Leopardenjagd

Text
Author:
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

8

Der Safari-Busfahrer Brian Ndolwa hatte es zunächst für die Mahlzeit des gefleckten Jägers gehalten, denn er wusste, dass der Leopard seine Beute oft auf diesem Baum vor den Löwen und Hyänen versteckte. Doch dann hatte er durch das Fernglas die Kleider erkannt, die hellen Ärmel des Hemds und die Hosenbeine, die leblos links und rechts des mächtigen Akazienastes nach unten baumelten. Mit einem Blick auf die Touristen in seinem Nissanbus hatte er gezögert, näher zu fahren.

Sie waren schon den ganzen Tag im Tsavo-East unterwegs gewesen, auf der Suche nach den von Safarigästen aus aller Welt begehrten Big Five: Nashorn, Löwe, Elefant, Büffel und Leopard. Elefanten hatten sie am Galanafluss gesehen, Büffel und Löwen in der offenen Savanne, die Löwen sogar am frischen Riss. Jetzt, da sich die Dämmerung ankündigte, war es Zeit, zur Voi-Lodge weiterzufahren, wo ein üppiges Menü und eine afrikanische Nacht mit Massaitänzern auf die gut zahlenden Gäste warteten. Am nächsten Tag würde Brian Ndolwa noch eine halbtägige Pirschfahrt mit ihnen machen und sie wieder zurück nach Mombasa bringen, von wo aus sie gestern früh zur Tsavo-Safari gestartet waren.

Keiner im Wagen hatte Brian Ndolwas Entdeckung mitbekommen, und er entschloss sich, am Abend noch einmal allein zurückzukehren, um das zu untersuchen, was der Leopard da auf der Akazie fraß. Nun mussten seine Gäste den Tag beenden, ohne die Big Five gesehen zu haben, aber sie waren schon begeistert genug von den Begegnungen mit ihren ersten Löwen und würden am Wasserloch von Voi höchstwahrscheinlich auf Elefanten stoßen und viele Büffel, die sich die Tränke friedlich mit Zebras teilten.

Eine Stunde später, es war inzwischen rasch dunkel geworden, fraßen sich die Scheinwerfer des Safaribusses durch die Nacht. Sicher wie die Ginsterkatze auf ihrem Jagdzug fand Brian Ndolwa den Weg, er hatte noch kurz im Park-Headquater angerufen und den Rangern von seinem nächtlichen Vorhaben berichtet, allerdings ohne seinen Verdacht zu äußern, dort auf einer Akazie einen menschlichen Leopardenkill entdeckt zu haben. Zu unvorstellbar war ihm dieser Gedanke, und so teilte er den Rangern nur mit, dass einer seiner Gäste einen Teil seiner Kameraausrüstung vermisse und er noch mal hinausfahre, um bei ihrem Picknickplatz nachzusehen. Die Ranger, die Brian seit Jahren als zuverlässigen Fahrer kannten, erteilten ihm die Erlaubnis.

Als er den Bus in der Nähe der Schirmakazie abstellte, bewegten sich die Baumstämme, die von den Autoscheinwerfern erfasst wurden. Ndolwa erkannte sofort, dass sich eine Herde Elefanten unter dem Baum zum Schlafen niedergelassen und dabei den Leoparden sicher aus seinem Versteck vertrieben hatte. Missmutig grollend, machte die Herde nun ihrerseits dem hupenden Ungetüm Platz und zog polternd weiter. Ndolwa wartete, bis die Elefanten nicht mehr zu hören waren, lauschte in die Nacht, schaltete die Taschenlampe ein und stieg aus dem Wagen. Seine Schritte raschelten im hohen Gras, und er fühlte sich nicht sehr wohl, als er zu Fuß auf die Akazie zu schlich. Er hatte keine Waffe bei sich, die Buschpiste war gut 100 Meter entfernt, sein Bus stand versteckt im dichten Dornbusch, eine Rangerpatrouille würde kaum auf die Idee kommen, ihn hier zu suchen.

Es war die Zeit der nächtlichen Jäger, seine Chance, jetzt zu Fuß einem Leoparden zu begegnen oder auf eine lauernde Puffotter zu treten, war nicht einmal so schlecht. Er verdrängte die Gedanken und blieb am Stamm der Akazie stehen. Der Strahl der Taschenlampe wanderte nach oben und erfasste die grausige Szenerie. Das Gesicht des Toten war angefressen, Genick, Schulter, linker Oberarm und Bauch eine unförmige Masse aus Fleisch, Muskelfasern, Blut und Kleidungsresten. Der Leopard hatte kräftig zugelangt, ehe er von den Elefanten vertrieben worden war. Brian Ndolwa wandte sich ab und würgte.

