Leopardenjagd

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4



Der kühle Wind trieb die grauen Wolkentürme von Westen her über die Berge und ließ die glühende Hitze des Tages allmählich verglimmen. Die Leopardin lag, dicht an den breiten Ast geschmiegt, regungslos in der Krone der Akazie, gut getarnt durch das schützende Blattwerk, dessen spärliche Lücken die letzten Sonnenkringel auf den Rosetten ihres Fells tanzen ließen. Das hechelnde Maul geöffnet, blitzten die Reißzähne der Katze weiß zwischen den schwarzen Lefzen, nur ein seltenes Blinzeln der Augen und das leichte Zucken des Schwanzes verrieten Leben in der sonst regungslos Lauernden. Die Jägerin war mit all ihren Sinnen hellwach, die gelben Augen erfassten jedes Detail ihrer Umgebung, die großen, behaarten Ohrmuscheln fingen, einem Radar gleich, jedes noch so leise Geräusch ein, ihre Nase hatte die Witterung der Grasfresser aufgenommen, die ihr der Abendwind aus der weiten Savanne zutrug. Nicht ahnend, welche Gefahr sich im dichten Blattwerk der Akazienkrone verbarg, näherten sich die Antilopen arglos der kleinen Baumgruppe, um sich in ihrem Schutz zur Nachtruhe zu versammeln. Die Sonne verlor in diesen Minuten den Kampf gegen die Wolken über dem Höhenzug, ein Zittern ging durch den Körper der Leopardin. Die Zeit der Jagd war gekommen.



Die Jungen in ihrem Bauch rumorten, und sie spürte, dass es ihre letzte Jagd sein würde, ehe die Kleinen zur Welt kamen. Der Hunger nagte in ihr, das letzte Opfer war nur ein Frankolin gewesen, mehr Federn und Knochen als Fleisch, ihre große Beute, ein Grantgazellenbock, war ihr nach zähem Kampf von einem Löwenrudel abspenstig gemacht worden, noch ehe sie ihr Baumversteck erreicht hatte.



Langsam löste sich der Schatten aus der Baumsilhouette und glitt geräuschlos zu Boden. Die Schwarzfersenantilopen hatten sich wieder in Bewegung gesetzt, nachdem der Bock witternd stehen geblieben war, um mit einem Flehmen seiner Oberlippe all die Gerüche aufzunehmen, die der dichte Busch um das Rudel herum barg. Doch außer den Pavianen, die unter einem Feigenbaum nach Früchten suchten, nahm er keine Lebewesen wahr. Der Westwind kam günstig für die gefleckte Jägerin, Meter um Meter schlich sie näher, verharrte schließlich geduckt im Gras, lauernd, jede Muskelfaser angespannt, die Schulterblätter als höchste Erhebung des geschmeidigen Körpers, den Kopf nach vorn gestreckt, bereit zum tödlichen Sprung auf jenes Impala, das am Rand der kleinen Herde stand und durch ein leichtes Hinken eines Vorderlaufs ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Ihre gelben Augen fixierten ihr Opfer, keine andere Bewegung im Busch vermochte sie jetzt noch davon abzulenken.



