Tales of Beatnik Glory, Band III (Deutsche Edition)

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Auf dem Band, das Johnny Ray seinem Vater vorspielte, beendete Martin Luther King gerade seine Rede zum Gedenken an die Opfer, und dann setzte der Trauergesang der versammelten Gemeinde ein, mit einer die Seele erschütternden Strophe aus Pete Seegers Hymne für die Bürgerrechtsbewegung:

»They won’t die in vain

They won’t die in vain

Deep in my heart I do believe

They won’t die in vain.«

Als er die Stimme von Martin Luther King hörte, setzte Ethrom sich aufs Bett, rot im Gesicht und bebend, sein Atem kam stoßweise, der Whiskygeruch, der aus seiner Kehle rülpste, mischte sich mit scharfen Magendämpfen. Die Worte »They won’t die in vain« jedoch ließen seinen Hass und seine Wut wieder zurückkehren, sodass er ein Loch durch das Auge des Horus im Verstärker der Fugs, der nun auf Johnnys Bett stand, boxte. »Die Südstaaten werden auch nicht umsonst sterben!« zischte er.

Diese Ungeheuerlichkeit! Sein Sohn, an den er seine Zukunftsvision geknüpft hatte — sein Sohn, dazu auserkoren, der fesselnde Prophet des Südens zu werden, welcher Ethrom am Liebsten selbst geworden wäre, war von den Kommunisten vereinnahmt worden! Während er an seinen Knöcheln lutschte, die von dem Schlag gegen den Verstärker bluteten, versuchte er seine Fassung wiederzugewinnen.

»Woher hast du das, Junge?« Ethrom hielt die Gibson hoch.

»Die ist von Bob Dylan, Daddy.«

»Von wem?«

Johnny Ray nahm die Gitarre und fing an »With God on Our Side« zu singen.

Ethrom packte die Gitarre und schleuderte sie Richtung Wand, um sie zu zerschmettern, verlor aber das Gleichgewicht, sodass es misslang. Er rannte aus dem Zimmer und warf einen Stuhl um, während er zum Ofen eilte. »Du hältst dich für weiß Gott was für heiße Scheiße«, rief er über seine Schulter. »Aber du bist bloß ein kaltes Würstchen auf einem heißen Zahnstocher.«

Johnny hörte, wie die Ofentür geöffnet wurde, und das Herumrascheln, als sein Vater Papier zusammenknüllte, und das Reiben des Zündholzes, dann das kratzende Geräusch der Gitarre, während diese auf das brennende Papier geschoben wurde.

Johnny ging ans Fenster, zog den Vorhang zur Seite und schnappte nach Luft: »FBI, Daddy!«

Der totale Schrecken brach aus. Der Vater ließ die Ofentür offen, als er über die Stiegen nach oben stürzte, um sein Gewehr zu holen, und rief seinem Sohn noch zu, das Funkgerät einzuschalten. »Ruf die Secret Six. Sag ihnen, sie sollen sich bereit machen zum Kampf!!«

»Okay, Daddy.«

Johnny nahm die kleine Axt neben dem Holzofen und durchtrennte die elektrische Leitung am Sicherungskasten. Es gab einen gewaltigen Blitz, und dann war es im ganzen Haus finster. Er rannte zur Veranda; und kletterte über das Spaliergitter aufs Dach hinauf, wo er eine Schindel herausriss, um das Rauchabzugsloch im Kamin zuzudecken. Er dachte, dass sich so vielleicht das Haus mit Rauch füllen würde und seinen Vater aus der Fassung bringen müsste.

Dann rannte er zurück in sein Zimmer, wo er den versteckten Stapel Zeitschriften von Talbot herausriss und zum Ofen trug. Er holte die Gitarre heraus, die wie durch ein Wunder noch unbeschädigt war, abgesehen von ein paar Brandflecken auf den psychedelischen Aufklebern, und warf stattdessen die Zeitschriften hinein.

Er erschauderte, pisste sich vor Angst in die Hosen, als er sich die Finger abschürfte, während er in Windeseile einige seiner Habseligkeiten in den groben Leinensack stopfte, den sein Vater aus dem Koreakrieg mitgebracht hatte. Er fand seine Jeansjacke, einige nicht zusammenpassende Socken und die Familienbibel, denn Johnny war religiös. Er nahm ein Messer aus der Küche, damit er später die Flagge der Konföderierten vom Rücken der Jacke heruntertrennen konnte. Er wusste, wo sein Vater das Geld vom Klan aufbewahrte. Es waren ein paar Hundert Dollar da. Er würde nicht alles nehmen. Sein Vater war so schlampig, dass er ohnehin nie genau darüber Buch führte. Er suchte nach etwas, wo er es hineintun konnte, leerte den Inhalt von Ethroms Red-Man-Kautabakbeutel und stopfte ihn voll mit Geld.

