INDIVIDUUM

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Der kanadische Philosoph Charles Taylor greift die Verknüpfung zwischen dem Festhalten an Gott und der Zugehörigkeit zum Staat auf und bezeichnet dies als „durkheimianisch“. Er unterscheidet dabei eine „paläo-durkheimianische“, eine „neo-durkheimianische“ und eine „post-durkheimianische“ Phase.

Mit „paläo-durkheimianisch“ bezeichnet er das Gefühl einer Abhängigkeit des Staates von Gott. Durch diese Verbindung ist die Gesellschaft praktisch deckungsgleich mit der Zugehörigkeit zur Kirche. Obwohl dem Namen nach anscheinend bereits überwunden, findet sich dieses Verständnis auch heute beispielsweise noch in einigen katholischen Gemeinden des Schwarzwalds.

Das „neo-durkheimianische“ Verständnis ist etwas freier. Gott ist alleine schon deshalb allgegenwärtig, weil sich die Organisation der Gesellschaft letztlich doch an nichts anderem als dem göttlichen Plan orientiert. Welcher Konfession man letztlich beitritt, bleibt völlig der freien Wahl des Einzelnen überlassen. Erwartet wird jedoch, dass man auf jeden Fall einer Konfession beitritt, weil sich daraus wiederum die Integration in das politische Gemeinwesen herleitet. Das Verständnis von „Kirche“ ist hier zwar umfassender und weniger greifbar, bezeichnet werden soll jedoch auch nicht weniger als das ganze Volk Gottes. Die US-Amerikaner sind nicht nur das Musterbeispiel dieser Auffassung, sie zeigen der Welt auch eindrucksvoll, was es heißt, der göttlichen Vorsehung gemäß aufzutreten. Es kann jedoch nur dringend davon abgeraten werden, dieses Verständnis auch in den eben bereits erwähnten katholischen Gemeinden praktizieren zu wollen. Dort gehören jedenfalls seit dem Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648) schon die Protestanten zu den gesellschaftlich Geächteten. Ganz zu schweigen von anderen Religionen oder den Menschen, die mit Charles Taylor glauben, heute in der „post-durkheimianischen“ Phase zu leben.

Unter diesen Vorzeichen hat die gesellschaftliche oder politische Loyalität gänzlich nichts mehr mit dem Sakralen zu tun. Die entsprechend frei wählbare Religion muss nunmehr allerdings nach individuellen Maßstäben auf Sinnhaftigkeit überprüft werden. Das ist eindeutig eine der anstrengendsten Bedingung bei allen verschiedenen Religionsverständnissen überhaupt. Dieses „eigene Verständnis“ muss nämlich im Zuge einer spirituellen Entwicklung erst geschaffen werden.

Fraglich ist hier also, ob sich wirklich jemand diese Last auferlegt und zudem auch noch mit einem nicht vorgeschriebenen Personenkreis in einen konstruktiven Austausch tritt. Kommt letztlich vielleicht doch die Systemtheorie zur einzigen richtigen Schlussfolgerung? Nach deren Erkenntnis geht von Religion keinerlei integrative Kraft aus. Ausgerechnet ein pluralistischer Ansatz eines Zeitgenossen von Emile Durkheim kommt diesbezüglich jedoch zu einem überraschend positiven Ergebnis.

Der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858 bis 1918) geht davon aus, dass soziale Gruppen rein zufällig und aus verschiedensten Elementen entstehen. Genau genommen bestehen diese Kreise nur in der jeweiligen Trägerschaft der einzelnen Mitglieder. Die Individualität jedes Einzelnen besteht wiederum aus der Mitgliedschaft in den verschiedensten Kreisen. Die jeweilige Zusammengehörigkeit kann sich aus feststehenden Eigenschaften, beispielsweise Jahrgangsclique oder Frauenverein, oder aus wählbaren Merkmalen, beispielsweise Sportclub oder Umweltschutzgruppe, ergeben. In der modernen Kultur sind genügend derartige Kreise vorhanden, um für jeden Einzelnen die Möglichkeit eines Zusammenschlusses zu gewährleisten. Vor diesem Hintergrund kann nun festgestellt werden, dass die Religion ihren gesellschaftlich zentralen Stellenwert eindeutig verloren hat. Umso bemerkenswerter ist es jedoch, dass diese, trotz unendlich vieler anderer Möglichkeiten, immer noch eine eigene Interessensphäre begründet. Nach Alexander-Kenneth Nagel gleicht der Ansatz von Georg Simmel der „Religion des Menschen“ von Jean-Jacques Rousseau. Allerdings sieht Georg Simmel bei jedem Individuum eine angeborene Integrationsfähigkeit. Damit fallen die negativen Begleiterscheinungen der „Religion des Menschen“ weg und die Religion ist einfach ein weiterer von vielen sozialen Kreisen, die die Gesellschaft stabilisieren. Eine zunehmende Komplexität und die absolute Freiheit der Individuen führen also nicht grundsätzlich zu einem gesellschaftlichen Zerfall, ganz im Gegenteil.