Dabei blieb sein Blick an einem hell schillernden Gegenstand hängen, der vor ihm im Gras lag und den Schein der Taschenlampe reflektierte. Ndolwa bückte sich danach und hob einen kleinen Schlüsselbund auf, der durch einen Metallring zusammengehalten wurde. Er schien dem Toten im Baum aus der Tasche gefallen zu sein. Neben drei Schlüsseln, einer davon schien ein Autoschlüssel zu sein, war an dem Metallring ein kleines Lederoval befestigt, offensichtlich ein Etui für Münzen. Brian Ndolwa öffnete den Druckknopf und tastete mit seinem Zeigefinger ins Innere des schmalen Täschchens. Leer. Dann fuhr der Finger über die raue Lederoberfläche und erfasste eine leichte Unebenheit. Er hielt den Schlüsselring mit dem Lederteil ins Taschenlampenlicht und erkannte das Monogramm: ein großes A und ein im gleichen Stil geprägtes S zierten das schwarze Leder. A. S.

Brian Ndolwa blickte noch einmal ins Geäst der Akazie, ohne den Lampenstrahl seinem Blick folgen zu lassen. Mehrere Namen gingen ihm durch den Kopf, Menschen, die er kannte und deren Vor- und Nachnamen mit den Buchstaben A und S begannen. Wer war dieser A. S., dessen Kadaver hier auf dem Leopardenbaum hing? Hatte der Leopard ihn gerissen? Wie sonst sollte er auf die Akazie gekommen sein?

Hätte Brian Ndolwa in dieser Nacht noch einmal nach oben geleuchtet, hätten seine scharfen Augen vielleicht die Spuren entdeckt, die der Handseilzug am Stamm über dem Toten hinterlassen hatte. Die Ranger, die er eine halbe Stunde später von seinem Fund unterrichtete, informierten die nächste Polizeistation in Voi. Zwei Polizisten bargen die Überreste des Toten am frühen Morgen, bevor der Nationalpark seine Tore für die Besucher öffnete, ohne im Baum nach den Spuren eines Mordes zu suchen. Stattdessen widmeten sie ihre ganze Aufmerksamkeit der Fährte eines menschenfressenden Leoparden, die von der Akazie in Richtung der Felsgruppe führte, die im Norden lag.

Brian Ndolwa war kurz nach der Morgendämmerung schon wieder mit seinen Gästen auf Pirschfahrt. Er vermied es, noch einmal in diesen Teil des Tsavo zu kommen. Den Schlüsselring und das Lederteil mit der rätselhaften Prägung hatte er noch in der Nacht bei den Rangern abgegeben. Er konnte nicht ahnen, dass in Nairobi eine Vermisstenanzeige vorlag, zu der die Initialen A und S passten.

9

Freitag, 25. August 2006, Tübingen

»Machst du eigentlich noch was anderes außer arbeiten?«, fragte Babs Wagner, als sie morgens um acht Uhr in die Redaktion kam und Linda Roloff schon am PC einen Beitrag abhörte. »Oder bist du für den Frühdienst eingesprungen?«

Linda Roloff, der man die Ende 30 nicht ansah, schien ihre Kollegin nicht bemerkt zu haben. Ihre braunen Augen, von denen einige ihrer Freunde behaupteten, sie seien ebenso schwarz wie ihre Haare, starrten auf den matten Bildschirm des Computers, die kleinen runden Kopfhörermuscheln klebten auf ihren Ohren und schotteten sie ab von den Geräuschen der realen Welt. Babs beobachtete die blauen Balken der Anzeige, die Kurven und Amplituden der aufgenommenen Töne, die auf dem Bildschirm von rechts nach links liefen, zwischendurch, wenn Linda einen Schnitt setzte, stehen blieben, dann weiter scrollten, bis schließlich das Ende des Beitrags erreicht war. Sie sah zu, wie Linda den fertig geschnittenen O-Ton abspeicherte, mit einem Löschschutz versah und schließlich die Kopfhörer in den Nacken schob, wo das schwarze Kabel wie eine weite Kette um ihren Hals hing.