Er starrte ungefähr fünfzehn Sekunden lang auf das Wollensak-Tonbandgerät mit den mittels Schablone aufgespritzten Blumen. Er wusste, was sein Vater damit tun würde — es bei Versammlungen des Klans benutzen, oder »Geständnisse« gefolterter Opfer aufnehmen —, und so beschloss er, es mitzunehmen.

Sein Vater kauerte mit einem Gewehr in der Hand unter dem Wohnzimmerfenster am Boden und fuhr seinen Sohn im Flüsterton an: »Schau, dass du dein Gewehr herkriegst, Junge, und alle Munition, die du hast. Und dann hol mir die Schachtel mit den Handgranaten aus dem Keller!«

»Okay, Daddy.«

Johnny öffnete die Haustür und flüsterte: »Es sind fünf Wagen draußen. Einer davon ist das schwarze Fahrzeug mit der großen Antenne.« Er wusste, Ethrom würde glauben, es sei der Leiter des Polizeipostens in Birmingham, und völlig in Panik geraten.

Genau in diesem Moment krächzte Vaters Papagei sein aus einem einzigen Wort bestehendes Repertoire hinaus: »Klan! Klan! Klan!« Johnny nahm ihn von seiner Sitzstange und ließ ihn auf seine Schulter hüpfen. Er würde, so dachte er, ein gutes Geschenk sein für Talbot den Großen.

Er stellte das schwere Tonbandgerät, die Gitarre, den Papagei und den Leinensack am Rand der Einfahrt nieder und ging hinauf auf den Hügel, um den Grabstein seiner Mutter zu küssen. Dann fuhr er per Autostop bis in die Lower East Side von New York City.

Ethrom kauerte ein paar Minuten lang zitternd unter dem Wohnzimmerfenster am Boden, rief flüsternd nach seinem Sohn, bis er schließlich zum Eingang kroch, die Tür aufbrach und auf die Veranda hinausrobbte, die Finger am Abzugshahn und bereit für die Entscheidungsschlacht.

Es war überhaupt nichts — kein schwarzes Auto mit großer Antenne, kein Einsatzwagen des Sheriffs. Es dämmerte ihm, dass sein Sohn abgehauen war, und er spürte einen schmerzenden Knoten im Magen wie den verkalkten Knödel eines Wiederkäuers. Er weinte und tobte und fluchte im plötzlichen Schmerz des Verrats. Er liebte seinen Sohn so sehr, dass er ihn wahrscheinlich umbringen musste.

Eines Abends streunte ein junger Mann ins Peace Eye und sagte: »Ich bin Johnny Ray Slage.« Ich erkannte das Tonbandgerät von Warhol und dann Dylans Gitarre, die aus dem Leinensack herausragte. Zum Schutz hatte Johnny einen graurotgestreiften, groben Wollsocken über den Gitarrenhals und die Wirbel gestülpt.

Er öffnete eine kleine Schachtel und heraus hüpfte der Papagei seines Vaters. Er stellte sich auf meinem Schreibtisch auf dem Mörtelbrocken, den Talbot von der Kirche gebracht hatte, auf die der Bombenanschlag verübt worden war, und krächzte »Klan! Klan! Klan!«

Ich versuchte gelassen und gleichgültig zu erscheinen, aber ich war überglücklich, dass der Junge entkommen war. Ich rief Talbot an, der im wahrsten Sinne des Wortes die ganze Strecke von der Vierzehnten Straße bis zum Peace Eye auf seinem hinkenden Bein herunterrannte. Indian Annie war im Hinterzimmer dabei, die neueste Ausgabe der Marijuana Review zusammenzustellen. Ich stellte die beiden einander vor und Annie ging hinüber zur Kommune, in der sie lebte, um einen Schlafsack für Johnny Ray zu holen. Er schlief ein paar Tage im Peace Eye, bis sich bei Annie Platz fand.

Der Papagei blieb im Peace Eye und während der nächsten paar Monate arbeiteten wir hart daran, ihm ein paar neue Phrasen beizubringen, sodass er — er trug nun den Namen Freedom —, als der Summer of Love begann, auf meinem Schreibtisch stand und »Piss auf den Klan! Peace! Piss auf den Klan! Peace!« rief.

