DER ABGRUND JENSEITS DES TODES

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From the series: Anja Spangenberg #1
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Englmair sah seinen Kollegen fragend an, als wäre er ebenfalls gespannt, worauf dieser hinauswollte.

»Momentan verdächtige ich noch gar niemanden«, entgegnete Krieger, als hätte er eingesehen, dass er zu weit gegangen war. »Ich habe nur gefragt, ob dein Mann sie kannte. Immerhin waren sie im selben Klinikum tätig. Kann ja sein, dass er uns etwas über sie oder diesen mysteriösen Johannes erzählen kann.«

Anja zuckte mit den Schultern. »Da musst du ihn schon selbst fragen, wenn du ihn triffst. Ich habe ihn schon seit Monaten nicht mehr gesehen, worüber ich ehrlich gesagt heilfroh bin, und ihn daher auch nicht nach Nadine gefragt. Dazu hatte ich im Übrigen auch keinerlei Veranlassung. Denn soweit ich weiß, waren sie in unterschiedlichen Abteilungen tätig. Ich habe alle unmittelbaren Kolleginnen und Kollegen von Nadine befragt, und dabei wurde sein Name kein einziges Mal erwähnt. Es kann natürlich sein, dass sie sich vom Sehen kannten. Aber selbst wenn das der Fall gewesen sein sollte, glaube ich nicht, dass Fabian etwas über diesen Johannes weiß, wenn nicht einmal Nadines beste Freundin mehr als seinen Namen kennt.« Anja wandte den Kopf und sah Englmair an. »Gibt es sonst noch etwas, das ihr über Nadine Weinhart wissen wollt. Es wird nämlich Zeit, dass ich ins Büro komme und anfange, meine zahlreichen anderen Fälle zu bearbeiten.«

»Kannst du uns sonst vielleicht noch etwas sagen, das uns dabei hilft, ihren Mörder zu finden?«, fragte Englmair.

Sie überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf. »Ich hatte schon nichts Greifbares in der Hand, um in den letzten drei Monaten herauszufinden, warum und wohin sie verschwunden ist. Woher soll ich also etwas wissen, was euch zu ihrem Mörder führt?«

»Hätte ja sein können«, sagte Englmair und seufzte. »Schließlich stirbt die Hoffnung zuletzt.«

Anja nickte zustimmend. Sie beneidete die beiden nicht um ihre Aufgabe. Sofern die Kriminaltechnik und der Gerichtsmediziner nichts fanden, das einen Hinweis auf den Täter gab oder dabei half, den Kreis der Verdächtigen einzugrenzen, würde es schwer werden, ihm auf die Schliche zu kommen.

Sie warf – als würden ihre Augen magnetisch davon angezogen – einen Blick auf den Leichnam. Aufgrund des Lakens konnte sie nur die Konturen erkennen. Allerdings genügte das, um zu sehen, wie abgemagert die tote Frau war.

Sie stellte sich vor, welche Qualen Nadine Weinhart vor ihrem Tod hatte erdulden müssen. Die Kopfschmerzen, die ihr der Tumor bereitete, dazu die Übelkeit. Und dann auch noch der ständige Hunger, weil ihr der Täter, aus welchem Grund auch immer, nahezu jegliche Nahrung vorenthalten hatte. Denn anders wäre es nicht möglich gewesen, dass sie in drei Monaten so viel Gewicht verloren hatte.

Sie wandte den Blick ab und seufzte schwer.

Sekunden später verließen die drei Kriminalbeamten den Sezierraum.

Anja war froh, diesen ungastlichen Ort endlich hinter sich lassen zu können. In ihrer Vorstellung wirkte er düsterer und unheilvoller, als er es in Wirklichkeit war. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, in diesem Gebäude zu arbeiten und jeden Tag hierherzukommen. Aber andere Leute hatten eben nicht die gleichen Probleme mit den Toten wie sie.

Vor dem Gebäude atmete sie tief die frische Luft ein. Sie fühlte sich, als wäre ihr eine schwere Last von den Schultern genommen worden. So ähnlich musste man sich fühlen, wenn man nach Jahrzehnten aus dem Gefängnis entlassen wurde.

Krieger und Englmair verabschiedeten sich von Anja. Krieger erinnerte sie in gewohnt unfreundlicher Art noch einmal an Nadine Weinharts Akte. Dann marschierten die beiden Kollegen zu ihrem Dienstwagen, den sie neben dem Institut im Halteverbot abgestellt hatten. Anja machte sich währenddessen auf den Weg zu ihrem eigenen Auto.

