INDIVIDUUM

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Bei der gegenwärtigen Bedrohungslage kann jedoch niemandem ernsthaft zugemutet werden, auch noch die Interessen und Sorgen der Menschen außerhalb Deutschlands zu berücksichtigen. Wir steuern jetzt schon direkt auf eine Burn-Out-Gesellschaft zu. Pfleglich und rücksichtsvoll zu behandelnde Einzelfälle gibt es nicht, alle sind gleichermaßen erschöpft. Das Wissen um die neue Eigenverantwortlichkeit hat uns in die Selbstüberforderung getrieben.

Was steckt hinter dieser breit geteilten Diagnose? Eine erste auszehrende Überforderung ist alleine schon die endlose Liste dessen, was manche Kinder im Vorschulalter lernen müssen, um mit der weltweiten Konkurrenz mithalten zu können. Einen nicht weniger ermattenden Umfang haben die Empfehlungen der Consultants, wie der gnadenlose Kampf auf dem internationalen Markt zu gewinnen ist. Dabei haben alle diese international erfolgreichen Berater wahrscheinlich eines gemeinsam - sie hatten sicherlich eine unbeschwerte, ruhige Kindheit. Ohne die besorgten Eltern in Gegenwart ihrer Schützlinge Lügen strafen zu wollen - so manch einer der heute erfolgreichen Menschen hat seine Karriere unglaublicherweise tatsächlich mit einem Hauptschulabschluss begonnen.

Die Anforderungen der heutigen Zeit sind sicherlich nicht kleiner geworden. Es besteht grundsätzlich und überwiegend Einigkeit darüber, dass das Arbeitsleben immer seltener vorgefertigte Bahnen bereithält, denen man folgen könnte. Umso erstaunlicher ist ein Missgeschick, das sich bei allen Beratenen gemeinsam findet. Jeder von ihnen hatte, ohne überhaupt einen solchen erkennen zu können, den falschen Weg gewählt. Dabei hätte dem jungen Mann klar sein müssen, dass man ohne Abitur heute nichts mehr zu erwarten hat. Auch die junge, promovierte Naturwissenschaftlerin mit mehrjährigem Studienaufenthalt im Ausland hätte wissen können, dass ein Lebenslauf ohne abgeschlossene Elternphase jämmerlich erscheint. Was käme wohl heraus, träfen sich diese Beiden zu einem Erfahrungsaustausch? Woher wissen also die Diagnostiker nur, was das Richtige gewesen wäre, die Betroffenen selbst aber grundsätzlich nicht?

Fragt man hier diejenigen, die bereits die Früchte ihres vermeintlichen Irrwegs ernten, so kommen ausnahmsweise einmal die Berater selbst nicht besonders gut weg. Wer diese als bestätigende Streckenposten ansteuert, gerät damit tatsächlich auf den Holzweg und verliert sein Ziel aus den Augen. So menschlich das Streben nach Anerkennung auch sein mag, der eigene Pfad ist diesbezüglich eine Durststrecke. Das begehrte Gut ist, wie sich bei verschiedenen Würdenträgern beobachten lässt, jedoch ohnehin eine äußerst unbeständige Sache. Der schwierigste Teil der Lebensgestaltung besteht also darin, Eigenverantwortlichkeit und Selbstbestimmtheit beieinander zu halten.