Z EIT, GEIST, NERVENKITZEL, TANZ & MUSIK

Sam Thomas atmete schwer, rang fast nach Luft, und Bäche von Schweiß flossen über seine heißen Schulterblätter angesichts der Überzeugungskraft der Prosa. Er las laut vor, mit einer trockenen, heiseren Stimme, die bisweilen zu einem fast unhörbaren Flüstern einer im Kehlkopf sitzenden Angst wurde:

»Ich habe jetzt den ersten Hebel gedrückt,« sagte O’Brien. »Die Konstruktion des Käfigs ist Ihnen doch klar? Die Maske passt nahtlos über Ihren Kopf. Wenn ich hier auf diesen anderen Hebel drücke, dann gleitet die Käfigtür hoch. Die halbverhungerten Bestien werden wie Kugeln herausschießen. Haben Sie jemals eine Ratte durch die Luft springen sehen? Sie werden Ihnen ins Gesicht springen und sich sofort hineinbohren. Manchmal stürzen sie sich zuerst auf die Augen.«

Als die Stelle gekommen war, da die Ratten die Augen anknabberten, war das Schreien, mit dem er den Text vorlas, in ein Dröhnen übergegangen, wobei er zitterte wie ein Junkie, der sich schon den zweiten Tag gegen den Horror wehrt, einen Rattenkäfig als Gesichtsmaske tragen zu müssen. Es war alles so wirklich für ihn, dass er — nachdem er eine Pause gemacht hatte — das Gefühl hatte, aus einem heftigen Traum zu erwachen, und ein paar Sekunden lang gaben Realität und Traum einander die Hand. »Whew! Nicht mit mir! Keine Augenbehandlung mit mir!« rief er und schleuderte »1984« quer durch das Zimmer, wo es von der aus einem Wasserkühler gebauten großen silbernen Wasserpfeife abprallte.

Draußen war ein schöner Tag, der mit Mustern unendlicher und zielloser Schrägheiten lockte, und keinerlei Bilder von Rattenkäfigen vor dem Gesicht würden ihn davon abhalten, in den Nervenkitzel hineinzuspazieren.

Den ersten Halt bei seiner Herumbummelei machte er im Peace Eye Bookstore, wo gerade ein paar Matratzen von der Straße hereingeschleppt wurden und aus Öfen und Kühlschränken vom Sperrmüll eine Gemeinschaftsküche gebaut wurde.

 

Freedom, der Papagei, saß auf dem Hektografie-Matritzendrucker und sah zu, wie herumgeschoben und gewerkelt wurde, wobei er ungefähr alle zehn Sekunden sein »Piss auf den Klan! Peace!« hören ließ.

Der Peace Eye Bookstore war an die Gemeinschaft übergeben worden, um entsprechend den Bedürfnissen der Gemeinschaft benützt zu werden. Bei einer Versammlung des Stammesrats wurde beschlossen, dass die Gemeinschaft eine Kombination aus Kommunikationszentrum und Pennbude zum Übernachten brauchte. Der Hauseigentümer hatte sich schon aufgeregt, als im Hof jemand Selbstverteidigungskurse abhielt. Ein Zirkusartist in gebatikten Gewändern hatte ein Seil zum Balancieren gespannt und die Mieter im oberen Stock beklagten sich bald über Marihuanageruch, der von den Matratzen ins Treppenhaus hinaufzog.

Bücher waren nicht mehr so wichtig. Sie waren in Stößen in den hinteren Raum verfrachtet worden, sodass ehrwürdige Reihen von Friedenskerzen, Räucherstäbchen, Federn und Runensteinen ihren Platz in den Regalen des Verkaufsraums einnehmen konnten. Die Wände wurden mit Postern geschmückt, die sich mehr auf Marihuana und Musik bezogen als auf Dichtung und Untergrundzeitschriften, und es gab Anschlagtafeln, die voll waren mit kurzen Botschaften, der Suche nach Mitfahrgelegenheiten nach San Francisco und Aufrufen besorgter Eltern etwa des Inhalts »Will, ruf zu Hause an! Wir verstehen dein Problem. Auch wir möchten nicht, dass du nach Vietnam gehen musst!« oder »Laurie Kate. Wir versprechen dir, nie wieder ein Jimi-Hendrix-Poster zu zerreißen oder dich nicht wegzulassen. Es ist alles verziehen.«