Jetzt endlich sah sie auf und bemerkte Babs, die mit müdem Blick den Schreibtisch gegenüber betrachtete und mit einem lauten Seufzer das Chaos aus Papierstapeln, CDs, Dat-Kassetten und Notizzetteln begrüßte, das über Nacht wieder einmal von keinem Heinzelmännchen geordnet worden war. Montagmorgen und die Woche nimmt kein Ende – der Spruch klebte am unteren Ende ihres PCs und spiegelte die Stimmung wider, mit der Babs morgens um diese Zeit ihr Arbeitszimmer betrat, auch wenn heute schon Freitag war. Es war wieder spät geworden gestern Abend, nachdem sie mit zwei anderen Kolleginnen im Sudhaus beim Konzert von Kick La Luna gewesen war. Linda hatte keine Lust gehabt, mitzugehen.

»Hey, Babs, hab’ dich gar nicht reinkommen sehen«, sagte Linda tonlos, streifte ihre Kollegin nur mit einem flüchtigen Blick, wandte sich wieder der Anzeige auf dem Monitor zu und griff die Kopfhörermuscheln, um sie erneut über die Ohren zu stülpen.

»Warte mal!«, sagte Babs jetzt laut und griff nach Lindas Handgelenk, um das Aufsetzen der Kopfhörer zu verhindern.

»Ich muss den Beitrag fertig machen, er soll um halb zehn in den News laufen!«, zischte Linda und entwand sich ihrem Griff.

»Okay, dann eben danach«, meinte Babs und nahm an ihrem Schreibtisch Platz. »Ich möchte doch nur fünf Minuten mit dir reden. Findest du nicht auch, dass das für zwei gute Freundinnen drin sein müsste?«

Linda, die die Kopfhörer noch nicht aufgesetzt hatte, hielt in ihrer Bewegung inne und holte laut hörbar Luft.

»Hattest du noch nie das Gefühl, nein, den Wunsch, einfach mal allein sein zu wollen, für dich, ganz allein, ohne die …«, sie zögerte, »… Fürsorge anderer? Lass mich einfach in Ruhe!«

Das klang schroff, ziemlich schroff sogar, und wenn sie sich nicht so lange gekannt hätten und Babs Linda zu ihren besten Freundinnen zählte, wäre sie einfach aufgestanden und aus dem Raum gegangen, hätte sich einen Kaffee geholt und für den Rest des Tages schweigend weitergearbeitet. Seit Linda aus Südafrika zurückgekehrt war, hatte sie sich zurückgezogen, abgeschottet, ihren Liebeskummer in sich hineingefressen. Doch wie hatte Clemens, Babs neuer Freund, zu ihr gesagt: So wie die sich abschottet, braucht sie gerade jetzt jemanden, der ihr zuhört. Lass nicht locker, warte den passenden Moment ab und bring sie zum Reden!

»Nein, das werde ich nicht tun!«, sagte Babs deshalb und fixierte Linda, die ihrem Blick jedoch auswich. »Glaubst du vielleicht, es macht Spaß zuzusehen, wie du dich kaputtmachst? Wie du dich in deiner Arbeit vergräbst und alles in dich hineinfrisst? Meinst du wirklich, es wird besser, wenn du mit niemandem darüber redest? Linda, bitte! Wir haben bisher noch immer alles in den Griff bekommen! Weißt du noch, was du nach der Scheidung von Rob zu mir gesagt hast? Ohne dich hätte ich das alles nicht geschafft! Und jetzt? Jetzt willst du allein stark sein, und ich soll zusehen, wie du dabei krepierst? Ich mach dir jetzt einen Vorschlag, und das Angebot wird nicht wiederholt. Ich warte um halb elf auf dich im Bistro am Neckar. Ich hab heut keinen Termin und nehme mir die Zeit, weil du es mir wert bist. Wenn du keinen Bock hast, okay, aber komm dann nicht in ein paar Tagen zu mir, um dich auszuheulen! Ich hab jetzt lang genug zugesehen. Und tschüss!«

 

Babs stand auf und eilte nach draußen. Ihr Monolog hatte seine Wirkung nicht verfehlt und im Augenwinkel hatte sie bemerkt, dass Lindas Augen feucht schimmerten. Sie musste am Ende sein. Es war Zeit, dass sie aus dem Loch kroch, in das sie gefallen war.

Babs lief auf dem langen Korridor vor den Redaktionsbüros Ingo Dossenberg über den Weg. Er war neu im Team, älteres Semester, aber sportliche Figur, auf jugendlich getrimmt, groß gewachsen. Keiner wusste so richtig, was er vorher gemacht hatte, aber seine Stimme am Mikrofon klang sonor, seine Beiträge waren professionell, seine Recherchen exakt. In dieser Woche war er CvD, Chef vom Dienst.