Diesem Grundkanon folgend, verzichten heutige Demokratietheorien weitestgehend auf die Einbeziehung der Religion. So liege dem gesellschaftlichen Miteinander zwar ein Minimalkonsens zugrunde, nach Michael Minkenberg und Ulrich Willems wird allerdings bewusst offen gelassen, wo dieser Konsens herrührt. Die hierfür angeführten Werte wie Freiheit, Gleichheit, Toleranz und Mitbestimmung sind bezüglich ihres Ursprungs also grundsätzlich nicht festgelegt. Sie lassen sich sowohl als säkulare Werte, wie auch als christliche, jüdische oder sonstige religiöse Werte verstehen. Damit bleibt zwar ebenfalls offen, ob diese Werte aus heterogenen Kontexten und Hintergrundüberzeugungen heraus inhaltlich ähnlich verstanden werden. In ihren elementarsten Lebensbedürfnissen sind sich die Menschen jedoch letztlich ähnlicher, als man aus manchen konflikttaktisch generierten Gegnerschaften vielleicht annehmen könnte. Damit stellt sich aber die weiterführende Frage, was die Individualisierung für die Religion selbst bedeutet.

Primär betroffen ist hier allerdings gar nicht die Religion, vielmehr geraten die Kirchen in Bedrängnis. An deren unverzichtbarer Notwendigkeit wird jedoch schon seit Langem gezweifelt. Der amerikanische Philosoph und Psychologe William James (1842 bis 1910) warnt sogar davor, Religion über die Kirchen zu definieren. Für ihn stehen individuelle, lebendige religiöse Erfahrungen, Gefühle und Handlungen im Mittelpunkt. Diese werden, in Abgrenzung zu anderen Erlebnissen, dadurch zur Religion, dass sie, in einem Rahmen völliger Abgeschiedenheit, von der jeweiligen Person als in Beziehung zum Göttlichen angesehen werden. Er nennt dies die Erfahrung der Selbsttranszendenz. Der Selbstbezug, teilweise sogar in der Form einer Fixierung auf das Selbst, wird dabei völlig überwunden. Diese Erfahrung reißt die ergriffene Person buchstäblich über ihre eigenen Grenzen hinaus. Das darauf aufbauende religiöse Leben wird zwar von dieser Erfahrung abgeleitet und kann durchaus im Rahmen einer kirchlichen Gemeinschaft stattfinden. Die Kirchen spielen aber nur eine sekundäre Rolle. Greifen diese nämlich die erfahrbare individuelle Inspiration auf, um sie zu vermitteln und weiterzutragen, bleibt von dem einstigen Hochgefühl häufig nicht mehr viel übrig. Der statt diesem vermittelte graue Abklatsch könne jedoch nicht wirklich jemanden hinter dem Ofen vorholen. Tatsächlich verhaltensbestimmend sind nach William James nicht die rationalen, rechtfertigenden und definitorischen Formulierungen, wie sie von den Kirchen präsentiert werden, sondern das reale Erleben. Nicht der Kopf und der Intellektualismus, sondern das Herz soll entsprechend für die Religion leitend sein.