Sam half einem jungen Mann namens Groovy, der für die Ruhezone im Peace Eye zuständig war und die sogenannte Matratzenwiese gestaltete, die sich durch alle drei Räume erstreckte. Groovy war ein paar Jahre jünger als Sam. Er war ein großer, schlanker, stiller und gelassener Typ, der eine Harmonika auf einem Drahtbügel um den Hals trug, sodass er immer eine Melodie spielen konnte, während er in der East Side unterwegs war. Groovy hatte eine Tätowierung »Bourbon Street — New Orleans« auf seinem Arm. In Auflehnung gegenüber Generationen von Vorfahren, die zum größten Teil Farmer im Mittelwesten gewesen waren und eine Tätowierung bereits als einen Bund mit dem Teufel betrachtet hätten, ließ Sam sich von Groovy dazu überreden, sich das Auge des Horus [SVG-Horusauge] aus dem Fenster des Peace Eye auf den Unterarm tätowieren zu lassen.

Groovy besaß Eigenschaften, die Sam bewunderte. Er war das, was man heute einen Macher nennen würde, einen Auftreiber von Unterkünften. Ihm war klar, dass die jugendlichen Motten aus der Gegenkultur, die es ins grelle Licht der Lower East Side zog, eine Bleibe brauchten, also half er denen, die sich in den Park flüchteten und einfach treiben ließen, eine Unterkunft zu finden. Zu anderen Zeiten hätte Groovy vielleicht ein Missionar sein können, aber das Schicksal brachte Groovy in die schmutzigen Straßen, dahin, wo es groovy war.

Er verschenkte, was er besaß. Er half denen, die auf schlechten Trips waren. Er war ein Hippie für die Hippies. Er verdiente sich ein bisschen Geld, indem er Acid und Peyote und ein paar Aufputschtabletten verkaufte. Er war fasziniert von Methamphetamin-Hydrochlorid, das unter dem Namen Methedrin verkauft wurde.

Groovy hatte eine geradezu alttestamentarische Abneigung gegen Leute, die einen übers Ohr hauten. Die Straßenmafiosi auf der Avenue A dazu übergegangen, in der Neuen Bohème mit Drogen zu handeln, zusätzlich zu den Hippie-Dealern mit den runden Nickelbrillen und Halsketten aus Schlangenwirbeln. Viele Straßendealer verlangten zu viel und hauten die Kundschaft übers Ohr. Groovy beschwerte sich bei ihnen persönlich, wenn er sie traf. Sie schätzten das nicht besonders. Mit seinen beschränkten Mitteln war Groovy so etwas wie ein Polizist der Gegenkultur, auch wenn er so einen Gedanken mit einem zornigen Akkord aus seiner Harmonika verscheucht hätte.

Hübsche Hippiemädchen, die von zu Hause weggelaufen waren und Namen wie Dove, Oat, Rainbow und Yes trugen, fühlten sich zu ihm hingezogen. Sie standen auf ihn, und Groovy fühlte sich im sprichwörtlichen Himmel, wenn er mit einer, zwei oder drei von ihnen auf psychedelischen Leintüchern im Verlauf des Sommers der Liebe herumspielte.

Sam las ihm einmal den »Rattenkäfigtext« von Orwell vor, als sie die Zehnte Straße zum Tompkins Park hinuntergingen. »Das ist es, was wir verhindern müssen, Mensch. Keine Rattenkäfige mehr«, sagte Groovy, während er beim Gehen aus dem Stegreif verrückte Muster hinlegte, tanzte und Melodien aus seiner Hohner-Marinekapellen-Harmonika mit dem Drahtgestell schlingern ließ, das ihm die Hände freiließ, um mit Freunden abzuklatschen und freundlich die Kurven der jungen Mädchen zu umspielen.

Groovy kannte sie alle — »Hi, Moan!« rief er über die Straße hinweg einem Freund zu, »Hi, Toke! Hi, Win! Hi, Mule Train!« Hin und wieder schrieb er die Adresse einer Unterkunft auf eine Karte und gab sie einem von zu Hause Weggelaufenen, der einen Platz zum Schlafen brauchte. Im Geiste suchte er immer wieder neue und geheime Unterkünfte, da die Polizei immer bemüht war, sie aufzuspüren.