VII

Sie fuhr direkt zu ihrer Dienststelle. Normalerweise hätte sie jetzt die traurige und schwere Aufgabe gehabt, Nadines Mutter vom Tod ihrer Tochter zu unterrichten. Aber da Nadine allem Anschein nach das Opfer eines Gewaltverbrechens geworden war, mussten die siamesischen Zwillinge das übernehmen. Auch darum beneidete sie die Mordermittler nicht.

Während der Fahrt hatte sie ständig das Bild der toten Frau vor Augen, sosehr sie sich auch bemühte, es zu verdrängen. Doch es schien sich in ihren Verstand eingeätzt zu haben. So wie der Anblick einer anderen Leiche vor vielen Jahren, den Anja bis heute nicht losgeworden war und der sie bis in ihre schlimmsten Albträume verfolgte.

Sie schüttelte den Kopf, denn das war ein Gedankengang, den sie partout nicht bis zu seinem schrecklichen Ende weiterverfolgen wollte. Nicht jetzt jedenfalls, wo es so viel anderes gab, über das sie nachdenken musste. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Details im Fall von Nadine Weinhart, der über Nacht von einem Vermissten- zu einem Mordfall geworden war.

Krieger hatte völlig recht. Es war nicht mehr ihr Fall. Eigentlich könnte sie alles, was damit zusammenhing, guten Gewissens in ihren geistigen Aktenvernichter stecken und vergessen. So wie sie später auch die Akte an die Kollegen von der Mordkommission übergeben würde, nachdem sie den Vermisstenfall aufgrund des Todes der Vermissten für erledigt erklärt hatte. Erst dann wäre er für sie offiziell abgeschlossen. Dennoch konnte sie ihre Gedanken nicht daran hindern, sich mit den skurrilen Aspekten des Falles zu beschäftigen. Und es war immer noch besser, über derartige Dinge nachzudenken, als ständig das Bild der abgemagerten, von dunklen Beulen übersäten Leiche vor Augen zu haben.

Was Anja dabei am meisten zu schaffen machte, war der Umstand, dass Nadine nach Aussage des Rechtsmediziners vor weniger als zwölf Stunden gestorben war. Die Person, die sie aller Voraussicht nach entführt und drei Monate lang gefangen gehalten hatte, hatte sie aus Gründen, die sie nicht kannten, die ganze Zeit über am Leben erhalten. Allerdings hatte sie ihr kaum zu essen, sondern nur zu trinken gegeben, damit sie so stark abmagerte.

Warum?

Seitdem sie wusste, dass es sich bei dem Opfer tatsächlich um die vermisste Nadine Weinhart handelte, hatte Anja das Gefühl, versagt und die Frau im Stich gelassen zu haben. Wäre sie schon unmittelbar oder kurze Zeit nach ihrer Entführung gestorben, hätte Anja es ohnehin nicht verhindern können. Aber stattdessen hatte der Täter sie drei lange Monate in seiner Gewalt gehabt und gequält. Das war mehr als genug Zeit, um eine vermisste Person aufzuspüren. Gleichwohl hatte sie sie nicht geschafft.

Anja versuchte sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass es von vornherein keine einzige Spur und keinen Anhaltspunkt gegeben hatte, denen sie hätte nachgehen können. Der Täter war zu schlau gewesen und hatte nicht den geringsten Fehler gemacht; das tröstete sie jedoch nicht wirklich. Sie hatte schlicht und einfach ihren Job nicht gut genug gemacht. Sie hätte tiefer graben und gründlicher ermitteln müssen, um wenigstens irgendetwas herauszufinden.

Sie lenkte ihren Wagen automatisch durch den Verkehr. Dabei ging sie in Gedanken noch einmal akribisch Punkt für Punkt durch, was seit Nadine Weinharts Verschwinden geschehen und in die Wege geleitet worden war. Vielleicht fiel ihr ja dann ein, wo sie einen Fehler gemacht oder welche notwendige Maßnahme sie irrtümlicherweise unterlassen hatte. Und falls sie nichts entdeckte, sondern im Gegenteil zur Überzeugung kam, dass sie alles richtig gemacht hatte, dann musste sie sich auch nichts vorwerfen.

KAPITEL 2

I

Am Tag nach dem letzten Telefonat mit ihrer Tochter bekam Mona Weinhart am späten Vormittag einen Anruf aus dem Klinikum Großhadern. Eine Kollegin von Nadine erkundigte sich nach ihrer Tochter. Diese war in der Früh nicht zur Arbeit erschienen und auch telefonisch nicht zu erreichen.