Ausdrücklich nicht aus der bereits mehrfach erwähnten Region stammt die Kritik, als Protestant komme William James über seinen Individualismus nicht hinaus. Als Abtrünnigem blieben ihm natürlich unweigerlich auch die Segnungen des Katholizismus fremd. In der römisch-katholischen Gemeinschaft gehe nämlich ein Mitbruder auch dann nicht leer aus, wenn er bisher noch kein reales Erlebnis haben durfte. Selbst wenn also auf dem Weg der kirchlich institutionalisierten Weitergabe etwas verloren ginge, sei dies immer noch mehr, als überhaupt keine religiöse Erfahrung gemacht zu haben. Einige Kritiker meinen sogar, dass es ohne eine vorherige Schulung des Glaubens gar nicht zu einem individuellen Kontakt mit dem Dreifaltigen kommen könne. Dieser gebe sich mit Vorliebe durch die Gemeinschaft derer zu erkennen, die nach seinen Geboten leben. Die dafür notwendige Kenntnis des kanonischen Rechts und des entsprechenden Fachvokabulars könne sich niemand im Alleingang aneignen. Folglich sei nur mit klerikalem Beistand die selbsttranszendente Erfahrung möglich, Freude, Zweifel und Leid vor Gott darbringen zu können und seiner Hilfe teilhaftig zu werden.

An dieser Stelle muss die Religionsdefinition von Emile Durkheim vervollständigt werden. So blieben bisher vor allem die Aspekte unberücksichtigt, die er aus seiner Beobachtung des Totemismus bei Ureinwohnern ableitete. Religion ist hiernach zunächst ein von heiligen Überzeugungen, Praktiken und Dingen geprägtes solidarisches System mit einer besonderen Autorität. Die Heiligkeit begründet sich daraus, dass es sich dabei nicht nur um abgesonderte, sondern teilweise auch verbotene Aktivitäten handelt. Vorschnell könnte man hier an den kollektiven Drogenkonsum bei weihrauchgeschwängerten katholischen Messen denken. Emile Durkheim schwebt bei seiner Betrachtung von Religion aber nicht ein Götterglaube oder etwas Übernatürliches vor. Er zieht seine Schlussfolgerungen zwar aus der Beobachtung des Totemismus. Als Ursprung des Heiligen identifiziert er aber nicht irgendwelche mythischen Gestalten aus dem Dies- oder Jenseits, auch die charakteristische Verehrung von Tieren und Pflanzen fallen als Ursprung weg. Wie William James stellt er vielmehr auf eine reale Erfahrung ab. Bei ihm geht es allerdings nicht um eine simple individuelle, sondern um eine gemeinschaftliche Ekstaseerfahrung. Als „kollektive Efferveszenz“ bezeichnet er das Erleben des Selbstverlusts bei gleichzeitiger Wahrnehmung einer außerordentlichen Kraft, die die Anwesenden mit- und in eine andere Welt hinüberreißt. In der rückblickenden Deutung erschiene es zu profan, dies als bloße Wechselwirkung der Anwesenden zu deuten. Also müssen am Ort der Versammlung zur gleichen Zeit auch übernatürliche Mächte anwesend gewesen sein. Hilfsweise lässt sich dies in einem Fußballstadion oder bei einem Rockkonzert ausprobieren.

 

Diese Ekstase lässt sich augenscheinlich allerdings relativ einfach auch ohne die Anwesenheit von anderen herbeiführen. Die Technik stammt zwar wieder einmal aus dem Islam, scheint aber durchaus auch breiter anwendbar zu sein. So tanzt sich der Derwisch, ein islamischer Bettelmönch, durch ständiges Drehen ebenfalls in Ekstase. Eventuelle Risiken und Nebenwirkungen sollten sicherheitshalber allerdings vor einem Selbstversuch abgeklärt werden.

Kann man sich auf diese Art und Weise einfach seine individuelle Religion zusammenbasteln? Kann man also je nach eigenem Geschmack die gefallenden Bestandteile aufgreifen und andere, die unangenehm erscheinen, weglassen? Genau das verstehen viele Menschen in der heutigen Zeit unter Religion. Während diese für den Einzelnen ungebrochen bedeutsam bleibt, verlieren religiöse Institutionen an Einfluss. Als Orientierungshilfe und Ideengeber bleiben sie jedoch weiterhin hoch im Kurs. Nach Allensbacher Erkenntnissen ist die Religion nach der Jahrtausendwende auch nicht aus der Erziehung verschwunden. Fest in einer Glaubensgemeinschaft verwurzelte Eltern halten diese Bindung in unsicheren Zeiten ohnehin für unverzichtbar. Aber selbst Kinder aus nicht verankerten Elternhäusern werden an einen offenen Umgang mit Religion herangeführt. Den Nörglern geht es dabei zu sehr um handlungsorientierte Inhalte und zu wenig um religiöse Werte. Dass sich die Menschen nicht einfach komplett aus dem Religiösen zurückziehen, reicht ihnen nicht. Dabei ist für die Glaubenspraxis, so William James, zunächst ausschlaggebend, dass man sich zum Glauben entscheidet. Diese Offenheit ist der Schlüssel für ein religionstypisches Begreifen und den charakteristischen Beistand. Die wenigsten verstehen sich allerdings als unwürdige Diener Gottes, die seine Forderungen gemäß der Offenbarung zu erfüllen haben. Entgegen der apokalyptischen Prophezeiung und zum Leidwesen der Amtskirche finden sie in ihren privaten Praxisvariationen dennoch den gesuchten Halt.

