AlleinSein:

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AlleinSein: Impulse für das Ich

AlleinSein:

Impulse für das Ich

Dorothee Boss

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

1. Auflage 2017

© 2017 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: Christine Eisner (Foto: Marc Dietrich, Fotolia)

Satz: Crossmediabureau – http://xmediabureau.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

ISBN 978-3-429-03998-1 (Print)

ISBN 978-3-429-04888-4 (PDF)

ISBN 978-3-429-06307-8 (ePub)

Inhalt

Einleitung

Die vielen Seiten des Alleinseins

Allein oder einsam?

Aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet

Alleinsein und Alleinleben

Alleinsein als Gefühl

Alleinsein als Kraftquelle

Ruhe und Stille

Selbsterkenntnis

Selbstmitgefühl

Im Alleinsein erwachsen werden

Alleinsein als Entwicklungsweg

Alleinsein und Beziehungen

Alleinsein als Gespräch mit Gott

Handlungsoptionen

Versöhnung mit sich selbst

Tagesstrukturen

Selbstpflege

Für andere da sein

Sinn finden

Humor

Literatur zum Weiterlesen

Einleitung

Das Alleinsein hat einen ambivalenten Ruf. Auf der einen Seite gilt es seit jeher als Raum für Selbstfindung und Reflexion über das Eigene; auf der anderen Seite umweht es die herbe Aura des Mangels und einer bedrohlichen Einsamkeit. Manche Menschen fürchten das Alleinsein und insbesondere das Alleinleben, weil es rasch mit dem Bild von Leere, Isolation, Ausweg- und Sinnlosigkeit verknüpft wird. Anscheinend von allen verlassen, fristet der Mensch, der alleine lebt, ein ungesichertes, trauriges und einsames Dasein mitten in der Gesellschaft. Von selbst kann er sich nicht daraus befreien; er scheint von anderen abhängig, die auf ihn zugehen und ihn aus dieser misslichen Lage herauslösen.

Hinter dieser Vorstellung steht ein Missverständnis: Tatsächlich sind kleine Kinder, wenn sie von ihren Eltern oder anderen Bezugspersonen allein gelassen werden, in ihrer Existenz bedroht. Sie sind weder in der Lage, sich selbst zu ernähren noch ihren Lebensunterhalt zu sichern. Gefahren können sie nicht selbstständig abwehren. Sie können kaum Türen öffnen, um Hilfe für sich zu holen. Sie benötigen notwendigerweise erwachsener Zuwendung und Unterstützung und sind lange Zeit auf diese existentiell angewiesen.

Dagegen ist ein erwachsener Mensch in der Regel in der Lage, sein Leben aktiv zu steuern. Er kann auf andere Menschen zugehen und mit ihnen kommunizieren. Er kann seine Bedürfnisse mitteilen und Hilfe suchen. Er kann sich selbst ernähren und pflegen. Er ist nicht zur Passivität verdammt und hilflos von anderen abhängig, um leben zu können. Bedrohungen kann er abwehren und sie bewältigen. Er hat die Fähigkeiten, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ihm stehen viele Möglichkeiten im Leben offen. Das Alleinsein hat für den Erwachsenen stets Türen nach draußen, die er nur zu öffnen braucht.

Von dieser Prämisse geht dieses Buch aus. Es will Leser ansprechen, die ihr Alleinsein bzw. ihre Situation des Alleinlebens aus einer erwachsenen Haltung heraus begegnen möchten. Es ist dabei unerheblich, ob diese Situation freiwillig oder unfreiwillig auf sich genommen wurde, erwünscht und bewusst gewählt oder durch menschliche Beziehungen oder biographische Einflüsse bewirkt wurde.

Sicher ist: Alleinsein und Alleinleben stellen kein unabwendbares, unbeherrschbares und düsteres Schicksal dar. Aber nicht von außen wird sich das Alleinsein zu einer erfüllenden Lebensform wandeln, sondern in erster Linie von innen – aus mir selbst – heraus.