Als sie auflegte, war es 11:22 Uhr.

Das wusste Mona deshalb so genau, weil sie in diesem Augenblick auf die Uhr sah. Und außerdem war es exakt der Moment, an dem die 61-Jährige begann, sich ernsthafte Sorgen um ihre Tochter zu machen. Denn ein derartiges Verhalten war absolut untypisch für Nadine. Wenn es einen vernünftigen Grund gegeben hätte, nicht zur Arbeit zu erscheinen, und wenn Nadine die Möglichkeit gehabt hätte, jemandem darüber zu informieren, dann hätte sie das auch getan. Da sie es allerdings versäumt hatte, musste ihr etwas zugestoßen sein. Das war nur logisch. Und davon war die Mutter überzeugt.

Sie dachte natürlich sofort an die schlimmen Kopfschmerzen und die Übelkeit, unter denen Nadine in den letzten Wochen permanent gelitten hatte. Zuletzt hatte sie ihre Mutter beruhigt und behauptet, die Schmerztabletten, die ihr der Arzt verschrieben hatte, würden helfen. Doch Mona Weinhart kannte ihre Tochter gut genug, um zu wissen, dass sie ihr nicht die ganze Wahrheit erzählt hatte. Deshalb hatte sie sofort das schreckliche Bild vor Augen, wie ihre Tochter hilflos oder – Gott bewahre! – sogar tot in ihrer Wohnung lag.

Mona war kein sehr gläubiger Mensch. Franz, ihr verstorbener Ehemann, war überzeugter Atheist gewesen. Daher hatte Religion in ihrer Familie oder bei Nadines Erziehung nie eine Rolle gespielt. Aber Mona war in einem winzigen niederbayerischen Dorf aufgewachsen. Dort war ihr der katholische Glaube von klein auf eingetrichtert worden und war nicht auszurotten. Er hob vor allem in Notsituationen sein dornengekröntes Haupt, sodass Mona gelegentlich im Stillen ein Bittgebet sprach. Das tat sie auch jetzt. Sie bat Gott inständig darum, dafür zu sorgen, dass es ihrem einzigen Kind gutgehen und es sich baldmöglichst bei ihr melden möge.

Gottvertrauen war zwar schön und gut, allerdings nicht genug. Entschieden besser war es, sie sah selbst nach dem Rechten.

 

Deshalb nahm die den Schlüssel, den sie für Notfälle in Verwahrung hatte – Und wenn das kein Notfall ist, was dann? –, und fuhr mit der U-Bahn in die Nähe von Nadines Wohnung im Stadtteil Hadern unweit der Klinik. Den Rest des Weges ging sie zu Fuß.

Seit einer leichten Herzattacke, die sie in einem Anfall von Galgenhumor manchmal als letzte freundliche Warnung des Sensenmannes bezeichnete, bemühte sie sich, gesünder zu leben. Dazu gehörte, dass sie im Gegensatz zu früher auf übermäßigen Kaffeekonsum verzichtete. Dafür ging sie öfter an die frische Luft und unternahm ausgedehnte Spaziergänge, statt ständig nur in der Wohnung zu hocken und Kreuzworträtsel zu lösen oder fernzusehen. Deshalb war sie für ihr Alter noch erstaunlich fit und vergleichsweise schlank. Nur ihr kurz geschnittenes Haar, das früher hellblond gewesen war, war längst schneeweiß geworden. Nadine hatte ihr geraten, es zu färben. Doch Mona hatte sich geweigert. Sie war der Meinung, dass man zu seinem Alter stehen sollte.

Nach wenigen Minuten Fußmarsch erreichte sie das dreistöckige Gebäude, in dem Nadine wohnte. Mona wappnete sich innerlich und war auf alles gefasst, als sie die Wohnung betrat. Sogar – Gott behüte! – darauf, die Leiche ihres einzigen Kindes zu finden. Aber die Wohnung war verlassen. Und Mona fand auch nicht das geringste Anzeichen dafür, dass Nadine sich in einer Notlage befinden könnte. Alles sah ordentlich und aufgeräumt aus. Es erweckte den Eindruck, als würde Nadine jeden Moment zur Tür hereinkommen, um ihre Mutter überrascht fragen, warum sie den Notfallschlüssel benutzt hatte, um in die Wohnung zu gelangen.