Mit dem kleinsten theologischen Unterbau kommt seit jeher das Gebet aus. Dieses Zwiegespräch stille nach William James das Verlangen nach einem idealen Gegenüber, das unter den Mitmenschen jedoch vergeblich gesucht werde. Die Liturgie, der rituelle Handlungsvollzug der heiligen Messe, ist dagegen nur mit entsprechendem Rüstzeug tiefer zu durchdringen. Ob nun bis ins theologische Detail verstanden oder als „primitives heiliges Ritual“, jedenfalls zeigt sich empirisch, dass auch der Kirchgang für viele Menschen wieder an Bedeutung gewinnt. Als „Auslöser“ konnten verschiedene Lebensereignisse ausgemacht werden. So steigt die Kirchganghäufigkeit beispielsweise, wenn die Menschen heiraten, wenn sie Kinder im schulpflichtigen Alter haben, wenn der Partner stirbt oder wenn sie in den Ruhestand treten. Der gemeinschaftliche Aspekt ist im Zuge der Individualisierung also nicht verschwunden. Sie steht allerdings auch für selbstgebastelte Glaubensformen und Wanderungen durch verschiedene Religionen.

Die Fachwelt scheidet sich angesichts dessen nicht nur an der Notwendigkeit korrigierenden Eingreifens, sondern auch an der besten Ausgangslage. So vertritt eine Richtung die Auffassung, dass sich eine Kirche umso besser durchsetzen könne, je größer ihre rechtlichen und finanziellen Vorteile seien. Ein verbissener Ableger behauptet sogar, dass eine Pluralisierung von religiösen Traditionen zu einer wechselseitigen Relativierung und Unterminierung des jeweiligen Wahrheitsanspruchs führe. Dagegen helfe nur ein aktiv herzustellendes Umfeld aus gleichgelagerten religiösen Überzeugungen. In die genau entgegengesetzte Richtung geht ein Ansatz, der die wirtschaftspolitische Seite unterstreicht und die besten Überlebenschancen auf einem freien Markt des Religiösen sieht. Der Konkurrenzkampf zwischen gleichberechtigten Anbietern erhöhe nicht nur die Mobilisierungsfähigkeit religiöser Gemeinschaften, von einem nachfrageorientierten Eigeninteresse angetrieben, steige auch die Qualität des Angebotes. Anders als bei den Homogenisierungstheoretikern belebe die Pluralisierung nicht nur das Geschäft, sie gewährleiste auch, dass jeder das für ihn passende Produkt findet. Der Gläubige wählt nach dieser Vorstellung also nach rationalen Kriterien die für ihn richtige Religion aus.

Der spirituelle Lebensbereich der Menschen dürfte sich dagegen nicht auf die zwei Alternativen Bevormundung oder marktförmige Bedürfnisbefriedigung nach wirtschaftlichen Kalkülen beschränken. Schließlich geht es hier um die Fragen nach dem Sinn des Lebens und des Todes, die an Bedeutung sogar wieder gewonnen haben. Die Kirchen sollten es, so der deutsche Soziologe Hans Joas, in ihrem eigenen Interesse jedenfalls tunlichst unterlassen, sich der moralischen Selbstbestimmung und der Selbstverwirklichung der Menschen entgegenzustellen. Diese suchen in der Religion Antworten auf ihre spezifischen Fragen und keinen Lehrgang über die kirchliche Weltanschauung oder deren Vorstellungen zum Intimleben. Auch ein Dauerabonnement oder eine Clubmitgliedschaft wird eher in den selteneren Fällen wirklich gewünscht. Nach empirischen Erkenntnissen wirkt es auf die Gläubigen entsprechend befremdlich, wenn sie ein zu enges Verhältnis zwischen staatlichem und kirchlichem Handeln ausmachen.