Das Buch möchte deshalb Menschen ansprechen, die sich aus unterschiedlichen Beweggründen mit dem Alleinsein und Alleinleben beschäftigen und Impulse zum Nachdenken zu diesem Thema suchen.

Es geht hier allerdings nicht darum, jeweils das Alleinleben oder das Leben in einer Paarbeziehung/Familie als die ideale Lebensform zu propagieren. Dieses Buch versteht Alleinsein nicht als anspruchsvolle Kunst, sondern als Erweiterung der Perspektiven und Möglichkeiten, das eigene Ich, das Aufspüren und Gestalten von bislang unerkannten inneren und äußeren Räumen zu finden, um von dort aus ein einfühlsamerer, verständnisvollerer und reiferer Mensch unter Menschen zu werden.

Ein konstruktiver Umgang mit dem Alleinsein ist für Erwachsene stets möglich. Dies gilt für Krisenzeiten wie für den Alltag. Durch aufmerksame Wahrnehmung seiner selbst und mithilfe einfacher Maßnahmen lassen sich die vorhandenen eigenen Kräfte finden und bündeln; das Defizitäre am Alleinsein lässt sich durchaus positiv wandeln, indem Energien und Kraftquellen genutzt werden, um diese Situation aktiv zu bewältigen.

Dabei kann es helfen, den Umgang mit dem Alleinsein/Alleinleben als individuellen Entwicklungsweg zu verstehen. Das Bild des Weges hat großes Potenzial für eine lebensbejahende Sichtweise; denn es wirkt dynamisch und lebendig: Ein Weg kann in unterschiedlichen Weisen und Geschwindigkeiten begangen werden. Ungeahnte Wendungen und unverhoffte Begegnungen sind möglich. Wege bergen Risiken, aber auch Potentiale. Sie fordern zu bewussten Entscheidungen auf – will ich jenen Abschnitt gehen oder diesen?

In der Rückschau eröffnen sich möglicherweise Sinnperspektiven auf Vergangenes, Erfüllendes und Schmerzhaftes. Findet sich Sinn im Alleinsein, kann dies ein besseres Verständnis für sich selbst und das je eigene Handeln, aber auch für das von anderen Menschen ergeben. Selbstmitgefühl, Empathie und Klarheit können wachsen.

Alleinsein und Alleinleben – verstanden als Entwicklungsweg – öffnen die Perspektiven in verschiedene Richtungen. Dieser lädt zur kreativen Gestaltung und Entfaltung des Lebens ein. In einer solchen Sichtweise ist diese Situation nicht mehr eine bedrohliche Sackgasse, aus der kein Weg mehr herausführt, sondern eine Möglichkeit, seine eigene Lebensrichtung bewusst für sich selbst zu bestimmen. Das Leben wird zu „meiner“ Reise. Obwohl Alleinsein und Alleinleben manchmal Angst und Unsicherheit auslösen können, bieten sie doch Platz für Neugier, Spannung und Lebenslust.

Aus solchen Erfahrungen und Einsichten ist dieses Buch entstanden.

Glaube und Religion, Literatur, Kunst und Musik sind seit jeher bedeutsame Ressourcen für Menschen, um bestimmte biographische Anforderungen zu bearbeiten und zu bewältigen. Sie bieten Erkenntnisse an, die vielen Menschen Halt, Selbsterkenntnis und Reifungsprozesse ermöglicht haben. Wir werden in diesem Buch einige Beispiele kennen lernen.

Auch der christliche Glaube ist eine solche Ressource, die wertvolle Impulse für Selbstfindung in und angesichts des Alleinseins und Alleinlebens bietet. In Bibel und Christentum finden sich zahlreiche Beispiele von Menschen, die sich erst im Alleinsein ihrer selbst und ihrer Beziehung zu Gott und anderen Menschen bewusst wurden. Dort fanden sie – manchmal ungewollt, manchmal geplant – Kraft und Energie für ihre Aufgaben und kehrten gestärkt in ihren Alltag zurück. Suchende, Verlassene, Wissende und Aussteiger in der Bibel, allein oder zu mehreren, haben das Alleinsein nicht nur als Bedrohung, sondern besonders auch als Raum der inneren Freiheit erlebt.