Eine aktive Auseinandersetzung mit den eigenen Fähigkeiten, das Fällen von Entscheidungen, die immer auch anders hätten ausfallen können, eine Unmenge an verpassten Chancen - das alles wirkt einer Überforderung sicherlich nicht gerade entgegen. Neben der steigenden Zahl an Burn-Out-Diagnosen findet sich jedoch noch ein weiterer Sachverhalt. Messungen zur Persönlichkeitsstärke verzeichnen einen deutlich positiven Trend. Die Menschen haben in unsicheren Zeiten an innerer Stärke gewonnen. Es scheint also naheliegend, dass sie nicht nur mit ihren alltäglichen Aufgaben zurecht kommen, sie scheinen auch an diesen zu wachsen. Nach dem kanadischen Psychologen Albert Bandura spricht man hier von der Selbstwirksamkeitserwartung. Diese bezeichnet die Überzeugung, dass man eine gestellte Aufgabe erfolgreich bewältigen kann. In der Personalpsychologie sind die Zielsetzungen zwar etwas enger gesteckt, aber auch dort findet dieses Persönlichkeitsmerkmal schon längere Zeit Beachtung. Die Selbstwirksamkeitserwartung verändert sich nach Albert Bandura in Abhängigkeit von vier Quellen. So stärkt die eigene Bewältigung von schwierigen Situationen diese Erwartung ebenso wie eine entsprechende Beobachtung bei Personen, deren Fähigkeiten als den eigenen ähnlich eingeschätzt werden. Als dritte Quelle gilt das Zureden und Zutrauen durch die Mitmenschen. Löst hingegen eine Situation körperliche Reaktionen, wie beispielsweise Stress oder Angst aus, wirkt sich dies verständlicherweise eher negativ aus. Der Wirkbereich dieser vier Quellen wird unterschiedlich eingeschätzt. Albert Bandura selbst tendiert eher zu einem engeren Verständnis. Eine negative Erfahrung mit einer bestimmten Aufgabe verändert beispielsweise also lediglich die Selbstwirksamkeitserwartung für ähnliche Situationen. Das weiteste Verständnis sieht hier eine Prägung im Generellen. Eine Erfahrung mit einer bestimmten Aufgabe verändert nach dieser Sichtweise also die Erfolgserwartung für alle denkbaren Aufgaben.

In der Arbeitswelt ist der Globalisierungsprozess für die Menschen am deutlichsten spürbar. In kaum einem anderen Bereich ist die Wahrnehmung allgemeiner Tendenzen und die Sicht auf die eigene Situation derart unmittelbar verknüpft. Die Kombination aus Globalisierung und eigenem Arbeitsplatz führt regelmäßig zu den schlimmsten Befürchtungen. Die Quellen der Selbstwirksamkeit lassen es hier als besonders sinnvoll erscheinen, die Weltmarkttauglichkeit der Eigenschaften und Fähigkeiten eines Ratsuchenden in Frage zu stellen. Statistisch kann dieser negative Einfluss wieder behoben werden, weil sich überall auf der Welt die gleichen Befürchtungen und Ängste finden lassen. Die Auswirkung bei den politischen Ansichten lässt sich dagegen nicht einmal auf dem Papier kaschieren. Manche Manager halten es für ein intelligentes Vorgehen, ihre Maßnahmen als durch die Globalisierung erzwungen zu präsentieren. Wer jedoch als Lenker in einem steuerbaren Prozess von Zwängen spricht, ist offensichtlich nicht Herr der Lage und darf nach Hause gehen. Wird eine Situation erst einmal als Naturgewalt und unbeeinflussbar wahrgenommen, für die keine Hilfe oder auch nur ein sinnvoller Rat zu erwarten ist, verbindet sich diese erwiesenermaßen mit psychologischen Vermeidungshaltungen bis hin zu rassistischen Abschottungsabsichten.

Bildung ist für die Alltagsbewältigung die wichtigste Ressource. Die Behauptung, die Menschen seien schutzlos irgendwelchen Gewalten ausgeliefert, torpediert über die Selbstwirksamkeitserwartung nicht weniger als die Anwendung der erworbenen Fähigkeiten. Kooperation stärkt das Durchhaltevermögen und erhöht die Bandbreite an Lösungsansätzen. Die Behauptung, in einer heterogenen, multikulturellen Gesellschaft gebe es keinen Zusammenhalt, verhindert wiederum über die Selbstwirksamkeitserwartung bereits die Suche nach Gemeinsamkeiten. Niemand identifiziert sich mit einer Gruppe, die ihn möglicherweise schädigt oder ausgrenzt. Für die betriebliche Ebene ist dieser Zusammenhang zwischen sozialer Identifikation und Selbstwirksamkeitserwartung bereits statistisch belegt.