Die Kirchen mögen sich unter Umständen nur schwer damit abfinden, den Gläubigen nicht mit akademisch anspruchsvollen, strikt einzuhaltenden Glaubensverpflichtungen zu begegnen. Wenn sie ihr einstiges Deutungsvorrecht jedoch nicht engstirnig zu verteidigen suchen, besteht auch und gerade im Zuge der Individualisierung kein Grund zum Pessimismus. Die bewusste aktive Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben, der eben nicht als alleingültige Wahrheit daherkommt, dürfte zu einer tieferen Überzeugung führen als eine angeborene und erduldete Mitgliedschaft. Die erzwungene Konformität früherer Tage war, wie Charles Taylor bemerkt, jedenfalls ein fruchtbarer Boden für eine gefühlsarme, vorgetäuschte Gläubigkeit, die sich auch im Klerus häufig auf Machtinteressen beschränkte.

Ein genereller Verfall der Religion lässt sich also nicht ausmachen. Die zunehmende Nichtbeachtung der ehemals erzwungenen Konformität spricht eher für eine Stärkung der religiösen Gemeinschaften. Woher kommt also die heute augenscheinlich an Zustimmung gewinnende Auffassung des Verfalls der Gesellschaft? Sind gesellschaftliche Werte wirklich nicht attraktiv genug, um sie ohne Zwang als Orientierung zu wählen? Die um sich greifende Angst vor der religiös motivierten Zerstörung der gesellschaftlichen Ordnung darf hier ergänzend also nicht unterschlagen werden. Eine Unterscheidung zwischen einzelnen Weltanschauungen ist hier offensichtlich nicht mehr notwendig, denn radikale Gruppierungen finden sich in so gut wie jeder Glaubensrichtung. Diese fundamentalistischen Bewegungen haben wiederum eines gemeinsam, sie versprechen die Unübersichtlichkeiten und Widersprüchlichkeiten der heutigen Zeit aufzulösen. Der diesbezügliche Lösungsweg ist so alt wie einfach und stammt in einer harmloseren Variante ursprünglich eigentlich aus dem Judentum - ein Sündenbock muss her. Der diesbezüglichen Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Nur eines muss unter allen Umständen vermieden werden, in der Gruppe der erklärten Schuldigen noch die Menschen zu sehen. Genau hier scheint häufig auch die Grenze zwischen der Gesinnung von Selbstmordattentätern und einfachen Integrationsdebattierern zu verschwimmen. So manche Integrationsdebatte lässt jedenfalls von den Menschen, über die im Zuge dessen hergezogen wird, nicht mehr viel übrig.

Eine Forschergruppe verrät, dass es hierbei definitiv nicht um die vielbeschworene Anpassung und die Ablegung von unüberbrückbaren Differenzen geht. Bei der Suche danach, wann jemand als „deutsch“ bezeichnet wird, zeigte sich empirisch zunächst schon kein Unterschied zwischen einem französischen und einem türkischen Herkunftsbezug. Ginge es also wirklich um kulturelle Unterschiede, so sind diese zur „französischen Kultur“ sicherlich nicht identisch mit denen zur „türkischen Kultur“. Bemüht sich zudem auch noch jemand aktiv, sich tatsächlich an die „deutsche Kultur“ anzupassen, erreicht er bezüglich der Aufnahmebereitschaft das genaue Gegenteil. Obwohl von den friedliebenden Deutschen einstimmig gefordert, lösen derartige Bemühungen eher Skepsis aus und die Wahrscheinlichkeit sinkt drastisch, dass diese Person als zugehörig eingestuft wird. Integrationsbemühungen kann man sich vor diesem Hintergrund also sparen.

Passt man eigentlich selbst in unsere demokratische, diskurs- und beteiligungsorientierte Gesellschaft, wenn man die freundlichen Menschen wieder wegschickt, die an der Haustür lediglich offen über Gott sprechen wollten? Wer darf denn nun wen mit welcher Weltanschauung behelligen?