Wer bin ich, wenn ich allein lebe? Wer bin ich für mich selbst, wenn ich mich nicht (mehr oder für eine gewisse Zeit) durch eine Paarbeziehung, Familie, Gruppe definiere? Im Alleinsein – im Alleinleben kann sich ein eigener Raum für sich selbst eröffnen. Es kann ein Raum des Erwachsenwerdens und der inneren Reife sein und ein Ort, an dem sich die eigene Gottesbeziehung vertiefen kann.

Vorab seien jedoch Folgendes bemerkt:


Das Buch will lebenspraktische, spirituelle Hilfen geben. Wer außerdem psychologisch-psychotherapeutische Unterstützung sucht, kann sich zunächst in der beigefügten Literatur orientieren.
Das Buch ersetzt nicht die Konsultation von Fachleuten. Fachärzte, Psychotherapeuten oder psychologisch kompetente Seelsorger sollten aufgesucht werden, wenn jemand unter Alleinsein/Einsamkeit leidet, in einer Lebenskrise steckt oder sogar Gedanken an Suizid auftreten. Lassen Sie sich kompetent helfen.
Wer sofort einen Gesprächspartner benötigt, findet rund um die Uhr Hilfe bei der Telefonseelsorge. Sie ist telefonisch unter den kostenlosen Hotlines 0800-1110111 und 0800-1110222 im anonymen und vertraulichen Rahmen zu erreichen. Auch per Email kann die Telefonseelsorge unter www.telefonseelsorge.de durchgehend angeschrieben werden.

Die vielen Seiten des Alleinseins

 

Allein oder einsam?

Die beiden deutschen Begriffe „allein“ und „einsam“ ähneln sich und enthalten beide die Silbe „ein“. Laut Duden bezieht sich „einsam“ auf eine einzelne Person. „Allein“ bzw. „alleine“ ist dagegen ein zusammengesetztes Adjektiv aus dem althochdeutschen „all“ (ausgewachsen, alt) und „ein“. Es bedeutet eher „einzig“ oder „einzigartig“, drückt demnach auch etwas Unverwechselbares aus.

Obwohl beide Begriffe im Deutschen nicht trennscharf verwendet werden und ihre Bedeutungen im Alltag ineinanderfließen, wird inhaltlich meist zwischen „alleine sein“ und „einsam sein“ bzw. „Alleinsein“ und „Einsamkeit“ unterschieden. Dabei haben sich die Einstellungen zu beiden Situationen des Menschseins im Laufe der Geschichte gewandelt und in den verschiedenen Kulturen verschiedene Ausprägungen erfahren.

In der frühen Menschheitsgeschichte galt das Alleinsein bzw. Alleinleben als existentielles Risiko. Bedrohungen durch Raubtiere, durch Nahrungsmangel und Naturkatastrophen konnten nur im Schutz der Gruppe bewältigt werden. In der Regel war es damals ein sicheres Todesurteil, nicht mit seiner Gruppe zusammenzuleben, sondern allein zu bleiben.

Doch gab und gibt es seit Langem in vielen Kulturen Einsiedler, Eremiten, Asketen und Aussteiger in Wüste, Wald und Einöde. Alle Religionen haben religiös Suchende hervorgebracht, die sich der Welt (zumindest zeitweise) um eines höheren Zwecks willen entzogen haben.

Für das Christentum sind ab dem 3. Jahrhundert die sogenannten Anachoreten (altgriechisch: die sich aus der Gruppe zurückziehen) bezeugt: meist Männer und (seltener) Frauen, die sich allein, zu zweit oder in kleinen Gruppen in entlegene, wüstenartige Regionen Ägyptens, Palästinas und Syriens zurückzogen, um dort ihre persönliche Freiheit zu finden, sich radikal Gott und der Stille auszusetzen. Manche wurden für ihr Leben im Gebet und äußerster Einfachheit fern von der Bevölkerung verehrt. Wer diese Erfahrungen der Leere, Stille und Einsamkeit überzeugend bewältigte, konnte vom christlichen Aussteiger aus der antiken Gesellschaft zum spirituell-therapeutischen Ratgeber – zum „Wüstenvater“ (Abba) oder zur „Wüstenmutter“ (Amma) – werden.