Als er mit Groovy unterwegs war, hatte Sam erstmals das Gefühl, nicht auf der Höhe seiner Zeit zu sein: Ihm blieb diese Fülle an ein- und zweisilbigen Namen ein Rätsel. Es gab mindestens hundert junge Frauen, die Gipsy hießen. Wirklich, es gab so viele Gipsies, als handelte es sich um einen Science-Fiction-Film. Und allein in der Woche, als er Groovy beim Auflegen der Matratzenwiese half, traf er junge Leute namens Hawk, Pepsi, Flame, Stowaway, Crimson, Time, Thyme, Tyme, Tome, Tam, Tum, Thomb, Thumb, Peace, Moan, Sky, Abs (für Absolute), Theena (für Athena) und Fullsome. Es hatte sicherlich etwas mit den Pioniertagen Amerikas zu tun, wenn Eltern ihren Kindern Namen verpassten wie Bountiful und Welcome. Aber es machte das Leben auch zu so etwas wie einem Körbchen voller Pommes frites.

Sam steuerte für das dichter werdende Netzwerk von Pennbuden, welches Groovy schuf, seinen berühmten Enthusiasmus bei. Gemeinsam begannen sie, ein über die ganze Stadt verteiltes System von Schlafstellen und Kommunen zu planen. Sie nannten es Goof City und waren davon überzeugt, dass dieses Vorhaben zur Rettung des Planeten beitragen würde. Es musste dafür gesorgt werden, dass die Städte freundlich, friedlich, aufregend und toll blieben, ansonsten würden sie sich in nichts anderes als von einer Küste zur anderen reichende Vorstädte verwandeln und das gesamte offene Land auffressen, das Wasser verschmutzen und das Weideland aufbrauchen.

Sam schwebte Goof City vor als der »ewige Ereignispark«, um den Dichter Charles Olson zu zitieren, ein Ort der großen Freiheit, Erschwinglichkeit, der billigen Mieten, angemessenen Löhne, des sexuellen Glücks für alle, von Freizeit in Hülle und Fülle, garantiertem Zugang zu Vergnügen und Kunst, mit Straßen, die so sicher wären, dass Mann oder Frau um vier Uhr morgens nackt herumspazieren konnte, ohne belästigt oder angefasst zu werden.

Sam schrieb und veröffentlichte Das Goof City Manifest und tat sein Bestes, um Versammlungen zu organisieren, damit diese Chaosstätten, die als Pennbuden bereitstanden, irgendwie in ein System gebracht werden konnten.

Das Problem war die Zeit — Sam wollte zwar Groovy dabei helfen, ein Netzwerk von Goof-City-Unterkünften aufzubauen, aber er hatte ganz einfach nicht die Zeit dazu. Er zerriss sich ohnehin in zwanzig verschiedene Richtungen: Bürgerrecht, Dichtung, Studium klassischer Sprachen, Zusammenkünfte mit den Quäkern und dem Komitee für gewaltfreien Widerstand, Protestversammlungen gegen den Krieg, zu stundenweisen Nebenjobs eilen, Zeitschriften veröffentlichen, Filme machen, knutschen, sich streiten, sich wieder vertragen, auf LSD-Trips gehen, in Bars herumhängen, sich erholen, trampen, Galerien besuchen, die besten Köpfe seiner Generation ausfindig machen.

»Wir leben nicht lange genug, um Goof City entsprechend zu planen. Und wir können nicht überall leben«, sagte Sam Thomas. »Wir brauchen parallele Existenzen!« Sam kam zu dem Schluss, dass er mindestens sieben Leben brauchte: eines fürs Herumhängen, eines für die Kunst, eines für nützliche Arbeit, eines um Saxofon zu üben, eines für Meditation, eines für die Liebe und ein eigenes Leben, um Goof City aufzubauen, um es in Schuss und in Ehren zu halten. Er war so zerteilt, dass er nicht wusste, welchem Scheinwerfer er seinen armen Sonnenblumenschädel entgegenstrecken sollte.

»Eines Tages werden diese ungeplanten Tage des Herumhängens uns wie die Bruchstücke eines verlorenen Paradieses erscheinen«, sagte er. »Ich sehe am Horizont eine abscheuliche Kultur aus lauter Schreibstubenhengsten wie Bartleby, ihre Gesichter in Orwellschen Rattenkäfigen, und keinerlei Freizeit. Es ist deshalb ungeheuer wichtig, Goof City gleichzeitig auch zu leben, während wir Goof City auf die Beine stellen.« Auf einer der Matratzen saßen Indian Annie und Suncatch bereits ineinander verschlungen und bemalten einander die Zehennägel mit verrückten runden Mustern, während sie Betelnüsse aßen. Annie war vom East Village Other zur Slum-Göttin der Woche gekürt worden und schmückte sich jetzt für den Fototermin.