In der Arbeitswelt findet tatsächlich ein Verfallsprozess statt, der das alltägliche Leben nicht unbedingt einfacher macht. Die resultierende Gefährdungslage deckt sich jedoch nicht mit den mehrheitlichen Beschreibungen. Vielfach verschwinden gerade die Strukturen, die die Menschen viel zu lange voneinander trennten und gegeneinander aufbrachten. Vielleicht wird in keinem anderen Feld als der Arbeitswelt so deutlich, dass die Weltgesellschaft eine Gesellschaft der Individuen ist. Wer allerdings glaubt, damit sei der Krieg aller gegen alle ausgerufen, der war vielleicht doch unter den Bedingungen des vergangenen Jahrhunderts besser aufgehoben. In den geschlossenen Nationalgesellschaften drehte sich alles um das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft. Der Einzelne musste zum gesellschaftskonformen Verhalten diszipliniert werden. In der Weltgesellschaft hingegen hat jeder Einzelne grundsätzlich eine Fülle an Möglichkeiten, sich selbst auszuprobieren und seine besonderen Seiten zu verwirklichen. Auch wenn sich der amerikanische Psychologe Abraham Maslow (1908 bis 1970) mit seiner Bedürfnispyramide und der dieser zugrunde liegenden Bedürfnishierarchie sehr wahrscheinlich geirrt haben dürfte, so ergeben sich aus seiner Arbeit zumindest zwei Hinweise. Zum einen spielen Geschlecht, Alter und Herkunft keine Rolle. Zum anderen geht die Selbstverwirklichung im Zuge der Individualisierung nicht auf Kosten einer gesellschaftlichen Orientierung. Der von ihm beschriebene selbstverwirklichte Mensch zeichnet sich vor allem durch eine tief empfundene Verbundenheit mit sich selbst und der ganzen Menschheit aus. Der wiederum vielfach gesuchte Kitt, für den Zusammenhalt der Menschen in der Weltgesellschaft, dürfte mit der Selbstwirksamkeitserwartung zumindest in Verbindung stehen, wenn nicht sogar bereits gegeben sein.

Der Verfall der Religion

Was ist aus der Religion ...

Nein, diese Frage kann wirklich nicht zu Ende gestellt werden. Zu dominant sind im Zusammenhang mit Religion die Eindrücke des Trennens und des gegeneinander Aufbringens und die diesbezüglichen Erfolge der unterschiedlichen Weltreligionen - jahrzehntelange Kriege, Folter, Aberkennung des Menschseins etc. Das Ausmaß an menschenverachtender Kreativität verbindet sich unweigerlich mit der Hoffnung auf ein schnelles Verschwinden des Religiösen. Dabei scheint zumindest eines grundsätzlich festzustehen - die wirklich Grausamen sind immer die anderen.

Eine der großen Fragen der heutigen Zeit scheint entsprechend darin zu bestehen, welche Religionen nun zu Deutschland gehören und welche nicht. Unbestritten ist, dass das Christentum zu Deutschland gehört. Die nachbarschaftliche Kooperation von Staat und christlicher Kirche ist im deutschen Staatskirchenrecht streng nach Zuständigkeiten geregelt. Schließlich kümmert man sich gemeinsam um ein und denselben Menschen, der je nach Verantwortlichkeit einmal Bürger, das andere mal Kirchenmitglied ist. Die konstitutionelle Offenheit untersagt es dem Staat, die Fragen nach Gott, nach Woher und Wohin zu stellen. Für die Antworten dieser ungestellten Fragen ist die Kirche zuständig. Um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen, konkretisiert der ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof, dass dies allerdings nicht mit Abstand zum Staat zu geschehen hat und dass selbigem damit auch keine unentschiedene Haltung zum Glauben aufgezwungen wäre.

 

Ebenfalls unbestritten ist, dass, spätestens in beschämender Erinnerung an das „christliche Verhalten“ im Dritten Reich, nunmehr auch das Judentum zu Deutschland gehört. Beiden gemeinsam sei schließlich der Kampf mit der säkularen Aufklärung und die Hinwendung zu den universalen Menschenrechten. Nach dieser Lesart mussten die Menschenrechte den Kirchen kämpferisch abgerungen werden. Andere Strömungen sehen dagegen im Christen- und Judentum den Ursprung dieser Rechte. So verdanke gerade der freiheitliche Rechtsstaat dem christlich-jüdischen Glauben die geistige Fundierung seines rechtlichen Ursatzes, der Würde des Menschen. Man sollte bei dieser Feststellung allerdings nicht übersehen, dass die katholische Kirche die Menschenwürde mit einer einschränkenden Fußnote versehen hat. So beispielsweise die Ächtung der Homosexuellen. Die „verleumderischen“ Insiderberichte sind zwar schwer einzuordnen, unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit möchte die Amtskirche jedoch sehr wahrscheinlich das Privileg der Homosexualität für ihre eigenen Würdenträger reserviert wissen.

Der Islam hingegen kann unter keinen Umständen zu diesem zivilisierten Verhalten passen. Er habe seit jeher eine philosophische Auseinandersetzung vermieden und dulde keinerlei Kritik. Dabei wären die selbsternannten Tadler durchaus bereit, der verfassungsrechtlichen Religionsfreiheit mehr Gewicht zu geben. Die Gegenseite müsste lediglich auf die Sichtweisen verzichten, die sich nicht mit der Weltauffassung der Kritiker vertragen.