Der heilige Antonius (ca. 251–356) gilt als Paradebeispiel eines christlichen Einsiedlers, der in seiner Hütte allein in der Einöde zu Gott finden will und dabei unverhofft mit seinen inneren Dämonen konfrontiert wird. Doch kann er erfolgreich gegen sie ankämpfen und erfährt dadurch Anerkennung als spiritueller Führer.

Auch der heilige Martin (ca. 316–397) war ein halbes Jahrhundert später ein entschiedener Verehrer der strengen Asketen im fernen Ägypten; ihn interessierte weniger das angetragene Bischofsamt, sondern ein Leben in radikaler Einfachheit, um Christus auf diese Weise nachzufolgen. Einsamkeit und Askese um Gottes willen waren für ihn ein gesuchtes Ideal, kein Schreckensszenario.

Im Pietismus, der bedeutsamen Reformbewegung im Protestantismus des 17. und 18. Jahrhunderts, suchte der Fromme die Nähe zu Gott in einsamer Besinnung und Gebet. Der Einzelne in seiner persönlichen, emotionalen Bindung an seinen Gott, mit dem er sich zum innigen Gespräch zurückzieht, wurde zum geistig-geistlichen Ideal. Gerade die Einsamkeit ermöglichte dem Gottesfürchtigen, seine persönliche Gottesbeziehung zu finden und die Nähe Gottes zu erleben.

Mit der Epoche der Aufklärung im 18. Jahrhundert trat mit dem Konzept der Autonomie des Individuums von Kirche und Staat und der Dominanz der Vernunft eine andere Vorstellung in den Vordergrund. Das autonome Subjekt, frei von gesellschaftlichen Regeln, Konventionen und Normen, allein von seinem Ich gesteuert, sollte sich nun ausschließlich seines eigenen Verstandes bedienen – Nur konnte diese Selbstbestimmung und Autonomie nicht nur als befreiend, sondern auch als schmerzhafte Isolation erlebt werden. Die Vorstellung einer erfüllenden Einsamkeit des Einzelnen mit seinem Gott wurde nach und nach mit dieser Entwicklung Vergangenheit, denn dieser war nun überflüssig. Doch noch der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788–1860) meinte, dass das „Hauptstudium der Jugend“ aus dem Ertragen der Einsamkeit bestehen müsse, „weil sie eine Quelle des Glückes und der Gemütsruhe ist“.

Dennoch: Einsamkeit gilt in der Moderne zunehmend als Bedrohung und unerwünschte Nebenwirkung der zum Ideal verklärten Autonomie, denn mit seiner Eigenständigkeit ist das Individuum vollends auf sich selbst angewiesen. Wer frei sein will, ist einsam, so lautet das Mantra der modernen Welt. Aus der positiv bewerteten Einsamkeit ist die risikoreiche Vereinsamung geworden. Die modernen Ideale des Individualismus und der Selbstverwirklichung tragen die Bedeutung einer Vereinsamungsbedrohung im Gepäck, die auf jeden Fall abgewehrt werden muss.

Von dieser düsteren Grundstimmung ist der Begriff der Einsamkeit bis heute bestimmt. Einsam zu sein, ist heute kein gesellschaftliches Ideal mehr. Im Gegenteil, wer einsam ist oder sich einsam fühlt, hat etwas falsch gemacht.

Denn angesichts der individuellen Wahlmöglichkeiten gilt die Einsamkeit als ein Zeichen für die mangelnden Fähigkeiten des Individuums, ein erfüllendes, erfolgreiches Leben zu leben. Zwar herrscht in modernen Gesellschaften nicht mehr das Ideal der lebenslangen Paarbeziehung. An seiner Stelle ist nun das Ideal der ständig wechselnden Lebensabschnittspartner und der stets aufzupolierenden Attraktivität der eigenen Person in den sozialen Netzwerken getreten, begleitet von hohem beruflichen Leistungs- und Erfolgsdruck.