Ein gellendes Aufkreischen machte alles zunichte. Der Warnruf aus der Pavianhorde ließ das Impalarudel in wilder Panik davonstieben, selbst das verletzte Böckchen schaffte es, mit den anderen Schritt zu halten. Die Leopardin fuhr herum und sah sich einem ausgewachsenen Pavianmännchen gegenüber, einem der wenigen Tiere außer Löwen und Hyänen, vor denen sie sich in Acht nehmen musste. Zumindest war der Pavian tagsüber als Gegner nicht zu unterschätzen, mit seinen dolchartigen Eckzähnen konnte er der Leopardin gefährliche Bisswunden beibringen, sie waren eindrucksvolle Waffen, und die Katze wusste, dass mit einem erregten Pavian nicht zu spaßen war. Aufgerichtet stand der Patriarch auf seinen Hinterbeinen, ließ sich geifernd nach vorn fallen und drang auf den Leoparden ein. Mit einer Kakofonie durchdringender Schreie liefen die anderen Paviane in alle Richtungen auseinander, Mütter retteten sich mit ihren Kindern auf die nahen Akazien, die älteren Männchen blieben aufmerksam zurück, um ihrem Patriarchen zur Hilfe zu eilen, falls er es nicht allein mit dem gefleckten Feind aufnehmen konnte. Doch die Leopardin hatte wenig Lust, sich dem Pavian zu stellen, dessen Kreischen inzwischen in ein grelles Bellen übergegangen war. Die hundeähnliche Schnauze gekräuselt, fixierte der wehrhafte Affe seinen Todfeind mit seinen eng stehenden gelben Augen, aus denen Wut und Angst zugleich sprachen. Wieder raste er, einem Mini-Kingkong gleich, Sand aufwirbelnd auf den gefleckten Jäger zu, den Kopf unmutig schüttelnd und Laute von sich gebend, die der Leopardin unmissverständlich klarmachten, dass sie hier nicht willkommen war.



Die Katze drehte ab und verschwand im dichten Buschwerk. Die Jagd auf die Impalas konnte sie ohnehin vergessen, und ein Kampf mit einem Pavian, dem seine Herde Rückhalt und zur Not Beistand gewährte, war ihr mit den Jungen im Bauch zu riskant. Schon einmal hatte sie in einem solchen Fall den Kürzeren gezogen und Bekanntschaft mit den Reißwaffen eines Pavians gemacht. Die klaffende Wunde zog sich heute noch als schwarze Narbe durch die Rosetten ihres linken Hinterlaufs.



Die Leopardin suchte ihren Schlafbaum auf, eine knorrige Akazie mit dichter Krone, von einer Würgefeige fast erdrückt, in der sie nicht zu sehen war, wenn sie dort oben lag und die versteckte Beute verzehrte. Schon seit Tagen hatte sie keine Antilope, keinen Hasen mehr in die Astgabel gezerrt, um sie in aller Ruhe auszuweiden und zu verspeisen, ungestört von Löwen oder Hyänen, die ihr nicht in ihre luftige Vorratskammer folgen konnten.



Ein seltsamer Geruch hielt sie davon ab, in gewohntem Schwung die Akazie zu erklettern und sich auf dem breiten Hauptast zur verdienten Siesta niederzulassen. Sie roch das Blut, roch, dass es noch frisch war, und sie witterte das fremde Fleisch, anderes Fleisch als jenes, das sie sonst in der Krone lagerte, weder Antilope noch Gazelle, kein Klippschliefer, kein Warzenschwein. Misstrauisch schlich sie näher. Ein Affe vielleicht? Welches Tier im Busch versprühte diese Ausdünstung?



Sollte ein anderer Leopard ihren Baum als Jagdversteck genutzt haben? Oder war ein fremdes Tier in die Astgabel geklettert und dort verendet? Doch woher kam dann dieser Blutgeruch? Warm und frisch, sie fühlte es, ihre feine Nase hatte die Witterung aufgenommen.



Ihre Augen starrten zum Wipfel des schirmartigen Baums, das Blätterdach ließ kaum Licht durch, und sie harrte auf eine Bewegung. Sollte er sich doch zeigen, der Feind, sie würde ihn schon ordentlich begrüßen, doch nichts geschah. Kein Geräusch, kein knackender Ast, kein Rascheln im Laub, nur dieser fremde Geruch nach warmem Blut und frisch geschlagenem Fleisch. Ihre Krallen zerrissen die Rinde der Akazie, laut war das Schaben zu hören, doch nichts rührte sich dort oben. Jetzt hielt sie die Neugier nicht mehr länger zurück. Mit einem gewaltigen Satz war sie oben, lauschte auf dem untersten, waagerecht ausladenden Ast, ob sich nicht doch etwas rührte in den oberen Stockwerken. Doch es blieb ruhig. Mit Hilfe ihrer Tasthaare umkreiste sie den von der Würgefeige umschlungenen Stamm und schraubte ihren schweren Körper langsam nach oben. Dann sah sie ihn.