»Ich habe einen Termin für dich«, sagte er, als sie dem Ausgang zustrebte. »Oder soll ich Linda fragen?«

»Nein«, sagte Babs. »Wann ist es?«

»Heute Mittag um vier. Eine PK in Friedrichshafen. Die sind am See grade knapp mit Reportern, wegen Interboot und Krankheitsfällen. Könntest du hin?«

»Um vier?« Das war zu schaffen. Eine Pressekonferenz dauerte nicht zu lange, sie würde um 20 Uhr wieder zurück sein. »Worum geht’s denn?«

»Ein Toter, direkt am See, hing auf dem Ast einer Kastanie. Komische Sache. Sie sprechen schon von einer Baumleiche. Bei der PK soll Näheres bekannt gegeben werden. Machst du’s?«, fragte Ingo Dossenberg.

Babs nickte.

10

Der zweite Brief

Hallo Linda,

Rache, richtig. Ich bin mir sicher, dass Sie es ohne fremde Hilfe herausgefunden haben: Ihr Genuss ist Mord und ihre Sättigung das Grausen. Und ihre Zahl ist die 6, möchte ich noch anfügen.

Der Rächer hat sein Werk bereits begonnen, das darf ich Ihnen verraten, Verehrteste. Und es wird nicht mehr lange dauern, bis auch Sie davon profitieren werden. Rein beruflich natürlich. Sie werden darüber berichten, und es wird Kohle dafür geben. Schlagen Sie sie nicht aus! Und berichten Sie detailgetreu.

Übrigens – haben Sie schon begonnen, die Wahrheit zu suchen?

Es ist die einzige Möglichkeit, Ihr Leben zu retten.

Hochachtungsvoll

Chui

11

Der Herbst lag schon spürbar in der Luft an diesem Vormittag, auch wenn sich die Sonne immer wieder einen Weg durch die Wolkenlücken bahnte und ihre Strahlen wie gleißende Sterne auf der grünblauen Oberfläche des Neckars hüpften. Wie schwimmende Farbtupfer trieben die ersten Blätter flussabwärts, dem Stauwehr entgegen, vor dem sich das Wasser in einem spiegelnden See sammelte und jede Fließbewegung zum Stillstand zu kommen schien.

Viel zu früh, jetzt, Ende August, sinnierte Babs Wagner und sah den Stockenten zu, die im Flachwasser vor der Platanenallee nach Nahrung suchten. Vom Erkerfenster des Cafés im Haus neben der Eberhardsbrücke blickte sie über den schmalen Flussarm, auf dem sich an lauen Sommerabenden Touristen und Studenten in den langen Holzkähnen stromaufwärts entlang der alten Stadtmauer bis unter die Türme des Schlosses Hohentübingen stochern ließen.

Lange her, dachte Babs, zuletzt hatte sie zusammen mit Linda einen solchen Stocherkahnausflug gemacht. Lindas kleine Tochter Sarah war damals dabei gewesen, ein Mädchen im Vorschulalter, und sie hatten großen Spaß gehabt, im Bug des Stocherkahns zu grillen, während sie ihr Exfreund Steffen, der selbst einer Studentenverbindung angehört und so das Stochern gelernt hatte, mit gezielten Stößen der fünf Meter langen Stange langsam um die Platanenallee herumgesteuert hatte. Über den zweiten, schmäleren Flussarm waren sie wieder zum Liegeplatz zurückgekehrt, hatten noch ein Eis gegessen und den herrlichen Abend genossen.

Einiges war passiert in dieser Zeit; Babs hatte sich von Steffen, dem überarbeiteten Rechtsanwalt, getrennt, der kaum einmal einen Abend freihatte und ständig in Gedanken bei seinen Mandanten war. Sie hatte herausbekommen, dass eine Frau, seine neue Kanzleipartnerin, dahintersteckte und einen Schlussstrich gezogen. Doch im Gegenteil zu Linda, die noch immer ihrer großen Liebe Alan Scott hinterhertrauerte, hatte sie schon nach wenigen Tagen wieder eine neue Beziehung begonnen.

Babs hatte auf Lindas Liaison mit Alan in Afrika nie besonders viel gegeben, es war für sie, die Realistin, nicht mehr als eine Urlaubsbekanntschaft, eine Liebelei, die sich im Grau des Alltags wieder verlor und die man zu Hause im gewohnten Trott rasch vergaß. Doch Linda Roloff hatte Alan Scott offensichtlich nie vergessen. Auch wenn meist Monate zwischen ihren Wiedersehen lagen und sich Alan nie für eine Zukunft in Deutschland entscheiden konnte.