Diese Frage führt abschließend interessanterweise zu einem sehr vertrauten Kreis von Mitmenschen. Die jährlichen Feiertage, die traditionell die Familien in einem erweiterten Rahmen zusammenbringen, sind stets aufschlussreiche Ereignisse bezüglich der geteilten Werte, der gemeinsamen Weltdeutung und Weltanschauung. Von einer schlichten wechselseitigen Behelligung kann hier allerdings in manchen Fällen nicht mehr gesprochen werden. Teilweise wird sogar von der Notwendigkeit polizeilichen Eingreifens berichtet - obwohl es dabei ursprünglich um Feste mit friedvollem Hintergrund ging. Ganz zu schweigen von mehr oder weniger traurigen Familienfeierlichkeiten mit anschließender Erbauseinandersetzung.

Der Verfall des Verfalls oder Vom Schein zum Sein

Was ist aus dem Verfall nur geworden? Zu Beginn der Betrachtung wurde das nahende Ende als einzige verbliebene Gewissheit unserer Zeit identifiziert. Es sind zwar ohne jeden Zweifel Veränderungen innerhalb der Familie, der Arbeit und der Religion auszumachen, auf einen eindeutigen, sauberen Untergang weist dieser Wandel jedoch nicht hin.

Lässt sich denn wenigstens das Ende der Normalität beweinen? Selbige gewährleistete in früheren Tagen, dass nicht jedes Zusammentreffen mit den Mitmenschen die Frage aufwarf, ob man im Leben alles richtig macht.

Die erste Personengruppe, die diese Normalität augenscheinlich zerstört hat, sind die Eltern. Der eigene Nachwuchs war an Schönheit noch nie zu übertreffen. Die fremden Bälger zudem als rückständig zu outen, scheint allerdings besonders befriedigend zu sein. Im Wettlauf um die ersten Schritte, die ersten Worte und natürlich die ersten Fremdsprachenkenntnisse gibt es angeblich immer weniger Kinder, die nicht wissen, wie das Behandlungszimmer eines Therapeuten aussieht. Wenn sie lieber spielen als lernen, liegt offensichtlich eine Konzentrationsstörung vor. Sprösslinge, die dagegen einem Buch mehr abgewinnen können als ihren tobenden Altersgenossen, leiden zweifelsfrei an Depressionen, wenn nicht sogar an Autismus. Die Auffälligkeiten könnten auch für eine verkannte Hochbegabung sprechen. Nach einem Untersuchungsmarathon stellen viele Eltern erleichtert fest, dass sie tatsächlich einen Fehler zu verantworten haben. Sie hatten sich von Wichtigtuern verunsichern lassen, die ihren eigenen Kindern nur dann etwas abgewinnen können, wenn sich diese zur Herabwürdigung anderer Eltern eignen. Einigen Berichten zufolge kehrt mit der Erkenntnis, dass das eigene Kind doch normal zu sein scheint, auch wieder Zufriedenheit und Ruhe in die Familie ein. Eine Abartigkeit im Leben der Heranwachsenden darf hier nicht unterschlagen werden. So stehen die Phantasien der Sittenwächter in keinem Verhältnis zur zügel- und grenzenlosen Sexualität der Jugendlichen: Nicht Orgien, sondern die ausufernd romantische Suche nach Geborgenheit und Liebe bestimmen deren Welt - Skandal!

Was diese Jugendlichen wahrscheinlich nicht mehr erleben werden, ist eine Normalität, in der die wahre Liebe nur durch den Tod geschieden werden kann. Bei dieser Trennung, um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen, wird von einem natürlichen Dahinscheiden ausgegangen. Alles andere wäre in einer Welt, in der das konfliktfreie Zusammenleben standesamtlich besiegelt und beurkundet ist, ohnehin undenkbar. Mit der Unterschrift des Beamten war die neumodische Frage, ob sich die Partner auf Dauer möglicherweise in ihrer Entwicklung hemmen, abschließend beantwortet. Beim sonntäglichen Spaziergang konnte sich die ganze Welt von der ordnungsgemäßen Harmonie überzeugen. Die Eheschließung beendete für den glücklichen Mann die anstrengende Zeit, in der er auf ein gutes Benehmen und auf sein Äußeres achten musste. Streitigkeiten gab es von Rechts wegen ebenso wenig wie Vergewaltigungen in der Ehe oder häusliche Gewalt. Die Frauen waren früher noch froh, dass die Männer ihnen gesetzlich verordnet die Entscheidung abnahmen, an welchem Verkehr sie teilzunehmen haben. Nur renitente Fälle muteten ihren Gatten zu, die nationale Sicherheit mit dem Gürtel verteidigen zu müssen. Heute schwer vorstellbar, aber dadurch gab es damals auch keine gesellschaftlichen Katastrophen wie Frauen im Straßenverkehr oder im Berufsleben. Die Männer konnten ihrer schweren Arbeit nachgehen und mussten sich nicht um die Entwicklung von elektronischen Einparkhilfen oder um die Einrichtung eines betrieblichen Kindergartens kümmern. Wer hat bei dieser verlorenen Normalität keine Tränen in den Augen?