Der Kadaver hing wie ein aufgeblasener Sack in der Astgabel. Die Jägerin verharrte argwöhnisch und erst als sich auch nach Minuten nichts an dem gekrümmten Körper rührte, als sich ihre Nase an den Geruch gewöhnt hatte, wagte sie sich näher heran. Ihre Schnurrhaare ertasteten zwei Beine, zwei Arme und die verkrampften Finger der Leiche, und der Blutgeruch in ihrer Nase vermischte sich mit jenen Düften, die sie den seltsamen Wesen zuordnete, die immer wieder mit ihren stinkenden und lärmenden Ungetümen in ihr Revier eindrangen. Instinktiv hatte sie gelernt, dass Menschen etwas Fremdes, aber nichts Bedrohliches waren. Sie kannte die Geräusche, die sie von sich gaben, wusste, dass viele andere Tiere vor ihnen flohen, obwohl keine Gefahr von ihnen auszugehen schien. Noch nie war sie auf die Idee gekommen, einen von ihnen anzugreifen oder gar zu reißen. Ihre Beute roch anders, bewegte sich anders, sah anders aus.



Doch jetzt, tot und regungslos auf dem Ast liegend, duftete das Blut plötzlich ähnlich verlockend wie das eines Pavians. Das Feindbild flackerte vor ihrem inneren Auge auf, die Paviane, die ihr gerade die Impalas abspenstig gemacht hatten, kamen ihr in den Sinn, und sie gab unfreiwillig ein grimmiges Knurren von sich. Ohne diese verfluchten Affen würde sie jetzt mit einem frisch geschlagenen Impala in der Baumkrone sitzen und sich nicht um diesen Menschenkadaver kümmern müssen.



Der Hunger begann erneut in ihr zu nagen, die Jungen in ihr zehrten an ihren Kräften. Wenn das Blut nun doch angenehm roch, warum sollte dann das Fleisch nicht genießbar sein? Es kam auf einen Versuch an. Noch einmal sah sie sich vorsichtig um, witterte nach allen Richtungen. Sie konnte keine Falle entdecken, keinen Feind, der sich im Schutz des dichten Blätterdachs versteckte. Ihre Zunge fuhr heraus und leckte dem Toten über das Gesicht. Sie schmeckte das Blut, das aus dem Schnitt in der Kehle über seine Backenknochen rann. Das Fleisch roch frisch und ihre Zähne begannen, die Nackenwirbel freizulegen. Noch verriet ihre Haltung Anspannung und ihr Blick drückte Argwohn aus, doch je mehr ihr Gaumen mit dem Geschmack der fremden Beute vertraut wurde, desto freier wurden ihre Bewegungen. Schließlich ließ sie sich entspannt neben dem Kadaver nieder, riss mit ihren dolchartigen Eckzähnen das khakifarbene Hemd in Fetzen und begann zu fressen.




5



Der erste Brief



Hallo Linda,



gestatten Sie mir, dass ich Sie Linda nenne, denn Ihr Nachname ist mir noch nicht geläufig. Als wir uns damals kennenlernten, waren Sie nicht verheiratet, und wie ich herausgefunden habe, sind Sie auch schon wieder geschieden. Aber das nur nebenbei.



Der Grund meines Schreibens liegt in einem Verfahren vor ziemlich genau 14 Jahren, wenn es nach dem Willen des Hohen Gerichts gegangen wäre, hätten es sogar 15 Jahre sein müssen. Na, macht es klick? Blättern Sie doch bitte mal in Ihrem hübschen Kopf 14 Jahre zurück und schlagen Sie die Seite »12. April« auf!



Klick?



Oder das Kapitel »Mein Karrieresprungbrett«.

 



Klick?