Vor ein paar Jahren hatte Linda ihn kennengelernt, ein zärtliches Raubein, hatte sie später geschwärmt. Er hatte ihr geholfen, ihren verschollenen Exmann in Afrika wiederzufinden und war auch für ein paar Tage in Deutschland aufgetaucht. Aber so schnell er gekommen war, war er auch wieder verschwunden.

Ein Jahr später hatten sie sich wiedergetroffen, als Linda bei der Recherche in einem Mordfall abermals seine Hilfe brauchte. Linda war danach allein nach Deutschland zurückgekehrt, in der festen Überzeugung, in Alan Scott ihre große Liebe gefunden zu haben. Doch sein Versprechen, sie in Deutschland zu besuchen, hatte er nie eingelöst. Und jetzt das endgültige Aus?

Babs wusste es nicht genau, Linda hatte ja nicht darüber sprechen wollen. Nur soviel war ihr klar: Sie hatte auf ihn gewartet, und er war nicht gekommen. Ohne etwas von sich hören zu lassen. Dabei war Linda so voll Zuversicht gewesen. Alan kommt nach Deutschland, hatte sie gesagt. Linda hatte Pläne geschmiedet, Pläne für eine gemeinsame Zukunft, hatte sogar begonnen, sich nach einem Job für ihn umzusehen. Doch als sie ihn am Flughafen abholen wollte, war er nicht unter den Passagieren gewesen. Und schlimmer noch: Er hatte nicht einmal eine Nachricht für sie hinterlassen, kein Anruf, keine SMS. Blieb verschwunden, bis zum heutigen Tag.

Babs war anders als Linda. Konsequenter auf alle Fälle, dachte sie. Sie hätte, schon als er damals nicht nach Deutschland gekommen war, einfach Schluss gemacht und sich erneut auf dem Markt umgesehen. Schließlich wusste sie aus eigener Erfahrung, dass es funktionierte: Clemens Edel war aufgetaucht, einfach so, wie gerufen, in ihr Leben getreten. Sie hatte sich in ihn verliebt, vor wenigen Wochen erst. Und auf einmal war das Leben wieder schön geworden.

»Und was ist mit Steffen?«, war die typische Reaktion von Linda gewesen, als ihr Babs nach ihrer Rückkehr aus Südafrika von Clemens erzählt hatte. Immerhin war sie über fünf Jahre mit Steffen zusammen gewesen, und Linda hatte eigentlich eher mit einer Hochzeit als mit einer Trennung gerechnet.

»Er ist jetzt mit seiner Kanzleipartnerin zusammen!«, hatte Babs ihr kurz angebunden eröffnet, das habe sich schon eine ganze Zeit lang angebahnt.

»Aber du hast mir nie etwas davon erzählt«, hatte sich Linda empört. »Im Gegenteil, du hattest Steffen sogar noch gebeten, mir bei meinen Problemen in Südafrika zu helfen!«

»Und? – Hat er es nicht getan?«

»Doch! Sogar so professionell, dass seine Recherche dazu beigetragen hat, den Fall letzten Endes zu lösen! Ich hatte ja keine Ahnung, dass er …«

»Du hast dich ja auch zu der Zeit für nichts anderes interessiert als für deinen Alan Scott und diesen mysteriösen Mord am Märchensee«, hatte Babs vorwurfsvoll zurückgegeben. Linda hatte es dabei belassen und Babs zu ihrem neuen Lover gratuliert. Clemens war ein netter Kerl, das würde auch Linda zugeben müssen, wenn sie Babs erst einmal einander vorgestellt hätte. Er war fast zehn Jahre älter als sie und lebte von Gelegenheitsjobs. Mal fuhr er für einen Pizzaservice, mal arbeitete er in einem der zahlreichen Antiquariate in der Stadt.

Dort hatte Babs ihn auch kennengelernt, als sie nach einem originellen Geburtstagsgeschenk für ihre Schwägerin suchte, die alte Märchenbücher sammelte. Clemens Edel hatte sie super beraten und sich als ein sehr charmanter Verkäufer erwiesen. Unaufdringlich hatte er sie nach ihrem Namen gefragt und ob er sie denn mal auf einen Cappuccino einladen dürfe, und Babs hatte sich seine Handynummer geben lassen. Zweimal hatten sie sich in der Mittagspause auf dem Tübinger Marktplatz getroffen und Babs hatte festgestellt, dass sie sich seinem Charme einfach nicht entziehen konnte. Steffen und seine Tussi waren vergessen.