Kollidiert der Islam wirklich grundsätzlich mit den westlichen Vorstellungen? Wie steht es mit der unumstößlich wichtigen und entsprechend immer wieder angeführten Trennung von Staat und Kirche? Im aufgeklärten Europa und den USA wird hier jedenfalls immer deutlich getrennt. Während die US-Amerikaner in der Tradition ihrer Einwanderer vor allem den Einfluss des Staates auf die Freiheit der Religion abwehren möchten, gründet sich der französische Laizismus umgekehrt eher auf die geschichtliche Erfahrung der kirchlichen Einflussnahme auf ihr Staatswesen. In Deutschland hat man, dank der bereits erwähnten eindeutig regulierten Zuständigkeit, weder die eine noch die andere Angst - Hauptsache es bleibt christlich und, Anfeindungen trotzdem nicht ausgeschlossen, auch jüdisch. Die europäischen Monarchien sind hier zugegebenermaßen noch etwas rückständig. Im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland ist Ihre Majestät gleichzeitig Staats- und auch Religionsoberhaupt der Anglikanischen Kirche, die in England Staatskirche ist. Schottland leistet sich mit der Presbyterianischen Kirche eine eigene Staatskirche. Auch das Königreich Norwegen hat den Protestantismus als Staatsreligion in seiner Verfassung festgeschrieben. Problematisch sind diese Konstellationen jedoch deshalb nicht, weil weltweit nur eine Religion nicht mit einem demokratischen Staatswesen vereinbar ist. Man ahnt es bereits - der Islam.

Bedauerlicherweise lässt es sich in einem freiheitlichen Staat nicht verhindern, dass Querulanten dieses stimmige Bild in Frage stellen. So weise keine einzige Religion eine eindeutige Demokratieverträglichkeit auf. Zum Beweis wird den christlichen Kirchen ein Fehlverhalten im ostmitteleuropäischen Umbruchprozess der Jahre 1989/90 vorgeworfen. Dabei ist deren herausragende Rolle im Demokratisierungsprozess ebenso dokumentiert wie das dortige Bedürfnis nach seelsorgerischem Beistand und religiöser Verankerung der neuen Gesellschaft. Trotz polnischstämmigem Oberhaupt ahnte auch in Rom damals niemand, dass selbst diese Menschen ihr Leben eigenverantwortlich gestalten wollten. In undankbarer Weise warf man der Kirche entsprechend vor, sie würde sich nicht nur ungefragt in die Politik einmischen, sondern auch in die Fragen der Kindererziehung und der Sexualmoral. Zwar wurde nach Kräften versucht, neu aufkommende oder auferstehende Glaubensgemeinschaften zu bekämpfen, letztlich musste jedoch die Hoffnung aufgegeben werden, jemals wieder offiziell in den Schlafzimmern der Gläubigen mitmischen zu können. Wenigstens musste der afrikanische Kontinent diesbezüglich noch nicht aufgegeben werden. In Deutschland ist nach neueren Untersuchungen dagegen nicht einmal auf die Kirchgänger verlass. Kollidiert deren Leben mit der offiziellen Lehre, beispielsweise durch eine sündhafte Lebensgemeinschaft, rücken die Menschen lieber von der Amtskirche ab, als reumütig auf den Pfad der Tugend zurückzukehren.

Um den Islam in einem besseren Licht erscheinen zu lassen, werden zudem Beispiele ausgegraben, die nicht nur Tausende Kilometer entfernt sind, sondern Muslime auch noch als Opfer präsentieren. So soll es in Indien ursprünglich zwei Auffassungen von Säkularismus gegeben haben: Auf der einen Seite als klassische Trennung von Staat und Religion, auf der anderen Seite, zurückgehend auf Mahatma Gandhi (1869 bis 1948), als Gleichberechtigung aller Religionen innerhalb des Staatswesens. Letztere setzte sich zwar durch, führte jedoch nicht zum beabsichtigten friedlichen Miteinander zwischen Hindus und Muslimen. Der erstarkende Hindu-Nationalismus verabschiedete sich, laut einer Verhandlungsbeobachterin, vollends von republikanischen Werten und definierte auch die Staatsbürgerschaft fortan nicht mehr territorial, sondern religiös. Dank dieses geschickten Winkelzugs blieb sogar der Toleranz-Anstrich unversehrt. Die hindunationalistische Brutalität war damit lediglich eine Notwehrhandlung der legitimen Staatsbürger gegen die drohende Besetzung durch die Muslime. Auch die Buddhisten in Myanmar bedienen sich dieser bewährten Argumentation gegen die muslimischen Rohingya. Eine Notwehrlage ist allerdings nicht alleine dadurch gegeben, dass sie sich als Rechtfertigung schön anhört. Und wenn sie tatsächlich vorliegt, müsste streng genommen auch noch das mildeste Mittel zur Abwehr gewählt werden. Aber das ist selbst manch zivilisiertem deutschen Staatsbürger zu kompliziert.