Vielleicht gibt es ja doch eine harmlose Erklärung für Nadines Abwesenheit. Und sie hat nur nicht daran gedacht, jemanden darüber zu informieren, sagte sich Mona, während sie im Wohnungsflur stand und überlegte, was sie jetzt tun sollte. Der Gedanke war nicht nur tröstlich, sondern sogar in der Lage, das Bild der toten Tochter aus ihrem Kopf zu verdrängen. Gern hätte sie daran geglaubt, wäre nach Hause zurückgekehrt und hätte dort darauf gewartet, dass Nadine sich bei ihr meldete und dafür entschuldigte, dass sie es bislang nicht getan hatte. Dann müsste sie sich nicht länger diese furchtbaren Sorgen um ihre Tochter machen.

Sie schüttelte jedoch den Kopf. Nein, so einfach konnte die Sache nicht sein! Nadine war immer zuverlässig. Wenn sie daher nicht zur Arbeit erschien und auch niemandem Bescheid gab, musste ihr zwangsläufig etwas zugestoßen sein.

Mona legte die Hand auf ihr Herz, das schon seit dem Telefonat mit Nadines Arbeitskollegin schneller als üblich schlug. Sie dachte zuerst an ihren eigenen Infarkt vor zwei Jahren, der glimpflich verlaufen war. Dann an den ihres Mannes, der so heftig ausgefallen war, dass er ihn von einer Sekunde zur anderen das Leben gekostet hatte. Sie verdrängte diese Überlegungen allerdings sofort wieder. Sorgen um ihr eigenes Wohlergehen konnte sie sich immer noch machen, sobald sie wusste, dass es Nadine gutging. Doch solange das nicht der Fall war, durfte sie keine Rücksicht auf sich selbst nehmen, sondern sich wie jede liebende Mutter nur Gedanken um ihre Tochter machen.

Sie überlegte, was sie in einer Situation wie dieser tun konnte. Ihr erster Gedanke war natürlich, die Polizei darüber zu informieren und Nadine als vermisst zu melden. Aber dann erinnerte sie sich an einen Krimi, den sie unlängst gesehen hatte. War es ein Tatort oder eine Folge von »Der Alte«? Ach, egal!. Darin war von einer 24-Stunden-Regel gesprochen worden. Demnach konnten Erwachsene erst als vermisst gemeldet werden, wenn sie mehr als 24 Stunden verschwunden waren. Doch das war hier nicht der Fall. Sie selbst hatte vor weniger als 24 Stunden mit Nadine telefoniert.

Was dann?

Sie hörte Schritte im Treppenhaus. Dadurch kam sie auf die Idee, die Nachbarn zu befragen, ob jemand Nadine am heutigen Tag gesehen hatte. Rasch verließ sie die Wohnung. Im Treppenhaus traf sie auf einen Mann. Er war mindestens zehn Jahre älter als sie und wohnte ein Stockwerk über ihrer Tochter. Aber er hatte Nadine schon seit Tagen nicht gesehen.

Enttäuscht klingelte Mona bei der unmittelbaren Wohnungsnachbarin in derselben Etage. Die Frau, die ihr öffnete, sah uralt und tatterig aus. Mona hatte wenig Hoffnung, von ihr etwas Vernünftiges zu erfahren. Sie wurde jedoch angenehm überrascht. Genoveva Spitzeder, wie die Dame laut Türschild hieß, hatte trotz ihres hohen Alters einen hellwachen Verstand.

»Kommen Sie doch bitte herein und trinken eine Tasse Kaffee mit mir«, sagte die alte Frau herzlich. Sie war anderthalb Köpfe kleiner als Mona, die mit ihren 1,68 schon nicht besonders groß war. Außerdem war sie extrem schlank und zierlich. Mit ihren stahlgrauen Haaren, die an ihrem Hinterkopf zu einem Dutt verknotet waren, und den runden Brillengläsern wirkte sie wie eine Miniatur-Großmutter aus dem Bilderbuch. »Ich hab Käsekuchen da.«

Mona war normalerweise ein Fan von Käsekuchen. Sie konnte schlecht nein sagen, wenn ihr einer angeboten wurde. Doch in diesem Fall musste sie zu ihrem Bedauern standhaft bleiben. Sie hatte keine Zeit für einen ausgedehnten Kaffeeklatsch, wie er der alten Dame vermutlich vorschwebte. Und sie ahnte, dass sie nicht so schnell davonkommen würde, wenn sie die Einladung annahm. »Nein danke«, lehnte sie das Angebot höflich, aber entschieden ab.