Johnny Ray Slage kam, um Freedoms Käfig zu putzen und Wasser nachzufüllen. Johnny weinte und versuchte dies vor Sam zu verbergen. Jemand hatte ihm bei einem Treffen der verschiedenen Gruppen die Gitarre gestohlen, die er im Flur gelassen hatte, weil der Raum dermaßen überfüllt war. »Ich werde sie wieder auftreiben«, meinte Groovy und schluckte eine Tablette mit Meth, die ihn frech genug machen sollte, um sich auf den Straßen auf die Suche nach der Gibson zu machen. Als er schnellen Schrittes in Richtung Park abdampfte, waren die eindringlichen Melodien seiner Harmonika zu hören.

Nachdem die Matratzenwiese fertig war, ging Sam Thomas wieder nach draußen, um etwas zu erleben. Die Sonne auf der Avenue A hatte, wenn auch nicht gerade das von den Malern so geschätzte mediterrane Leuchten, dennoch eine ungewöhnliche Intensität an einem späten Frühlingsnachmittag, der so warm war wie ein Sommertag.

Er beschloss, sich auf die Stufen der alten Total Assault Cantina zu setzen, um dem fünfzehnköpfigen Celestial Freakbeam Orchestra zuzuhören, das auf dem Dach über ihm probte. Auf den Gehsteigen drängten sich alle möglichen Lebewesen. Hinter dem oberen Rand des Schilds der Total Assault Cantina fütterte ein Rotkehlchen seine Jungen. Es hockte da und umklammerte mit den Beinen das Holz genau über dem Wort »Total«, ein Anblick, den Sam in seinem Notizbuch festhielt, und dann sang es mit einem hellen Zwitschern, das besser war als jedes Lied im Radio.

Das erste, was Sam auffiel, war die Tatsache, dass jeder auf der Straße glücklich wirkte, ziemlich ungewöhnlich für ein finsteres Viertel. Es war ein Tag, an dem viele, die in Armut dahinvegetierten, ihre Unterstützung erhielten, und deshalb waren sogar diejenigen, die in der Klemme steckten, überschwänglich. Aber es war mehr als das — selbst Revolutionäre, die mindestens die letzten sechzehn Jahre nicht gelächelt hatten, vergaßen eine Stunde lang ihren Unwillen!!

John Barrett kam vorbei, so glücklich, wie es ein sich selbst verzehrender Barde nur sein kann. Er war gerade dabei, ein Stück fertigzukriegen, das im North Beach Theatre in San Francisco aufgeführt werden sollte. Er lächelte also.

Indian Annie ging zu ihrem Fototermin als Slum-Göttin, der auf dem Dach, wo das Celestial Freakbeam Orchestra probte, stattfand. Als sie danach herunter kam, strahlte sie wie die junge erste Liebe. Das wirklich einzig Negative, was Sam an diesem ganzen Nachmittag hörte, war die neidische Mary Meth, die Annie zusah, wie sie eilig in den Park lief, wo ihr Freund Suncatch wartete, und fragte: »Was ist hier wohl Slum, und was die Göttin?«

Sechzehn Dichter schlenderten vorbei, und nicht einer von ihnen schien sich um die Karriere Sorgen zu machen, und mindestens drei Stunden lang hatte keiner das Werk eines anderen Dichters runtergemacht! Gut die Hälfte von ihnen blieb stehen und bat Sam, sich Gedichte anzusehen, die sie gerade getippt hatten.

Seine Freundin Linda Quintano setzte sich kurz zu ihm, voll Begeisterung und wildem Elan. Sie hatte einen Subventionsantrag für die Bürokraten von Johnsons Great Society zugunsten der Tagesbetreuungsstätte auf der Avenue B hingekriegt. Sie war voller Zuversicht, dass sie damit auch etwas erreichen würde.

 

Es wurden spontane Geschenke verteilt, so an jenem Nachmittag, als — fünfundzwanzig Jahre vor dem Eisenhans und den trommelnden Männergruppen — eine Gruppe von Männern als »Überwinde den Geiz«-Unterausschuss der Vereinigung psychedelischer Händler vom Tompkins Square, die Straße entlangmarschierte und Dollarscheine verteilte als Versuch, die Auswirkungen exzessiver Geldgier zu lindern, welche die psychedelische Psyche zerstörte.