Wer demnach keine Beziehungserfahrung hat, keiner sozialen Gruppe angehört, auch wenn sie nur im Internet besteht, oder keine beeindruckende Karriere vorzuweisen hat, der gilt heutzutage schnell als nicht gesellschaftsfähig. Kriterium für sozialen Erfolg ist dabei nicht nur die Mitgliedschaft in einem Netzwerk, sondern vor allem die Zugehörigkeit zu einer bedeutsamen Gruppe oder zumindest die Nähe zu „angesagten“ Personen.

Die Normen der Leistungsgesellschaft haben sich bis in das soziale Leben hinein durchgesetzt. Nicht wehe dem, der einsam ist, gilt nun, sondern wehe dem, dem es an Attraktivität und Selbstbewusstsein mangelt; er wird kaum in einem sozial bedeutsamen Netzwerk Anerkennung finden und bleibt ein Verlierer und Außenseiter.

Kein Wunder also, dass die aktuelle Ratgeberliteratur mit Theorien und Empfehlungen gefüllt ist, um wieder aus der Einsamkeit herauszukommen. Das Ideal bleiben erfüllende Beziehungen oder zumindest die Suche danach. Und wenn dies nicht klappt, wenigstens das Aufgehobensein in einem sozialen Netzwerk. Ob diese Kontakte tatsächlich ein erfülltes Leben ergeben, ist zweitrangig. Ob die Gruppe den eigenen Bedürfnissen und Werten entspricht, ist weniger wichtig. Ob Beziehungen authentisch sind, Sinn ergeben, auf Augenhöhe sind, Intimität bieten und Entwicklungen zulassen, all das spielt eine geringere Rolle. Hauptsache, es gibt dort keine Einsamkeit.

Wie sehr sich die Vorstellungen von Einsamkeit verändert haben, zeigt sich deshalb beispielhaft an der Nutzung der virtuellen Netzwerke und Social Media. Facebook und Co. ermöglichen zweifellos eine neue, weitaus schnellere Art von Kommunikation mit deutlich zahlreicheren Kontakten als früher. Soziale Kontakte und Liebesbeziehungen werden heute bereits nur noch mit einem einzigen Klick hergestellt. Wer Kontakte und Liebe in den Zeiten des Internets sucht, hat neue riesige Auswahlmöglichkeiten an potentiellen Partnern, Gruppen und Netzwerken. Gleichzeitig fordert diese neue Welt aber die ständige Selbstinszenierung und Optimierung der eigenen Attraktivität, nicht nur auf der romantischen Ebene.

Das Beziehungsleben ist in der Moderne eine Frage des Konsums. Anstelle der sozialen Regeln, die früher Kontakte, Freundschaften und Partnerschaften kontrollierten und bestimmten, bestimmen es nun Marktmechanismen und Konsumverhalten. Geld, Attraktivität (gepusht durch Schönheitsprodukte und -operationen), Freizeit und Luxus sowie Bildung spielen entscheidende Rollen, um zum Beispiel einen adäquaten Partner zu finden bzw. diesen bei Nichtgefallen rasch zu wechseln.

Selbst ein romantisches Abendessen wird nicht nur genossen, sondern ausführlich inszeniert, um den notwendigen Eindruck beim anderen zu machen und sich möglichst von der Schokoladenseite darzustellen. Dieser Konsum kann einsam und unsicher machen, weil nie eindeutig ist, welche Faktoren tatsächlich Nähe und Bindung begründen: die tolle Inszenierung oder doch das unverwechselbare Gegenüber?

Einsamkeit in Zeiten des Internets entsteht heutzutage ebenfalls schnell, wenn eigene Postings im Netzwerk keine oder zu wenige „Likes“ erhalten, wenn Kontakte sich als Fakes entpuppen oder die begehrte Kontaktperson sich gleich mit mehreren Usern beschäftigt, um dort das vielleicht noch besser passende Gegenüber aufzutun. Ein schwaches WLAN, der streikende Computer, das fehlende Handynetz können manchen sekundenschnell in die Einsamkeit versetzen. Die moderne Wüste ist eine Funklochoase.