Eine allgemeinere Verlaufsanalyse der religiösen Konflikte in Indien, Nordirland und auch dem ehemaligen Jugoslawien kommt zu dem Schluss, dass die unlösbaren Streitfragen nicht der Ausgangspunkt, sondern ein Produkt der Spannungen sind. Hier wird nach Julia Eckert absichtlich eine Endlosschleife erzeugt, die als gemeinschaftsstärkende Dynamik hervorragende Dienste leistet. Spätestens hier müssten selbst dem hartnäckigsten Ignoranten die Vorzüge der friedfertigen deutschen Kultur ins Auge stechen. Auf Konfliktlösung und Harmonie ausgerichtet, sind derartige Entgleisungen in unserem Rechtssystem nicht möglich. Die unbelehrbaren Blasphemiker bestreiten stattdessen sogar den grundsätzlichen Unterschied zwischen einem europäischen, weltlich und demokratisch verfassten Rechtsstaat und einem religiös gestützten, islamischen Gebilde.

Selbst der eindeutig repressiv-autoritäre Charakter des islamischen Staatswesens wird von manchen Analysten argumentativ verwischt. Dieser sei nicht ausschließlich Erbe der islamischen, sondern auch der westlichen Geschichte. So sei der diesbezüglich ungünstige Mangel an politischer Legitimation eine strukturelle Hinterlassenschaft der europäischen Kolonialzeit. Die politische, ökonomische und kulturelle Vormacht der industrialisierten Staaten habe letztlich auch zur Politisierung des Islam geführt.

Diese Beschreibungen rütteln zwar bereits an der alten Gut-Böse-Schablone, unterschlagen jedoch die eigene Entwicklungsgeschichte und die Vielschichtigkeit des Islam. Nicht rigide Strukturen, sondern Widerstand und Aufbegehren prägen von Anfang an die islamische Bewegung. Auch das Glaubensfundament ist facettenreich genug, um gleichzeitig sowohl den Herrschaftsanspruch der Eliten zu untermauern als auch den Widerstand gegen selbige zu legitimieren. Als Zäsur wird der Verwestlichungsverdacht gegen die traditionellen religiösen Führer beschrieben. Im Zuge dieser Auseinandersetzung soll die Scharia erstmals zur zentralen Referenz für die Errichtung eines islamischen Staatswesens geworden sein. Das klassische Verständnis weist dagegen noch eine klare Trennung zwischen einem politischen und einem religiösen Wirkbereich auf. Das religiös fundierte Juristenrecht entstand, nach wissenschaftlichen Erkenntnissen, grundsätzlich getrennt und jenseits einer staatlichen Setzung. Ist damit das schöne Kernargument entkräftet?

Möglicherweise der westlichen Eitelkeit geschuldet, wird zwar der Ursprung als „europäischer Import“ angegeben, die Beschreibung mancher islamisch verfasster Gemeinwesen lässt jedenfalls tatsächlich keine eindeutige Abgrenzung zum westlichen Aufbau zu. Formen politischer Unabhängigkeit sind für diese Staaten ebenso charakteristisch wie ein auf die öffentliche Hand begrenztes Gewaltmonopol und eine nicht religiös, sondern legal begründete politische Ordnung. Dieser rechtliche Unterbau beruht ebenfalls rechtsstaatstypisch weitestgehend auf formalen, entscheidungsgesetzten Verfahren. Auch wenn die weitere Entwicklung in den nordafrikanischen Umbruchstaaten noch abzuwarten bleibt, muss offensichtlich zumindest ein elementarer westlicher Irrtum endgültig aufgegeben werden. Der Islam steht nicht grundsätzlich für eine unumstößliche Verbundenheit von weltlicher Herrschaft und religiöser Ordnung. Die gegenteilige Behauptung kann sich jedenfalls nicht (mehr) auf eine historische Grundlage stützen.