Baldy Dom, der Kredithai, gerade aus dem Gefängnis entlassen, bot vor einem leerstehenden Geschäft alle Arten von zweifelhaften Wucher- und Grundstücksgeschäften an, nur ein Stück entfernt von der Stelle, wo Sam Thomas auf den Stufen der Total Assault Cantina saß. Heute ließ Baldy Dom den Dingen einfach ihren Lauf, rückte den ganzen Nachmittag lang niemandem auf die Pelle und lehnte sich in einem Thonet-Sessel gegen die Ziegelmauer des Gebäudes, sodass die Frühlingssonne sein blasses Gefängnisgesicht anstrahlen konnte.

Eltern kamen vorbei, die ihre Söhne und Töchter in ihren Pennbuden besuchen gingen, und Sam konnte an ihrem selbstsicheren, entspannten Gang erkennen, dass sie gewillt waren, über unerlaubt langes Haar ebenso hinwegzusehen wie über Miniröcke, die nicht breiter waren als ein Gürtel, über Wasserpfeifen, dreckiges Gebäck, vernachlässigte Berufslaufbahnen, fehlende Möbel, revolutionäre Poster, seltsame Schlafsäcke und Hinweise auf Rauschgift.

In der Elften Straße gingen Polizisten zu einer Tür hoch, um eine dieser Pennbuden auszuheben. Sie hörten Gelächter und Jazz von gegenüber und beschlossen, es bleiben zu lassen.

Leute schauten hoch und winkten dem Celestial Freakbeam Orchestra zu, dessen Mitglieder gerade wie aufgereiht am Rand des Daches standen und auf die Avenue hinunterschauten, während aus den Trompeten und Zugposaunen eine volle und fröhliche Melodie kam, als würden Wimpel gegen ein Partyzelt knattern. Irgendwie fing, während die Bläser ihre heisere Botschaft verkündeten, etwas an, das eines der legendärsten Ereignisse des Jahres 1967 werden sollte: das Spontaneous Ballet of Avenue A.

Eigentlich gab der Postbote den Anstoß für das Spontaneous Ballet of Avenue A, als er auf dem Gehsteig einen Stepptanz hinlegte, während er die Post für den Schönheitssalon aus seiner Tasche zog. Er überreichte sie dessen Inhaberin tanzend.

Die Inhaberin sprühte zufälligerweise selbst ebenfalls gerade vor Freude, weil ihr Freund ihr am Telefon gerade von seiner Arbeitsstelle aus einen Heiratsantrag gemacht hatte! Und dann war aus dem Labor der Anruf gekommen, dass sie schwanger war!

Sie stand auf den Stufen zu ihrem Geschäft und tanzte mit ihrer frisch zurechtgemachten Lockenpracht, die im tollen Sonnenlicht wie die Hieroglyphe einer Sonne aus dem alten Ägypten vibrierte. Sam wünschte, er hätte seine Kamera mitgenommen.

Ohne Verzug breitete sich das Spontaneous Ballet aus. Leute fingen an, auf die Straßen herauszutänzeln und herumzuzucken, sie drehten sich und wirbelten im Kreis, während sie bei Grün die Fahrbahn überquerten, rissen die Arme hoch, hüpften im Stand, und die Hörner, Tubas und Basstrommeln des Celestial Freakbeam Orchestra erteilten ihrem Tanz den Segen.

Der Typ von der Pizzabude an der Ecke Elfte Straße und Avenue A trat ins Freie und muss den Weltrekord im Hochschleudern von Pizzateig aufgestellt haben. Er bückte sich bis zum Boden, schleuderte dann die rotierende Scheibe wie ein von einer Feder hochschnellendes Katapult in den Himmel. Sams staunende Augen folgten ihm nach oben, oben — mindestens dreieinhalb Stockwerke hoch — während der Pizzamann zweimal herumwirbelte, bevor er dann im richtigen Moment danach griff, um wieder hineinzulaufen und Tomatenmark über den Teig zu löffeln, ihn mit Käse und Gewürzen zu bestreuen und in den Ofen zu feuern.

Auf der anderen Straßenseite stellte sich eine Gruppe von Müttern mit Kinderwagen schön in einer Reihe nebeneinander auf und ließ sie zunächst in die eine und dann in die andere Richtung im Rhythmus dahinflitzen, während sie den Jungmüttertanz vorführten.

Dora the Diver kümmerte sich um die Mülltonnen der Avenue A. Auch sie begann eine langsame, kreisende Sarabande um den Drahtkorb an der Ecke hinzulegen, wobei sie mit genau abgestimmten Bewegungen die Hände und Arme einmal eintauchte und dann wieder herauszog.