Nichtsdestotrotz kann dauerhaftes Einsamkeitserleben ein Warnsignal sein, wenn es über längere Zeit an tragfähigen sozialen Beziehungen und Netzen fehlt. Chronische Erfahrungen von Abweisung, Abwertung oder Gleichgültigkeit prägen in solchen Fällen den inneren Horizont; schmerzhaftes Unverstandensein dominiert dauerhaft das Erleben. Solche Anzeichen von anhaltender Schwermut und Niedergeschlagenheit lassen sich nicht leichtfertig übergehen, sondern können Anstoß sein, sich über seine tatsächlichen Bedürfnisse und Möglichkeiten zwischen Suche nach Gemeinschaft und nach Abgrenzung von dieser klarzuwerden.

Denn wer sich einsam fühlt, dem fehlen nicht einfach Personen in der Nähe, sondern in erster Linie befriedigende, erfüllende Beziehungen, in denen er als der Mensch, der er nun einmal ist, beachtet und wertgeschätzt und in seinen Anliegen verstanden wird. Ihm mangelt es am Erleben, für andere bedeutsam zu sein: ein liebenswerter Mensch, dessen Person und Eigenschaften von seiner Mitwelt geschätzt werden – gerade auch im Alltäglichen. Du bist mir wichtig!

Einsamkeit ist somit charakterisiert durch ein tiefes Unerfülltsein in nahen Beziehungen. Sie kann selbst Menschen in einer äußerlich stabilen Partnerschaft betreffen. Dies wiegt umso schwerer, weil die Verheißung einer romantischen Liebesbeziehung das Ende der Einsamkeit bedeuten soll. Jungverliebte meinen häufig, im anderen die andere Hälfte der eigenen Seele gefunden zu haben. Gefühle der tiefen Verbundenheit und der Verschmelzung zu einem neuen großen Ganzen begleiten zu Beginn die romantische Liebe. Wer frisch verliebt ist und mit dem anderen herrliche Stunden der Zweisamkeit erlebt, Zukunftspläne schmiedet und buchstäblich auf Wolken schwebt, kann sich Einsamkeit kaum vorstellen.

Doch nach einiger Zeit kann sich sehr wohl das Gefühl, in der Paarbeziehung einsam zu sein, einschleichen. Dann wird sie trotz äußerlicher Stabilität ein ständiger Begleiter für einen oder beide Partner. Die Ursachen sind vielfältig: Der Alltag fordert seinen Tribut; alte Konflikte werden nicht offen bearbeitet; das wechselseitige Zuhören und die Anerkennung füreinander nehmen ab; wichtige Wünsche, Belastungen und Gedanken werden verheimlicht. Wenn sich die Einsamkeit in der Paarbeziehung bemerkbar macht, dann sind die Partner häufig schon längere Zeit nicht mehr in der Lage und willens, offen miteinander über ihre Bedürfnisse und Interessen zu sprechen, geschweige denn Zuwendung zu zeigen. Das „Wir“ scheint als Projekt beendet. Diese Einsamkeit quält; unter dem gemeinsamen Dach sind trotz Anwesenheit des anderen Sprachlosigkeit und Spannungen eingezogen.

Für Menschen in Fernbeziehungen, die oft Hunderte von Kilometern voneinander entfernt leben und arbeiten, kann Einsamkeit ein Begleiter sein, weil Nähe, Kommunikation und gemeinsamer Alltag nicht selbstverständlich gelebt, sondern über lange Zeit per Telefon, Skype, Email und aufwändig organisierte Treffen hergestellt werden müssen. Das häufige Abschiednehmen tut weh und Tage und Wochen müssen ohne die direkte Anwesenheit des anderen bewältigt werden. Je nach Bedürfnis nach Zweisamkeit und vorhandenen Fähigkeiten, mit der anspruchsvollen Liebe zwischen Nähe und großer räumlicher und zeitlicher Distanz gut umzugehen, bleibt Einsamkeit hier manchmal doch ein ständiger Begleiter.