Denn als solches darf ich mich doch sicher bezeichnen? Ich habe sehr wohl mitverfolgt, wie es mit Ihrer Karriere voranging, nachdem ich Ihnen durch mein Zutun auf die Sprünge geholfen hatte, wenn auch unfreiwillig, wie Sie zugeben müssen. Na, hat es immer noch nicht klick gemacht? Haben Sie mich wirklich schon vergessen, in nur 14 Jahren?



Nun, ich kann Ihnen versichern, ich habe Sie nicht vergessen. Sie und die anderen, die mir mein Leben um 14 Jahre verkürzt haben.



Klick?



Ich habe weder vergessen noch vergeben.



Als gebildete Journalistin werden Sie mit den Klassikern der deutschen Dichtung vertraut sein. Wovon ist wohl die Rede, wenn Schiller in Wilhelm Tell sagt: »Ihr Genuss ist Mord und ihre Sättigung das Grausen«?



Nun, ich will Sie gern ein bisschen auf die Folter spannen, meine Liebe.



Von Mord wird bald die Rede sein. Und das Grausen werden Sie kennenlernen.



Aber im Gegensatz zu mir damals werden Sie eine kleine Hoffnung haben: Bringen Sie endlich die Wahrheit ans Licht!



Ach, und noch etwas, so ganz nebenbei. Behalten Sie den Inhalt meiner Briefe für sich. Das geht nur uns beide etwas an.



Hochachtungsvoll



Chui




6



Linda Roloff betrachtete das Bild, das auf ihrem Nachttisch stand, ihre Finger strichen über das reflexfreie Glas, und sie versuchte, sich das Kribbeln in Erinnerung zu rufen, das sie gespürt hatte, wenn ihre Fingerkuppen über seinen Dreitagebart geglitten waren. Sie versuchte, sich seinen Geruch zu vergegenwärtigen, diesen wilden Buschgeruch, unparfümiert, männlich, intensiv. Den Duft seiner Haut, seiner Haare, seines Atems. Sie versuchte, seine Küsse zu spüren, seine Stimme zu hören, sein Lachen. Und dann versuchte sie, ihn zu vergessen. Wenigstens für den Rest dieser Nacht. Sie brauchte dringend ihren Schlaf. Sie knipste das Licht aus und schloss die Augen. Sie hatte aufgehört, die Nächte zu zählen, die Nächte ohne eine Nachricht von Alan Scott.



Es war wenig los gewesen – eine halbe Ewigkeit schien es ihr her zu sein – auf der Ankunftsebene des Stuttgarter Flughafens. Linda war sich ein wenig verloren vorgekommen, nachdem die Wartenden um sie herum ihre Angehörigen in Empfang genommen und mit lachenden Gesichtern das Ankunftsterminal verlassen hatten. Linda hatte in dem kleinen Blumengeschäft drei rote Rosen gekauft, mit einem kleinen grünen Anhänger, auf dem die Worte Herzlich willkommen zu lesen waren. Alan würde sich darüber freuen, hatte sie gedacht.



Ihre Augen hatten an der großen, schwarzen Anzeigetafel geklebt, wo die gelben Buchstaben immer wieder durcheinandergerattert waren und neue Flüge angekündigt hatten. Noch immer hatten die beiden grünen Leuchtdioden neben der Flugnummer abwechselnd geblinkt, als Zeichen dafür, dass sein Flugzeug gelandet war. Sie hatte noch einmal die Flugdaten verglichen, die sie sich notiert gehabt hatte, Flugnummer, Start- und Landezeit waren identisch gewesen.



Nervös war sie auf und ab gegangen, hatte das Klappern ihrer hochhackigen Schuhe auf dem grauen Steinfußboden gehört und wie sich ihre Schritte mit dem Rattern der Gepäckwagen, den Stimmen anderer Menschen und den wiederkehrenden Lautsprecherdurchsagen zu der bekannten Flughafengeräuschkulisse gemischt hatten.