Dies gelang Linda nicht. Für sie war nach Scotts Fernbleiben eine Welt zusammengebrochen. Alle Freude, alle Lebenslust schienen aus ihr gewichen zu sein. Sie stürzte sich in Arbeit, Tag und Nacht, nur um nicht an Alan Scott denken zu müssen. Kein Lebenszeichen, war Lindas einziger Kommentar, wenn Babs sie darauf ansprach. Kein Lebenszeichen – was immer das zu bedeuten hatte. Sie musste mit ihr darüber sprechen, heute und hier.

Babs sah zur Uhr. Kurz nach halb elf. Sonst war Linda immer pünktlich. Sie sah zum Fenster hinaus. Neckar, Platanen, Hölderlinturm. Ein paar Zeilen aus einem Gedicht des Romantikers, der 36 Jahre bis zu seinem Tod psychisch krank in einem Zimmer in dem gelb getünchten Turm verbracht hatte, fielen ihr ein:

Froh kehrt der Schiffer heim an den stillen Strom,

Von Inseln fernher, wenn er geerntet hat;

So kam auch ich zur Heimat, hätt ich

Güter so viele, wie Leid, geerntet.

Plötzlich war Linda da. Kam direkt auf sie zu und nahm ohne Worte an ihrem Tisch Platz.

»Wartest du schon lange?«, fragte sie, nachdem sie eine Latte macchiato bestellt hatte.

»Zehn Minuten«, entgegnete Babs und rührte ihren Cappuccino um. Sie überlegte, ob sie gleich mit der Tür ins Haus fallen oder erst mal abwarten sollte. Wer eröffnet das Spiel? Offen oder verdeckt? Selten hatte sie sich so unsicher gefühlt. Was ist eigentlich mit dir los? Schon wollte sie fragen, doch stattdessen schluckte sie nur trocken. Sie kannte ja die Ursache für Lindas schlechte Laune. Wie begegnete man Liebeskummer am besten? Verdammt!, schoss es ihr durch den Kopf, jetzt sitzt sie dir gegenüber und du weißt nicht, was du sagen sollst! Warum war das Leben manchmal nur so kompliziert?

»Ich muss wohl ziemlich unausstehlich sein in letzter Zeit«, Linda spielte ihr den Ball offen zu. »Sorry, ich hab mich einfach schlecht im Griff«, schob sie gleich noch eine Entschuldigung nach. Babs hatte sofort eine Antwort auf der Zunge und spuckte sie aus, ohne lange zu überlegen:

»Unausstehlich ist noch gelinde ausgedrückt«, unterstrich sie und erschrak über den harten Klang ihrer Stimme. »Du bist zur Zeit ein echter Kotzbrocken!«, hörte sie sich sagen und wäre sich am liebsten im selben Moment über den Mund gefahren; doch jetzt war es heraus.

»Tut mir leid«, sagte Linda und legte ihre Hand auf Babs Unterarm. »Ich komm einfach nicht damit klar, dass er so überhaupt nichts von sich hören lässt.«

Er, dachte Babs, sie nennt schon nicht mal mehr seinen Namen!

»Aber das ist doch kein Grund, alle Welt dafür verantwortlich zu machen«, sagte sie, »ich hätte dir so gern geholfen in den letzten Tagen, aber du hast ja keinen Menschen an dich herangelassen.«

»Ich wollte eben allein sein«, entschuldigte sich Linda. »Es tut so weh, weißt du …«

Babs nickte. »Ich versteh dich doch, das ist es ja gerade. Und ich hätte dich so gern getröstet. Aber du hast immer nur gearbeitet und dich abgeschottet. Hast du denn inzwischen mal etwas von ihm gehört?«

Linda schüttelte den Kopf. »Er meldet sich nach wie vor nicht. Das hat mich zuerst traurig gemacht, dann wütend, und manchmal weiß ich überhaupt nicht, was ich tun soll.«

Babs sagte nichts, denn sie spürte, dass ihre Freundin noch einiges loszuwerden hatte.