 

Besonders schmerzhaft ist das Erleben von Einsamkeit, wenn zwar ein tragfähiges soziales Netz vorhanden ist, aber ein einzelner naher Mensch plötzlich fehlt: Menschen, die einen Ehepartner oder eine enge Freundin durch den Tod verloren haben, die eine besonders innige, einzigartige Verbundenheit mit diesem Menschen erlebt haben, kennen dieses Gefühl der übergroßen Trauer und Leere, die kein anderer Mensch vollständig ausfüllen kann.

Die unerwartete Leere und Stille nach dem Verlust des innig geliebten Partners beschreibt zum Beispiel die US-amerikanische Schriftstellerin Joan Didion (*1934) in ihrem lesenswerten Buch Das Jahr des magischen Denkens. Nachdem ihr Mann einen Herzanfall beim Abendessen erlitten hat und danach im Krankenhaus verstorben ist, kehrt sie schließlich allein in die gemeinsame Wohnung zurück:

„Was ich von der Wohnung in jener Nacht erinnere, als ich allein aus dem New Yorker Krankenhaus kam, ist die Stille.“

Tatsächlich ist das hereingebrochene Alleinsein für sie mit völlig neuen Empfindungen verbunden. Didion möchte mit ihrem verstorbenen Ehemann sprechen und sucht vergebens seine Anwesenheit:

„Und doch führte dieser Wunsch nach Anwesenheit jedesmal nur dazu, mir die endgültige Stille, die uns trennte, nur noch deutlicher zu machen.“

Dieses Alleinsein ist von heftigem Schmerz und unermesslicher Trauer über den unwiederbringlichen Verlust des geliebten Du geprägt. Alles hat sich verändert.

Und hinzuzufügen ist: Selbst für Menschen nach Trennung und Scheidung bleiben starke Verlust- und Trauergefühle, obwohl man sich doch vom anderen endgültig trennen wollte. Die gemeinsame alte Wohnung oder die neue Wohnung für sich allein sind fremdes Terrain, in dem sich neu orientiert werden muss.

Menschen können sich auch als einsam erleben, wenn sie nicht mehr das tun können, was sie persönlich erfüllt. Der US-amerikanische Schriftsteller Walt Whitman (1819–1892) beschreibt dies in einem Brief an einen Freund. Obwohl er – in finanziellen Schwierigkeiten und krank – von Bruder und Schwägerin freundlich aufgenommen wird, erlebt er sich selbst als unverstanden. Sein Gefühl, völlig allein zu sein, nähert sich bereits der Einsamkeit an.

„Ich kenne hier keine Menschenseele, bin völlig allein, sitze manchmal allein zwei Stunden hintereinander da und grüble. Habe hier keine Bekanntschaft, wenigstens keine nähere geschlossen. Meine Schwägerin ist sehr freundlich in allen Haushaltsdingen, kocht was ich möchte, hat erstklassigen Kaffee für mich und morgens was Gutes und sorgt für ein gutes Bett und ein nettes Zimmer.“

Die Chiffre „allein“ beschreibt hier einen erlebten Zustand des Mangels an einem Zusammensein, welches den Autor erfüllt. Faktisch lebt Whitman nicht allein; er wohnt mit Angehörigen zusammen, wird liebevoll versorgt, hat ein Dach über dem Kopf. Doch die Heimstatt in der Familie ist zwar im materiellen Sinn hilfreich, aber sie wird von ihm als große Einschränkung und innere Leere erlebt. Der von Lähmungserscheinungen und Schlaganfall betroffene Schriftsteller kann sich in dieser Situation nicht schöpferisch entfalten: Er fühlt sich von seinem Bruder, einem Geschäftsmann, nicht verstanden.