Frau Spitzeder gab nicht so schnell auf. »Es macht mir überhaupt keine Mühe«, sagte sie, als hätte Mona etwas anderes behauptet. »Ich bin zwar schon dreiundneunzig Jahre alt, führe meinen Haushalt aber noch immer allein.«

Mona nickte anerkennend, bevor sie den Kopf schüttelte. »Ich hab leider trotzdem keine Zeit, um mit Ihnen Kaffee zu trinken und Käsekuchen zu essen, Frau Spitzeder. Dennoch vielen Dank für die Einladung.«

»Jammerschade.« Die alte Frau zuckte mit den Schultern.

»Ich wollte Sie nur etwas fragen«, kam Mona endlich auf ihr eigentliches Anliegen zu sprechen.

»Und was?«

»Haben Sie meine Tochter Nadine in den letzten Tagen gesehen?«

Frau Spitzeder dachte nur kurz nach, bevor sie nickte. »Das habe ich in der Tat. Ich habe sie erst gestern im Hausflur getroffen. Sie hatte nämlich Urlaub.«

»Urlaub?«

Die alte Frau nickte erneut. »Ihre Tochter hatte einen wichtigen Untersuchungstermin beim Arzt. Dafür hatte sie sich extra Urlaub genommen. Ich habe sie gefragt, ob es etwas Ernstes sei. Doch sie meinte, es handle sich nur um eine Routineuntersuchung und ich solle mir keine Sorgen machen.«

»Hat sie sonst noch etwas gesagt?«

Frau Spitzeder schüttelte den Kopf. »Nein. Sie hatte es eilig und nicht viel Zeit, um es noch rechtzeitig zu ihrem Termin zu schaffen.«

»Und Sie sind sich sicher, dass das gestern war?«

»Natürlich! Das weiß ich genau.« Die alte Frau machte einen entrüsteten Eindruck.

»Vielen Dank«, sagte Mona. »Sie haben mir sehr geholfen.«

»Gern geschehen. Und Sie wollen wirklich nicht kurz für eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen hereinkommen?«

Mona lehnte noch einmal höflich ab. Sie verabschiedete sich, während sie über das nachdachte, was die Nachbarin ihr erzählt hatte.

Sie hatte nicht gewusst, dass Nadine gestern Urlaub gehabt hatte. Davon hatte auch die Kollegin am Telefon nichts gesagt. Ebenso wenig hatte sie von der angeblichen Routineuntersuchung gewusst. Nach dem Gespräch mit der Nachbarin machte sie sich noch größere Sorgen um ihre Tochter.

Mona klingelte an allen anderen Türen im Haus, hatte aber nur im Erdgeschoss Glück. Eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm öffnete. Sie konnte ihr aber auch nicht weiterhelfen, denn sie hatte Nadine zum letzten Mal am Wochenende gesehen.

Niedergeschlagen kehrte Mona in Nadines Wohnung zurück. Sie wollte eigentlich so schnell wie möglich nach Hause. Nur für den Fall, dass ihre Tochter zwischenzeitlich dorthin gekommen war oder sie anzurufen versucht hatte. Vorher wollte sie aber noch rasch ein paar Telefonate führen.

Zuerst rief sie ihren Hausarzt an, zu dem auch Nadine ging, wenn sie Beschwerden hatte. Die Sprechstundenhilfe stellte sie zu ihm durch. Sie teilte ihm mit, dass sie ihre Tochter nicht finden könne und Nadine nicht zur Arbeit gegangen, sondern allem Anschein nach verschwunden sei. Daraufhin erzählte er ihr, dass Nadine wegen ihrer Kopfschmerzen zu ihm gekommen sei und er sie an einen Kollegen, einen Facharzt für Neurologie, verwiesen habe. Er gab ihr die Nummer, woraufhin sie dort anrief. Die Frau am anderen Ende der Leitung teilte ihr mit, dass der Doktor momentan einen Patienten behandele, sie aber umgehend zurückrufen würde. Sie legte auf und suchte im Telefonbuch, das sie in einer Schublade der Kommode fand, nach der Nummer von Nadines bester Freundin Anne. Von ihr erfuhr sie, dass Nadine gestern Abend angerufen hatte. Aufgrund der Uhrzeit, die Anne ihr nannte, musste es unmittelbar nach dem Telefonat mit ihr gewesen sein. Auch der Freundin hatte Nadine erzählt, dass es ihr gutginge. Und sie hatte von einem Mann namens Johannes erzählt, den sie kennengelernt hätte und der sehr nett sein sollte. Die Alarmglocke in Monas Kopf, die nicht mehr verstummen wollte, begann sofort schriller und nervtötender zu läuten. Allerdings konnte Anne ihr nicht mehr über diesen Mann erzählen, denn mehr als seinen Namen hatte sie von Nadine nicht erfahren. Diese hatte das Gespräch beendet, weil sie einen Anruf ihrer Mutter erwartet hatte. Dabei hatten sie kurz zuvor miteinander telefoniert.