Sie hatte noch einmal zur Uhr gesehen, nein, sie hatte sich nicht verspätet gehabt, sie hatte außerdem jetzt schon eine knappe Stunde gewartet. Und sie hatte den Ausgang der Ankunftshalle nicht einen Augenblick aus den Augen gelassen, auch nicht, als sie sich einen Espresso in der kleinen Kaffeebar bestellt hatte.



Sie hatte vor der Tafel gestanden, die einen Überblick über die Einrichtungen des Flughafens bot. Informationen eine Etage höher, im Abflugterminal eins. Sie hatte die Rolltreppe genommen, oben angekommen die Warteschlange am Infoschalter gesehen und war wieder nach unten gespurtet. Genervt hatte sie auf einem der schwarzen Wartestühle Platz genommen und versucht, ihren Puls unter Kontrolle zu bringen. Immerhin war es möglich gewesen, dass er den Anschlussflug in Frankfurt verpasst hatte. Doch selbst wenn, warum meldete er sich nicht?



Der Flug Frankfurt-Stuttgart war inzwischen von der Anzeigetafel verschwunden gewesen. Sie war noch einmal zum Infoschalter gegangen und hatte ihr Glück versucht. Der Flug aus Kenya war pünktlich in Frankfurt gelandet, wo steckte Alan Scott? Noch einmal hatte sie auf der Wartebank gegenüber dem Blumengeschäft Platz genommen.



Später hatte sie sich, nachdem sie allein vom Flughafen zurückgekehrt war, spontan zum Märchensee aufgemacht, um auf andere Gedanken zu kommen. Als sie den See später verlassen hatte, waren drei rote Rosen auf der Wasseroberfläche zurückgeblieben. Ein grünes Kärtchen mit dem Aufdruck Herzlich willkommen war allmählich im Teppich der Wasserlinsen verschwunden, die fast den ganzen See bedeckten.



Unruhig wälzte sie sich jetzt in ihrem Bett hin und her, doch der Alptraum kehrte immer wieder. Nicht die Rosen trieben dort im See, sondern die Leiche eines Mannes. Schweißgebadet wachte sie auf.



Sie hatte das Gesicht des Toten erkannt.




7



Donnerstag, 24. August 2006, Alter Landungssteg, Friedrichshafen



Lichtblitze, grell, schnell, hell, in regelmäßigem Abstand von 30 Sekunden, ein kalter Wind aus Südwest, Stärke sieben, die Oberfläche des Sees aufpeitschend, Regen, der fast waagerecht durch die Luft zu jagen schien. Unwetter.



Die Sturmwarnung hatte schon vor drei Stunden die letzten Segler in die sicheren Häfen getrieben, und selbst die Fischer waren angesichts der Witterung an diesem Spätsommerabend nicht mehr hinausgefahren. Nur die Fähre pflügte zielstrebig dem Aussichtsturm an der Mole zu, dessen Treppengerüst skelettgleich in den wolkenverhangenen Abendhimmel ragte und die Einfahrt zum Hafen markierte.



Das kleine Ruderboot schien verlassen draußen auf dem wild gewordenen Wasser zu tanzen, dann wieder abzutauchen in den Wellentälern, ohne Willen, schien zu treiben, ziellos, ohne den Mann, der es steuerte. Ein Spielball von Wind und Wasser. Und doch näherte es sich, langsam und unauffällig, dem ehemaligen Landungssteg im Westen der Stadt. Die mehrgeschossige Fassade der Schlosskirche ragte düster in den Himmel, flankiert von den beiden mächtigen Zwiebeltürmen, Wahrzeichen Friedrichshafens. Hoch hoben die Wellen den Bug des Ruderboots, trugen es für den Bruchteil einer Sekunde auf ihrem Kamm und ließen es, kaum hatte es seinen Schwerpunkt verloren, schlingernd eintauchen in das nächste Tal. Wasser schwappte ins Innere, bedrohlich schwankte der Kahn und setzte dann, die Ruder wie von Zauberhand gelenkt, seine Fahrt Richtung Ufer fort.