Der Polizeiwagen, dessen Besatzung sich gerade entschieden hatte, die Tür der erwähnten Pennbude nicht aufzubrechen, hielt in der Mitte der Avenue an, und schon tanzten die Polizisten heraus und umkreisten das Fahrzeug — Sam zählte mit — fünfmal, dann stiegen sie wieder ein und fuhren in Richtung Vierzehnte davon, aber erst, nachdem Indian Annie ihre Antenne mit einer Blumengirlande geschmückt hatte.

Es gab aber auch feiner abgestimmte Momente beim Spontaneous Ballet of Avenue A. So schaltete zum Beispiel der Typ, der die Nähmaschinenreparaturwerkstätte gegenüber betrieb, alle Maschinen in seinem Laden ein und stellte dabei das Tempo so ein, dass die Nadel eines der ersten elektrisch betriebenen Modelle im Fenster sich in einer Art und Weise auf und ab bewegte, dass die Abwärtsbewegung zu Sams Freude den Rhythmus des Celestial Freakbeam Orchestra aufnahm!

Der als der Hippiekapitalist bekannte Mann kam aus seiner Zentrale heraus und begann im Stand zu joggen, wobei er eine Peyote-Kürbisrassel schüttelte, während siebzehn Konzepte für Weltraumzweigstellen psychedelischer Unternehmen ihm durch den Kopf gingen. Eine nach der anderen hauten ihn die Ideen förmlich um: ein nationales Netzwerk von Ballfotografen, die die Aura von Mädchen in miedergesprenkelten Roben und Kerlen im Smoking festhalten sollten. Wow! Aufblasbare Übernachtungskuppeln für die Dächer! Wow! Eisenbetonboote, von psychedelischen Künstlern verziert! Ewigkeit! Schuhabsatzverstecke für Marihuana! Gewaltig! Lachgas-Heißluftballonfahrten! Weiter!

Eine Frau kam in einem dunkelroten Mantel an Sam vorbei und zuckte mit den Schultern zum Rhythmus der Band, überglücklich, dass sie das Geld für die Miete zusammengekratzt hatte! Vor ihren Augen tanzte ein anderer die Straße entlang, dessen Buch gerade von einem Verlag angenommen worden war!

Dann sprang eine Studentin von einem Stadtbus und sprintete in der Mitte der breiten Avenue dahin, wobei ihre Sandalen flock! flock! flock! machten, als sie auf den Asphalt schlugen. »Ich hab’ ein Ausgezeichnet! Ich hab’ ein Ausgezeichnet!« rufend schwenkte sie ihren Aufsatz »Der existentielle Reiz des Perlenauffädelns« für die philosophische Fakultät der New York University triumphierend über ihrem Kopf.

Drei Soldaten in nagelneuen Glockenhosen und mit Perlenschmuck sahen, wie ringsum alles tanzte, und sie vollführten eine Art Tanz der Verstohlenheit, während sie ihre Uniformen heimlich da und dort in Mülltonnen steckten. Sie hatten in Indian Annies Kommune übernachtet und wollten nun nach Kanada und Schweden, um zu warten, bis der Krieg vorüber war.

In diesem Moment torkelte der unter dem Namen Snarl bekannte Barde aus dem Park heraus, in einem Leninistischen Taumel der durch Speed verstärkten Selbstbezogenheit, bei dem auf zwei Schritte vor einer zurück folgte. Er hielt Dylans Gitarre auf einem schmutzigen gestreiften Polster wie eine Reliquie vor sich. »Da«, sagte er, »gib das eurem kleinen Jungen vom Klan. Groovy meinte, er würde mich in den Arsch treten, wenn ich sie nicht zurückgeben sollte. Beachte bitte, dass ich sie künstlerisch verschönert habe.« Er zeigte mit einem Finger, der aussah, als wäre er mit Kirschenmarmelade eingeschmiert worden, auf das Wort OM neben dem Schallloch, dessen Buchstaben aus kleinen aufgeklebten Methedrin-Tabletten bestanden.

Als das wunderbare Licht langsam schwächer wurde, bemerkte Sam eine sich ununterbrochen bewegende Arabeske aus Tauben, die hochflogen und sich fallen ließen und in schönem Winkel vor der dunkelroten Front der Karpato-Russischen St.-Niklas-Kirche ein Stück weiter vorne hin und her wogten, wo John Barrett einmal den Geist von Sappho im Schnee gesehen hatte.