Eine faustdicke Lüge!

Zuerst die Tatsache, dass sie der Mutter nichts von dem Urlaubstag und dem Untersuchungstermin erzählt hatte. Und dann hatte sie auch noch ihre beste Freundin belogen.

Was ging hier vor? Und wieso hatte Nadine Anne belogen? Vermutlich aus dem einfachen Grund, weil sie Geheimnisse hatte! Und das sogar vor der eigenen Mutter! Denn sie hatte ihr und Anne nicht nur den Besuch beim Neurologen, sondern auch den Untersuchungstermin verschwiegen. Allerdings hatte sie das nach Monas Ansicht zweifellos in bester Absicht getan, um sie nicht grundlos zu beunruhigen.

Aber was war mit diesem mysteriösen Johannes? Gab es ebenfalls einen guten Grund, ihrer Mutter nichts und der besten Freundin kaum etwas von ihm zu erzählen?

Wohl kaum!

Doch viel mehr als dieser Mann beunruhigte Mona der Gedanke an die Kopfschmerzen, die ihre Tochter geplagt hatten. Denn wenn Nadine gestern tatsächlich einen Untersuchungstermin gehabt und dafür extra Urlaub genommen hatte, war das gewiss nicht grundlos geschehen.

Sie versprach Anne, sie auf dem Laufenden zu halten. Außerdem bat Mona sie, sich bei Freunden und Bekannten umzuhören, ob jemand Nadine seit gestern Abend gesehen oder gesprochen hatte oder vielleicht sogar wusste, wo sie sich aufhielt. Dann legte sie rasch auf, weil sie Angst hatte, den Rückruf des Neurologen zu verpassen. Sie lief ruhelos im Flur hin und her, während sie darauf wartete, dass das Telefon klingelte. Als es das endlich tat, fuhr sie dennoch erschrocken zusammen und stieß einen spitzen Schrei aus. Sie lief zum Apparat und hob den Hörer ans Ohr. Sie wünschte sich inständig, es wäre Nadine, die zum Haus ihrer Mutter gekommen war, dort festgestellt hatte, dass der Ersatzschlüssel fehlte, und hier anrief. Doch es war der Neurologe. Nachdem sie ihm den Sachverhalt geschildert hatte, erteilte er ihr bereitwillig Auskunft. Er sagte, dass er Nadine wegen ihrer Beschwerden zur Kernspintomografie in eine radiologische Praxis geschickt habe. Allerdings hatte er noch keinen Befundbericht der Praxis bekommen. Er versprach, sie anzurufen, sobald der Bericht in den nächsten Tagen eingehen würde.

Nachdem Mona aufgelegt hatte, sah sie auf die Uhr. Seit Nadines letztem telefonischem Kontakt mit Anne waren noch keine 24 Stunden vergangen. Aber sie wusste nicht mehr, was sie sonst tun sollte, um ihre Tochter zu finden. Sie beschloss, nach Hause zu gehen. Sofern Nadine nicht dort war und sie auch keine Nachricht ihrer Tochter auf dem Anrufbeantworter fand, wollte sie auf diese blöde 24-Stunden-Regel pfeifen. Dann würde sie umgehend die Polizei einschalten, um eine Vermisstenanzeige zu erstatten.

II

Eine halbe Stunde später sprach sie mit einem Beamten der Polizeiinspektion 41, die auch für den Stadtteil Hadern zuständig war. Dabei erfuhr sie, dass die 24-Stunden-Regel eine Erfindung von Film und Fernsehen war.

Der Polizist hatte sich ihr als Polizeiobermeister Tim Fischer vorgestellt. Seine sympathische Stimme hörte sich so an, als wäre er so alt wie ihre Tochter.

 

Er erläuterte ihr, dass die Polizei bei Erwachsenen erst dann eine Vermissten-Fahndung einleiten konnte, wenn drei Voraussetzungen erfüllt waren.