Das Leuchtfeuer der Sturmwarnung, das rings um den Bodensee seine Blinksignale zum Wasser hin aussandte, huschte wie ein orangefarbener Schatten von links nach rechts über die brodelnde Wasseroberfläche, vertauschte für einen kurzen Augenblick das Wellenspiel mit der wankenden Tanzfläche einer Diskothek, um danach wieder den grauen Schatten des tanzenden Wassers zurückzulassen. Jetzt hatte das Boot den Radius des Leuchtfeuers am Landungssteg erreicht und für den Husch eines Augenblicks, in dem das Licht das Wasser streifte, war der gebeugte Rücken eines Mannes zu erkennen, der in durchnässtem Overall, geduckt, ja zusammengesackt im Boot kauerte und die Ruder bewegte.



Ständig glitt ihm das Boot aus der Bahn, zeigte der Bug zu weit nach Osten oder Westen, und doch ließ sich sein Kurs erahnen. Mühevoll kam er voran, Meter um Meter, Wellendach und Wellental, und bei jedem Eintauchen in das Leuchtfeuer schien er der Ufermauer um einen Meter näher gekommen zu sein. Seine Hände, nass glänzende Haut, krampften sich um die Ruderstangen, über die Schulter warf er einen Blick zum nahen Ufer, aus dem Schatten der Kapuze heraus, um sein Ziel anzupeilen. Und er stellte jedes Mal erfreut fest, dass er allein war. Kein Mensch war zu sehen. So hatte er es geplant. Allein und unbeobachtet an einem stürmischen Abend auf dem See.



Das menschengroße Bündel, das im Heck des Ruderboots lag, bewegte sich nicht.



Der Regen ließ etwas nach, und er steuerte das Boot in waghalsigem Manöver an den Resten des ehemaligen Landungsstegs vorbei, schwarzen, baumstammdicken Pfählen, die aus dem Flachwasser des Sees ragten und immer wieder von den Wellen überspült wurden. Er hielt auf das westliche Ende der schmalen Landzunge zu, ein fast kreisrundes Areal, das sich mit dem schmalen Zugangsweg in Form einer Schöpfkelle an der Schlossmauer entlang zum Wasser hin ausdehnte. Im Schatten der efeubewachsenen Mauer stieg er an Land, nachdem er das Boot am schmiedeeisernen Geländer der Ufermauer vertäut hatte.



Er musste jetzt darauf achten, nicht in den Lichtschein des Leuchtfeuers zu geraten, der ein paar Meter auf die Halbinsel hüpfte, bevor ihn der Schatten der Blende verschluckte. Geschickt huschte er an der Mauer entlang und schlich sich geduckt hinüber zu den Bäumen, die das Ziel seiner geheimnisvollen nächtlichen Aktion waren. Als er an dem breiten Gitterportal vorbeikam, gewahrte er den Lichtschein in einem der Fenster im obersten Stockwerk des Schlosses. Doch es war niemand zu sehen. Er verharrte, überzeugte sich davon, dass der Ort seiner Tat nicht von dort oben eingesehen werden konnte, und setzte seinen Weg fort. Er hatte sich viel vorgenommen in dieser Nacht, es war Teil eines langen Plans, den er in den nächsten Nächten durchzuführen gedachte, und er hatte lange Zeit mit den Vorbereitungen verbracht.



Der Mann, der sich in jener sturmgepeitschten Sommernacht den drei Kastanienbäumen näherte, war von hünenhafter Gestalt, doch elegant und geschmeidig, ja fast katzengleich waren seine Bewegungen, kaum knirschte der Kies unter seinen Schritten, kein Atemgeräusch, kein Keuchen war zu hören, als er mit seiner Arbeit begann. Ständig glitt sein Blick hinüber zu dem Weg, dem einzigen Zugang zum halbinselartigen Gelände vor dem Schloss.