»Als er nicht kam, vorletzten Sonntag mit der Maschine aus Kenya, du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich da gefühlt habe. Er hatte es mir doch so versprochen! Er hatte mir die Flugdaten durchgegeben, und wir hatten verabredet, dass ich ihn in Stuttgart abholen sollte. Als er nicht in der Maschine war, hab ich mich ins Auto gesetzt und geflennt wie ein fünfjähriges Mädchen, das nicht auf den Spielplatz darf.«

 

»Und dann hast du die Blumen weggeworfen, die du für ihn gekauft hattest.«

»Woher weißt du?«

»Ich war am Sonntagabend noch am Märchensee spazieren. Da trieben rote Rosen auf den Wasserlinsen am Ufer, und ich wusste, dass du öfters am Märchensee warst, wegen der Geschichte mit Marius Steyn.«

Linda nickte. Marius Steyn; man hatte die Leiche des alten Richters im Märchensee bei Wendelsheim gefunden, wenige Wochen erst war das her; zum selben Zeitpunkt war Alans Hilferuf aus Südafrika gekommen. Sie hatten ihn für schuldig am Tod eines Mannes gehalten, und Linda war, ohne viel zu zögern, nach Johannesburg gereist, um ihm aus der Patsche zu helfen.

»Hast du denn irgendetwas herausgefunden, weshalb er nicht in der Maschine war?«, fragte Babs jetzt, doch Linda verneinte.

»Ich habe alles versucht, was von hier aus möglich ist«, sagte sie. »Ich bekomme nur die Meldung, dass seine Nummer nicht zu erreichen ist, wenn ich ihn auf seinem Handy anrufe; meine SMS bleiben unbeantwortet. Das hat aber nichts zu bedeuten, in vielen Gegenden Kenyas gibt es kein Netz, und wer weiß, wo er sich herumgetrieben hat.«

»Und was ist mit der Farm, auf der er arbeitet?«

»Auf Simba King ist er gewesen, wie verabredet. Er hat seine Klamotten gewechselt, hat dort Bescheid gesagt, dass er für unbestimmte Zeit nach Deutschland wollte und ist dann mit seinem Landcruiser über Nairobi zurück nach Mombasa gefahren, um dort noch einiges zu regeln. Dort liegt ja noch immer sein Boot, und er hat seine Wohnung an der Südküste.«

»Dort, wo du ihn damals kennengelernt hast?«

Linda nickte. »Er hat ein paar Leute, die den Laden dort für ihn schmeißen, mit den Touristen zum Hochseeangeln fahren und die Surfbretter vermieten. Aber die wissen auch nicht, wo er stecken könnte.«

»Weißt du das sicher?«

»Ja. Ich habe Rob gebeten, sich dort mal umzusehen.«

»Du hast deinen Ex angerufen?«

»Ja, warum denn nicht? Er lebt ja noch immer mit Georgia Marsh zusammen, auf der Shamba Kifaru bei Isiolo, wenn er nicht gerade im Ruwenzori nach Gorillas sucht. Rob war vor ein paar Tagen geschäftlich in Ukunda, südlich von Mombasa, und hat sich in dem Hotel umgesehen, für das Alan arbeitet. Seine Hütte war abgeschlossen, der Landcruiser fehlte. Er ist wie vom Erdboden verschluckt, seit er die Simba King Lodge verlassen hat. Ich kann dir sagen, dass mich das ziemlich beunruhigt. Rob hat ihn jetzt offiziell als vermisst gemeldet.«

Babs holte Luft. Es war also mehr als nur Liebeskummer! Linda machte sich ernsthaft Sorgen um Alan Scott.

»Glaubst du denn, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte?«, fragte Babs vorsichtig.

Statt einer Antwort rann eine Träne über Lindas Wange.

»Ich sitze hier wie auf Kohlen. Ich weiß nicht, wie ich auf andere Gedanken kommen soll.«

»Hast du dich deshalb aus der Redaktionsschicht und aus dem Moderationsplan rausnehmen lassen, damit du jederzeit weg kannst?«

Linda nickte.

»Okay, das erklärt manches. Jetzt weiß ich, weshalb du nur Kurzbeiträge und Umfragen gemacht hast, und trotzdem Tag und Nacht im Sender warst.«

Linda bemühte sich nicht weiter, ihre Tränen zurückzuhalten. »In Südafrika war alles so … so schön. Wir waren so glücklich. Ich versteh das alles nicht.«

»Du solltest nicht gleich das Schlimmste denken«, sagte Babs, »du musst dich ablenken.«

Linda nickte. »Was glaubst du, warum ich mich so in die Arbeit stürze? Daheim fällt mir nur die Decke auf den Kopf.«

»Und warum kommst du nicht wie früher einfach auf ein Glas zu mir?«

»Ich hatte, ehrlich gesagt, einfach keine Lust auf Frauengespräche, weißt du. Da würde sich doch auch wieder alles um Männer drehen.«

»Kann schon sein. Apropos: Du hast Clemens ja immer noch nicht kennengelernt!«

»Deinen Neuen?« Linda zögerte. »Stimmt. Soll ja ziemlich gut aussehen.«

Babs konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Wer hat dir das denn erzählt? Der übliche Flurfunk wahrscheinlich. Aber lassen wir das. Was ist jetzt mit dir? Wie soll das denn weitergehen?«

Linda seufzte.