 

Auch in der Arbeitswelt waren die Fronten eindeutig geklärt. Die resultierenden Vorteile erstreckten sich über das ganze Leben bis hin zu den politischen Parteien. Niemand musste erklären, wo oder wer die Mitte sei - man war links oder rechts, oben oder unten. Die Gewerkschaftsmitgliedschaft war ebenso in die Wiege gelegt wie die Beamten- oder Akademikerlaufbahn. Stellenbeschreibungen waren gänzlich überflüssig. Jeder wusste, was er zu tun hatte - im Zweifel einfach gehorchen. Zeiterfassung war ein Instrument zur Produktionssteigerung und nicht ein gesetzlicher Zwang, nach Hause gehen zu müssen. Der Gesundheitszustand der Arbeiter spielte allenfalls für die Nachrücker vor den Fabriktoren eine Rolle. Hierarchien wurden weder zu Motivationszielen umgedeutet noch mussten sie auf der Firmenhomepage als nicht existent gepriesen werden. Sie waren Gottes Ordnung auf Erden. Die Bekleidung lieferte die entsprechenden Informationen für den untertänigen oder herablassenden Auftritt und war keine Angelegenheit des Geschmacks. Modische Wechsel von Schnitten und Farben waren ebenso unbekannt wie die lästigen Schwankungen zwischen „in“ und „out“. Repräsentative Hülle und stolzer Träger waren auf Lebenszeit mit dem zugewiesenen Stand verwoben. Entsprechend kam auch niemand auf die irrsinnige Idee, dass ein Arbeiterkind die Intelligenz für einen höheren Bildungabschluss mitbringen könnte oder dass es einem Akademikerkind daran mangelt. Neuere Studien zum Hochschulzugang belegen immerhin noch Spuren dieser Ordnung. Damals war selbst den Frauen klar, dass sie mit ihrem kleineren Gehirnvolumen in Wirtschaft und Politik nicht mithalten können. Vermeintliche Zusammenhänge von Intelligenz und Rasse waren noch nie besonders lustig, müssen nunmehr jedoch selbst von Überzeugungstätern als „statistische“ Späßchen verharmlost werden. Wer weint angesichts dieser Ruinen nicht bitterlich?

Die Welt der Religion war unter normalen Verhältnissen einfach und überschaubar. Der Geburtsort verband sich mit der Gnade des richtigen Glaubens. Um „andere Weltanschauungen“ kümmerten sich Exorzisten. Von wegen gesellschaftlicher Reichtum durch Vielfalt. Wer nicht den gleichen Glauben teilte, war kein Kind Gottes und durch die Vereinigung mit dunklen Mächten auch kein Mensch. Schon damals hatte man verstanden, was heute wieder befürchtet wird. Mehrere Wahrheiten nebeneinander sind für den Einzelnen einfach nicht möglich. Dessen Schädel droht zu platzen, wenn er sich vergegenwärtigen müsste, dass auch andere Weltdeutungen möglich sind. Damit war auch der Dialog der Religionen unproblematisch. Ohne adäquaten Gesprächspartner blieb nur die Bekehrung der Ungläubigen und Sünder hin zum Menschsein. In den meisten Fällen zeigte man sich allerdings großzügig. So wurde die tatsächliche Überzeugung nicht immer überprüft, das Bekenntnis und die regelmäßige Teilnahme am Gottesdienst reichte völlig aus. Jeder hatte nicht nur seinen festen gesellschaftlichen Platz, auch die Zukunft war mit der jenseitigen Vergeltung der diesseitigen Lasten vorherbestimmt. Der gefestigte Glaube zeigte sich für den einfachen Gläubigen entsprechend durch Leidensfähigkeit und Geduld. Ein Kirchenaustritt war völlig undenkbar und kam dem gesellschaftlichen Suizid gleich. Die Exkommunikation war entsprechend noch ein gefürchtetes Mittel zur Demutserzeugung. Wer von den Sterbesakramenten und einem kirchlichen Begräbnis ausgeschlossen war, konnte auch nicht mehr am katholischen „Payback-System“ teilnehmen. Streng genommen begründet das Sakrament der Taufe eine unauflösbare Gemeinschaft zwischen Täufling und Gott. Wie ein aktueller Blick in die bereits erwähnten katholischen Gemeinden zeigt, liegt auf der Eigenverantwortlichkeit allerdings ein besonderes Gewicht. Kann ein Säugling mit seinem frühzeitigen Ableben die rituelle Aufnahme in den Schoß der Mutterkirche nämlich nicht abwarten, stirbt er ohne je ein Kind Gottes geworden zu sein. Die „Unschuldsvermutung“ gilt generell nur für die Heilige Jungfrau Maria. Angst und Demut, dafür aber einen klaren Kopf und keine Konfrontation mit Fremdem - wen trifft dieser Verlust nicht mitten ins Herz?