Er befand sich hier auf historischem Grund, dem Hafengelände des ehemaligen Klosters Hofen, wo noch zu Zeiten des württembergischen Königs Friedrich die Raddampfer anlegten und Waren aus der Schweiz angeliefert wurden. Drüben, wo heute die Schiffe der Weißen Flotte, aber auch Katamaran und Fähre einliefen, lag damals die Reichsstadt Buchhorn, ebenfalls mit eigenem Hafen, und nachdem Friedrich Kloster und Stadt zusammengelegt und in Friedrichshafen umbenannt hatte, verlor die Schiffslände vor dem Schloss zusehends an Bedeutung. Was blieb, war der idyllische Platz mit seinen Bänken und Bäumen, Geheimtipp für Sonnenuntergänge am Bodensee und zugleich Endpunkt des für die Öffentlichkeit zugänglichen Bodenseeufers im Westen der Stadt.



Seine Hände ruhten auf der feuchten, rissigen Rinde der Kastanie. Er sog den Duft des nassen Holzes ein und schloss die Augen. Der Baum gab ihm Kraft, er schien sein Freund, er war Teil seines Plans. In seinen Gedanken war er wieder daheim, dort, wo es den mächtigsten aller Bäume gab, den Giganten, den von den Göttern im Zorn mit dem Astwerk in der Erde versenkten alten Baobab, dessen Äste wie verkümmerte Wurzeln aus seinem Tonnenstamm ragten, zerfurchte Rinde wie Elefantenhaut, kürbisgroße Früchte, Schattenspender für Impalaharems, Spielplatz für Meerkatzen, Wohnstatt für Nashornvögel. Er hatte die Bäume geliebt, schon als Kind, nicht nur den Baobab, der wie eine Säule den Eingang zu ihrer Farm markiert hatte, auch die Riesenfeigen, Kletterbäume seiner Jugend, den glühend blühenden Flammenbaum und den Sausagetree, dessen längliche Früchte dem Lilablumigen den deutschen Namen Leberwurstbaum eingebracht hatten.



Schon mit vier Jahren war er geklettert wie ein Äffchen, hatte in den Bäumen nach Vogelnestern und Bruthöhlen gesucht, Flughunde von ihren Schlafplätzen vertrieben und eines Tages einen jungen Leoparden mit nach Hause gebracht. Niemand wusste, was seiner Mutter zugestoßen war, warum er allein in der Astmulde gekauert hatte, drei Nächte lang. Abgemagert und mit zerzaustem Fell, von Zecken übersät und ausgetrocknet, hatte er ihn schließlich vom Baum gezerrt, ein fauchendes, kratzendes und beißendes geflecktes Fellbündel mit den schönsten Augen, die er je gesehen hatte, in Gold gefasst, und einer rosaroten warmen Nase.



Chui war sieben Jahre lang sein bester Freund gewesen, wie oft waren er und sein zahmer Leopard durch die Savannen am Uaso Nyiro gezogen, entlang des Braunen Flusses, wo die Netzgiraffen zur Tränke kamen, die schlanken Grevyzebras grasten und die langhalsigen Gerenuks, artistengleich auf den Hinterbeinen stehend, im Dornbusch nach jungen Trieben suchten. Bald hatte Chui gelernt zu jagen. Ein Stallhase war sein erstes Opfer gewesen, dann die Ziege, aus einem Samburukral gestohlen, schließlich die Paviane, die tagsüber frech in den Gemüsegarten von Mom einfielen. Chui hatte sich nachts auf die Lauer gelegt und sich angeschlichen, als die Horde schlief. In jener Nacht starb der erste Pavian, in den folgenden drei weitere. Nie wieder wagte sich ein Pavian in Moms Gemüsegarten.

 



Nach sieben Jahren kam Chui morgens nicht zurück. Er suchte nach seinen Spuren, durchkämmte das Gelände eine Woche lang. Seine Schlafbäume, seine Lieblingsplätze, das Wasserloch, die Felsen, auf denen er sich mit einer Leopardin gepaart hatte. Am Ende der Woche fand er seine Überreste und die Spuren des Kampfes mit den Löwen. Es musste ein unfairer Kampf gewesen sein. Vier gegen einen. Er hasste unfaire Kämpfe. Heute