»Ich hätte große Lust, nach Afrika zu fliegen und nach ihm zu suchen, aber Rob meinte, dass das nichts bringt. Ich könnte dort auch nicht mehr ausrichten als er.«

»Ich bin jetzt erst mal froh, dass wir miteinander gesprochen haben«, meinte Babs.

»Du hattest recht. Dieses Abschotten hat nichts gebracht. Es hat gut getan, alles mal loszuwerden. Jetzt weißt du Bescheid. Und ich muss versuchen, wieder in ein normales Leben zurückzufinden – was machen wir heute Abend?«, fragte Linda gespielt unternehmungslustig.

»Ach, heute Abend ist ziemlich schlecht«, warf Babs ein, »Clemens ist seit zwei Tagen für die Bücherschau in Karlsruhe unterwegs und will heute Abend zurückkommen. Und heute Nachmittag hab ich noch einen Termin am See.«

»Du fährst an den Bodensee?«, fragte Linda interessiert. »Wie kommt’s?«

»’ne PK. Der Dossenberg hat mich gefragt.«

»Unser neuer Redakteur?«

»Genau. Ist eigentlich ganz nett. Ich hatte noch nicht viel mit ihm zu tun. Und du?«

»Auch nicht. Ist mir außerdem ’ne Nummer zu groß.« Linda spielte auf die 1,92 Meter an, die Dossenberg dazu zwangen, vor jeder Tür im Sender den Kopf einzuziehen. »Und wieso an den See?«

»Wegen dieser Baumleiche.«

»Baumleiche?«

»Ja. Hast du heute noch keine Nachrichten gehört?«

»Nein. Keine Zeit gehabt.«

»Man hat in Friedrichshafen einen Toten gefunden, ziemlich dubios, die Leiche lag auf einem Baum. Kein Mensch weiß, wie sie da hinaufgekommen ist, entweder ist der Tote da hinaufgeklettert, oder der Mörder war ein Affe!« Babs lachte über ihren Witz, doch Linda blieb ernst. »Wie bei ›Mord in der Rue Morgue‹ von Edgar Allan Poe!«, sagte Babs noch und bemerkte erst jetzt Lindas nachdenklichen Gesichtsausdruck.

»Seltsam …« Ihre Stimme war zu einem Flüstern abgesenkt und ihr Blick ging hinaus zu den Platanen, deren Astwerk schon Blätter verlor. »Eine Leiche auf einem Baum.« Sie stellte sich den gekrümmten Körper eines Toten vor, wie er dort in der Krone einer Platane hing, drei Meter über dem Boden, von unsichtbaren Flügeln dorthin getragen …

»Linda, hast du was?« Babs’ Frage holte sie in die Realität zurück.

»Ja?«

»Du hast eben so komisch reagiert. Ist was?«

»Nein, nichts«, entgegnete sie. »Mir fiel nur gerade ein, dass mir Rob heute Morgen am Telefon was erzählt hat, von einem Toten im Tsavo. Der lag auch auf einem Baum. Vermutlich hat ihn ein Leopard …«, sie brach ab.

»Könnte denn ein Leopard einen Menschen auf einen Baum schleppen?«

»Oh ja. Leoparden machen das immer. Beute, die oft schwerer ist als sie selbst.«

»Wann hat man die Leiche gefunden?«

»Heute Nacht. Rob wusste nichts Näheres. Er hat im Radio davon gehört.«

»Und der Tote? Was weiß man über ihn?«

»Rob sagte, man hat ihn noch nicht identifiziert. Ein Weißer, hatte keine Papiere bei sich. Lag wohl auch schon ein paar Tage im Baum.«

»Und der Leopard? Hatte er ihn schon …« Babs beendete den Satz nicht, zu grausam kam ihr der Gedanke vor.

»Du meinst, ob er ihn schon angefressen hatte? Offensichtlich schon. Die Geschichte wird jetzt Tagesgespräch in den Touristenhotels sein, und jeder wird noch ein bisschen was dazudichten. Die Menschen sind schnell dabei, aus einem Raubtier einen Menschenfresser zu machen. Das hat’s in Kenya schon lange nicht mehr gegeben. Doch die ›Maneater von Tsavo‹ sind immer noch Legende.«