„Es ist ja alles sehr annehmbar“, schreibt er durchaus dankbar weiter, „aber für einen meiner Sorte fehlt irgendwie die freundschaftliche Gegenwart und der Magnetismus, den man braucht […].“

Whitmans Einsamkeitserleben wird durch das Fehlen einer inspirierenden Umgebung und krisenhafte biographische Zäsuren ausgelöst.

Einsamkeit kann in Krisenphasen auftreten, wenn keine verständnisvollen Gesprächspartner vorhanden sind oder plötzlich Distanz in Freundschaften und Kontakten auftritt. Betroffene beschreiben zum Beispiel, dass sich andere Menschen völlig überraschend von ihnen zurückziehen, wenn sie schwer erkranken oder ein naher Angehöriger verstorben ist: Freunde, Bekannte und Nachbarn melden sich plötzlich nicht mehr bei dem Krebskranken oder Trauernden. Sie wechseln rasch die Straßenseite, um den anderen nicht anzusprechen, halten Termine nicht mehr ein, antworten unerwartet nicht mehr auf Telefonanrufe. Dies ist umso schmerzhafter, da Menschen gerade in der Krise verlässliche Beziehungen dringend als emotionale Ressourcen benötigen. Trennungen, Krankheit und Alter sind deshalb Krisenkonstellationen, die starke Einsamkeitsgefühle hervorrufen oder vergrößern können, wenn kein stabiles Beziehungsnetz vorhanden ist. Ein Höchstmaß an schmerzhafter Einsamkeit erleben Menschen, welche in der Krise vom Partner, Familie, Freunden verlassen werden.

Seit Langem ist bekannt, dass chronisch einsame Personen ein höheres Risiko für Krankheiten und Infektionen, Suchterkrankungen, Ess- und Schlafstörungen, Depressionen und Demenz haben – bis hin zur Suizidalität. Umso bedeutsamer ist das rechtzeitige einfühlsame Auffangen von Einsamen. Nicht immer ist dies für Außenstehende eine einfache Sache, wenn die Betroffenen sich bereits aus Furcht vor erneuten schmerzhaften Erlebnissen zurückgezogen haben und Kontaktversuche abblocken. Doch kann auch die Persönlichkeitsstruktur dafür sorgen, dass der Einzelne mehr als andere etwas für seine Beziehungspflege tun muss. Misstrauen, Verschlossenheit, Angst, Wünsche zu äußern, können zum Eindruck von persönlicher Wertlosigkeit führen, die wiederum Einsamkeitsgefühle generiert.

Das Allein(e)sein hat heutzutage dagegen meist keinen ähnlich intensiven negativen Beigeschmack wie das Einsamsein. Es markiert zunächst einfach eine Situation, in der sich eine Person ohne einen anderen Menschen befindet. Wer in Ruhe nachdenken will, zieht sich vielleicht in sein Zimmer zurück, macht ein paar Tage Urlaub oder quartiert sich in einem gastfreundlichen Kloster ein. Wer sich vom Trubel in Job und Familie erholen will, freut sich über ein paar ruhige Stunden. Ein Spaziergang allein für sich im Park oder ein Abend bei Kerzenschein und guter Musik entspannen und sorgen für innere Ruhe. Selbst das Autofahren ohne Mitfahrer, ohne Radiomusik und Smartphonegeklingel erlebt mancher nach einem stressigen Arbeitstag eher als große Erleichterung: endlich einmal abschalten.

Solch ein positives Alleinsein kann sich auf Stunden, auf Tage oder ein Wochenende erstrecken. Frei von Störungen, Ablenkungen und ungewollten Einflüssen, lassen sich Autonomie und Selbstbestimmung erleben. Endlich darf sich der gestresste Mensch wieder selbst fühlen – und nicht nur die Gefühle, Ansprüche und Bedürfnisse der Umgebung. Alleinsein ist somit nicht automatisch mit Leere, Trauer, Bedürftigkeit, Sehnsucht und sozialem Schmerz verbunden, sondern wird dann eher als Quelle bewertet, um aufzutanken, Kraft zu schöpfen, Distanz zu gewinnen und wieder ins Gleichgewicht zu kommen.

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