorher aufgefallen war, trat ihr in den Weg.

»Jens Bosch, stellvertretender Leiter der SOKO ›Kastanie‹«, stellte er sich vor, »vielleicht kann auch ich Ihnen helfen?«

»Ja, sicher, danke.« Sie zögerte. »Könnten Sie den Kern der Ermittlungsergebnisse bitte noch mal für mich zusammenfassen, ich habe leider …«

»Ach, Sie sind die nette Dame, die während der Begrüßung hereingeplatzt ist, nicht wahr?«, fragte er charmant, und um seine Lippen spielte ein sympathisches Lächeln. »Kommen Sie, wir gehen in mein Büro im dritten Stock, da sind wir ungestört.« Das letzte Wort hatte, wie er es aussprach, etwas Betörendes, Erotisches. Ungestört, zu zweit, allein. Linda wunderte sich über ihre Gedanken und nahm sich vor, sachlich zu bleiben.

Nach zehn Minuten hatte sie ihren O-Ton für den Beitrag, sie tauschten ihre Karten und verabschiedeten sich. Er hatte an seinem Schreibtisch ihr gegenüber Platz genommen, keine Spur von Romantik, hatte ausführlich alle Fragen beantwortet, immer wieder das sympathische Lächeln im Gesicht, einmal hatten sich wie zufällig ihre Füße berührt, und beim Abschied hatte er ihre Hand für einen Augenblick zu lang gedrückt.

»Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder«, sagte er noch, dann klingelte sein Handy und Linda hörte aus seinen Worten heraus, dass es seine Frau war, die ihn anrief.

Im Foyer in der Eingangsebene wartete der hagere Drängler auf sie. Zumindest hatte sie diesen Eindruck, denn er lächelte, als er sie kommen sah.

»Mirko Natter«, stellte er sich vor. »Von der Schreibenden Zunft!« Linda konnte sich nicht erinnern, ihn schon einmal auf einer Pressekonferenz oder bei einem Termin gesehen zu haben. Aber sie arbeitete auch zu selten am See. »Ich bin ebenfalls zu spät gekommen, standen Sie auch in dem Stau hinter Hagnau?«

Ja, du Arsch, und ich hatte es mindestens so eilig wie du!, wollte sie schon antworten, aber stattdessen sagte sie: »Ja, und ich bin mir sicher, dass ein Drängler wie Sie diesen Unfall verursacht hat!«

»Bitte entschuldigen Sie, aber ich hab befürchtet, das Wichtigste verpasst zu haben. Ich krieg die Story nur los, wenn ich alle Fakten habe!«

Aha, einer von der Sorte, dachte sie. Arbeitet ohne festen Auftrag eines Senders oder einer Zeitung und versuchte, seine »Story« auf dem bunten Markt der Boulevardblätter zu verkaufen. Meist mit schrillen Fotos und reißerischer Überschrift.

»Und was wollen Sie von mir?«, fragte Linda, als sie die Glastür nach draußen passierten und er sich durch ihre schnellen Trippelschritte nicht abwimmeln ließ.

»Was haben Sie noch rausbekommen? Ich meine, Sie waren doch bei dem gut aussehenden Kommissar?«

Linda blieb abrupt stehen und fauchte ihn an: »Sag mal, tickst du eigentlich noch richtig? Mach gefälligst deine Recherche allein!« Sie erschrak über ihren rüden Ton, doch er schien das zu überhören und griff das ›Du‹, das sie im Eifer benutzt hatte, sofort auf.

»Na, hör mal, man wird doch noch unter Kollegen fragen dürfen!«

»Kollegen? Für wen arbeitest du denn?«

»Mehrere Verlage«, sagte er großspurig.

»Pass auf: Hör dir heute Abend meinen Beitrag an, und jetzt lass mich gefälligst in Ruhe!« Linda ließ ihn stehen und ging zu ihrem Wagen.

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