Eine Orientierung an diesen Normalitätsvorstellungen kollidiert zunehmend mit dem Freiheitsstreben derer, auf deren Kosten diese Ordnung aufgebaut war. Aber reißt dies wirklich gleich die ganze Welt aus ihrer Verankerung? Die „Welt“ bestand schon immer aus Widersprüchen. Diese Koexistenz wurde jedoch lange Zeit durch wechselseitige Nichtbeachtung oder durch eine verächtliche Herabwürdigung mehr oder weniger ausgeblendet. Es ist einfacher, Toleranz zu üben, wenn gewährleistet wird, dass man nicht mit den „tolerierten“ Weltauffassungen konfrontiert wird. Die „friedliche Koexistenz von Widersprüchen“ in der Weltgesellschaft endet aber nicht damit, dass man sie nach alter Manier einfach nur auf Fähnchen schreibt. Im Zuge der Globalisierung verlieren alte Gestaltungsmonopole ihre Wirksamkeit. Die einzelnen Staaten können nicht mehr ohne schwerwiegendste Folgen als Repräsentanten und Garanten vorsortierter Verhältnisse schalten und walten. Neben diesen treten neue gestaltende Akteure mit jeweils unterschiedlichsten Interessenlagen und Machtausstattungen in einem neuen Kooperationsgefüge gegen- und miteinander an. Die alte Einteilungslogik nach „Eigenem“ und „Fremdem“ und die vielfach einhergehende Wahrung der „eigenen“ Interessen auf Kosten der „anderen“ ist in einer Welt überbrückter geographischer und sozialer Entfernungen nicht mehr möglich. Entscheidungen entfalten in und aus aller Welt Wechselwirkungen, die Berücksichtigung verlangen. Der Einzelne wird dadurch zunächst unweigerlich mit einer „neuen“ Unübersichtlichkeit konfrontiert.

Mit einer hip inszenierten Imagevorlage ist, trotz garantiertem Applaus, bei dieser Gemengelage erst recht kein Land mehr in Sicht. Wer auf bewährtem Boden stehen bleiben will, muss sich auch aktiv und engagiert mit diesem befassen. Die Angehörigkeit qua Geburt ist nicht mehr der Abschluss, sondern der Beginn von Familien- und Gemeinschaftsbildung. Anschauungen und Beziehungen verlieren damit in erster Linie ihren Charakter der Unumstößlichkeit. Dadurch ändert sich auch das Verständnis von Gesellschaft. Diese kann nicht mehr als statischer und klar abgegrenzter Rahmen für die in ihr lebenden Gemeinschaften verstanden werden. Gesellschaft bezeichnet unter diesen Vorzeichen vielmehr den Prozess wechselseitiger Auseinandersetzung und wechselseitigen Austausches. Die einhergehende Wählbarkeit der Beziehungen ist entsprechend auch nicht gleichbedeutend mit einer Bindungslosigkeit. In vielen Bereichen des Lebens ändern sich lediglich die Formen des wechselseitigen Umgangs - genauer, die Art und Weise der einhergehenden Konsequenzen. In allen gesellschaftlichen Feldern hing die Entscheidung, ob eine Beziehung eher oberflächlich oder tiefgründiger geführt wird, schon immer von den Beteiligten selbst ab. Allerdings war vielfach der Ausweg für die leidtragende Seite nicht bzw. nur unter übelsten Bedingungen gegeben.