Erstens musste die Person ihren gewohnten Lebenskreis verlassen haben. Das umfasste das gesamte Umfeld, also nicht nur den Wohn-, sondern auch den Arbeits- und Freizeitbereich. Außerdem musste die Abwesenheit dem bisherigen Lebensrhythmus widersprechen und ein angemessener Zeitraum für die Rückkehr überschritten worden sein.

Zweitens musste der derzeitige Aufenthalt unbekannt sein. Das war der Fall, wenn nicht bekannt war, an welchem Ort sich die vermisste Person aufhielt.

Drittens musste von einer Gefahr für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit ausgegangen werden. Nach den Umständen des Einzelfalls musste also eine nicht unerhebliche Körperverletzung oder der Tod eines Menschen durch eine Straftat, einen Unfall, Hilflosigkeit oder eine Selbsttötungsabsicht drohen. Eine Ausnahme hiervon war lediglich bei Minderjährigen vorgesehen. Bei ihnen wurde grundsätzlich von einer Gefahr für Leib und Leben ausgegangen, sobald sie ihren gewohnten Lebenskreis verlassen hatten und ihr Aufenthalt unbekannt war. Zumindest solange die Ermittlungen nichts Gegenteiliges ergaben.

»In Nadines Fall«, sagte der Polizeibeamte, »sind die ersten beiden Voraussetzungen unzweifelhaft gegeben. Auch wenn man darüber streiten kann, ob der angemessene Zeitraum für eine Rückkehr bereits überschritten ist. Aber es fehlt eindeutig an der Gefahr für Leib und Leben.«

Daraufhin erzählte Mona ihm von den Kopfschmerzen, der Übelkeit, den Besuchen bei den Ärzten und dem gestrigen MRT-Termin in der radiologischen Praxis. All dies ließ sie sehr wohl um Leib und Leben ihrer Tochter fürchten. Doch das überzeugte den Beamten am anderen Ende der Leitung ebenfalls nicht, da sie momentan noch nichts Konkreteres vorweisen konnte.

»Im Gegensatz zu Kindern«, sagte POM Fischer, »dürfen Erwachsene, die im Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte sind, ihren Aufenthaltsort frei bestimmen, ohne ihn Angehörigen oder Freunden mitteilen zu müssen. Es ist dann nicht die Aufgabe der Polizei, ihren Aufenthaltsort zu ermitteln. Zumindest solange keine gesicherten Erkenntnisse über eine Gefahr für Leib und Leben vorliegen.«

Mona hatte in diesem Moment gute Lust, den Polizisten anzuflehen oder anzuschreien. Sie konnte sich aber nicht entscheiden, welcher Reaktion sie den Vorzug geben sollte.

»Allerdings«, fügte er hinzu, bevor sie eine Entscheidung fällen konnte, »ist jeder Polizeibeamte zur Entgegennahme von Anzeigen über vermisste Personen und zur Einleitung von Sofortmaßnahmen verpflichtet. Und da ich nicht hundertprozentig ausschließen kann, dass das Ergebnis der MRT-Untersuchung Nadine zu einer Kurzschlusshandlung verleitet hat, werde ich Ihre Vermisstenanzeige aufnehmen und erste Fahndungsmaßnahmen einleiten.«

Mona war erleichtert und bedankte sich. Sie selbst konnte schließlich nicht mehr tun, um Nadine zu finden, als sie bislang schon getan hatte. Aber wenn sich die Polizei endlich der Sache annahm, musste doch bald etwas dabei herauskommen. Oder etwa nicht?

In der nächsten halben Stunde ließ sich der Polizeibeamte sämtliche Personalien und eine detaillierte Personenbeschreibung ihrer Tochter geben. Er fragte noch einmal nach den konkreten Umständen des Falls, die er direkt in den Computer eingab, denn sie konnte das Klicken der Tasten hören. Dann erkundigte er sich, welche Maßnahmen sie selbst ergriffen habe. Und auf die Frage nach möglichen Ursachen oder Beweggründen für Nadines Verschwinden konnte sie nur erneut auf ihre Beschwerden und die gestrige Untersuchung hinweisen.

Nachdem sie alle erforderlichen Angaben zur Vermisstenanzeige gemacht hatte, bat der Polizist sie, ein aktuelles Foto ihrer Tochter vorbeizubringen, falls Nadine in zwei Tagen noch immer nicht aufgetaucht sein sollte.

»Welche Maßnahmen werden Sie denn nun konkret einleiten?«, fragte Mona.

»Wegen der momentan noch nicht ersichtlichen Gefahr für Leib und Leben ihrer Tochter kann ich leider keine umfassenden Fahndungsmaßnahmen in die Wege leiten«, erklärte Fischer. »Ich werde allerdings sämtliche Kollegen, die im Großraum München auf Streife sind, darum bitten, nach einer Frau Ausschau zu halten, auf die Nadines Beschreibung passt. Außerdem werde ich alle Krankenhäuser, Rettungsleitstellen und Strafanstalten im München kontaktieren und auf eine eventuelle Einlieferung ihrer Tochter überprüfen. Mehr kann ich aber momentan beim besten Willen nicht tun.«

Mona bedankte sich trotzdem noch einmal überschwänglich bei ihm. Sie war so froh, dass sich endlich eine kompetente Person mit dem Verschwinden ihrer Tochter befasste, dass sie sogar in Tränen ausbrach. Erstaunt fragte sie sich, warum das so lange gedauert hatte und sie nicht schon viel früher zu weinen angefangen hatte. Doch dann wurde ihr klar, dass sie soeben die Verantwortung für die Suche nach ihrer Tochter abgegeben hatte. Jetzt, nachdem ihr diese Bürde von den Schultern genommen worden war, musste sich nicht länger stark sein, sondern konnte ihren angestauten Gefühlen endlich freien Lauf lassen.

Der Polizist sprach beruhigend auf sie ein. Er bemühte sich, ihr die Angst zu nehmen, indem er ihr erklärte, dass die meisten Vermissten schon nach wenigen Tagen wieder wohlbehalten auftauchten. »Oft verlassen sie freiwillig ihren gewohnten Lebenskreis, um sich eine kurze Auszeit von ihren Alltagsproblemen und -sorgen zu nehmen. Und so, wie Sie mir den Zustand von Nadines Wohnung geschildert haben, sieht es für mich ganz danach aus, als sei das einer dieser Fälle. Gewiss wird sich Ihre Tochter schon bald, vielleicht sogar noch heute, bei Ihnen melden.«

Allmählich beruhigte sich Mona, und ihre Tränen versiegten. Allerdings lag das nicht an den Worten des Mannes, sosehr er sich auch bemühte, ihr die Sorgen und Ängste zu nehmen. Doch das war nicht seine Schuld. Es war ihre eigene. Denn sie konnte noch immer nicht glauben, dass Nadine einfach verschwunden war, ohne jemandem Bescheid zu geben. So rücksichtslos und egoistisch war ihre Tochter nicht. So war sie von Mona und ihrem Mann auch nicht erzogen worden. Selbst wenn die MRT-Untersuchung etwas Besorgniserregendes ergeben hatte, wäre sie nicht einfach davongelaufen. Ganz abgesehen davon konnte man vor gesundheitlichen Problemen nicht weglaufen. Sie begleiteten einen überallhin. Nein, Mona war weiterhin davon überzeugt, dass mehr hinter Nadines Verschwinden steckte und dass ihr – Gott behüte! – etwas zugestoßen war.

»Ich gebe Ihnen sofort Bescheid, sollte ich etwas über Nadines Schicksal oder Verbleib erfahren«, versprach der Polizeibeamte. »Im Gegenzug kontaktieren Sie mich bitte umgehend, sobald Nadine auftaucht oder sich meldet. Und rufen Sie mich bitte an, wenn Sie das Ergebnis der MRT-Untersuchung vorliegen haben.«

Sie verabschiedeten sich voneinander. Danach war Mona wieder allein mit ihren Ängsten, während die Maschinerie der ersten Fahndungsmaßnahmen in Gang gesetzt wurde.

Nachdem sie die Verantwortung für die Suche nach ihrer Tochter auf jemand anderen übertragen hatte, wusste Mona nicht, was sie mit sich anfangen sollte. Sie machte sich eine Tasse löslichen koffeinfreien Kaffee. Dann begann sie, das Haus zu putzen. So hatte sie wenigstens etwas Sinnvolles zu tun. Allerdings entfernte sie sich dabei nie weit vom Telefon. Sie wollte sofort am Apparat sein, falls Nadine, der Polizist oder Anne anrief.

III

Das Telefon klingelte erst am späten Vormittag des nächsten Tages. Mona eilte zum Gerät und nahm mit zitternder Hand ab. Aber es war keine der erhofften Personen, sondern nur der Neurologe am Apparat. Er erkundigte sich zunächst, ob Nadine noch immer verschwunden sei.