Ob nun also das Christentum oder der Islam die Erfindung der Unterordnung der Frau für sich beanspruchen darf, muss wahrscheinlich ebenso durch das Patentamt überprüft werden, wie die Urheberschaft der psychischen Schädigung der Kinder. Experten sind sich hier zumindest uneinig, ob die Zwangsverheiratung nach der Vorstellung mancher Muslime oder dann doch der sexuelle Missbrauch nach dem Vorbild einiger Vertreter der aufgeklärten katholischen Kirche die effektivere Variante ist. Strittig bleibt letztlich sogar, ob die Freiheit der Bürger und die Autonomie der Politik überhaupt nur durch eine strikte Trennung von weltlichem und spirituellem Bereich erreichbar ist. Die fortschreitende Säkularisierung ist zwischenzeitlich jedenfalls bei der Sorge angekommen, ob eine demokratische Gesellschaft ohne religiöse Grundlegung überhaupt überlebensfähig ist. Dabei zeichnet sich ein Fundament ab, dass für ein recht umfängliches Gesellschaftsgebäude spricht. Nach Recherchen der Boulevardpresse verleugnen zwar ausgerechnet traditionsbewusste Innenpolitiker aus Herrschsucht regelmäßig ihren eigenen Urgroßvater. Einzelheiten über die gemeinsame Kindheit von Christen, Juden und Muslimen sind jedoch den Berichten über Abraham zu entnehmen. Die Verwirrung vieler Beobachter dürfte dadurch allerdings nicht unbedingt aufgelöst werden. Eigentlich war man davon ausgegangen, dass die zunehmende Ausbreitung des rational-empirischen Erkennens eine Ursachenzuschreibung auf eine Gottheit überflüssig werden lässt. Dann zeigte sich, dass die Religion nicht verschwand, sondern nur unsichtbar wurde. Inzwischen ist sie immerhin wieder sichtbar, dafür aber privatisiert. Wie lässt sich denn nun feststellen, ob wir heute in einer säkularisierten, post-säkularen oder bereits wieder in einer resakralisierten Gesellschaft leben?

„Säkularisierung“ - für die einen der Himmel auf Erden, für die anderen eine eindeutige Machenschaft des Teufels. Es ist also naheliegend, dass diese Einschätzung die Spreu vom Weizen, die Leugner von den Gläubigen trennt. Der einzige Unterschied, der sich hier allerdings herauskristallisiert, liegt im jeweils unterschiedlichen Verständnis dessen, was Säkularisierung eigentlich bedeutet.

Nach einer Ansicht bezeichnet diese die Trennung von staatlichem Gemeinwesen und Religion. Die Befürchtung bzw. die Hoffnung, dass die jeweilige Kirche den Ausschluss von der verfassungsrechtlichen Macht nicht überlebt, beschränkte sich auf Europa. In den USA war dieser Prozess für die Kirchen geradezu ein Segen. Die Säkularisierung führt nach diesem ersten Verständnis letztlich also lediglich zu einem weltanschaulich neutralen Staat.

Ähnlich, aber mehr auf das Verhältnis zwischen den Religionsgemeinschaften gerichtet, ist das Verständnis, das mit Säkularisierung eine Pluralisierung der Weltanschauungen bezeichnet. Zwar entstehen dabei auch neue Glaubensrichtungen, die teilweise diesen oder jenen Aspekt mehr oder weniger betonen als die bereits bestehenden Institutionen. Das Hauptaugenmerk gilt hier jedoch dem Abbau ehemaliger kirchlicher Monopolstellungen auf dem Weg zum anschauungsneutralen Staatswesen.

 

Andere wiederum bezeichnen mit Säkularisierung eine Lockerung bzw. einen Bindungsverlust des Einzelnen zu religiösen Werten und Institutionen. Säkulare Humanisten räumen der jüdisch-christlichen Tradition zwar einen gewissen Beitrag auf dem Weg zu den Menschenrechten ein, der völlige Verzicht auf eine religiöse Perspektive führe ihrer Meinung nach jedoch zum besseren Leben. Die Gegenseite hält ein solches Unterfangen nur dann für möglich, wenn die menschliche Neigung zum Spirituellen neurochirurgisch entfernt wird. Bei dieser Säkularisierungsdebatte werden ausnahmsweise einmal die individuellen Bedürfnisse thematisiert.

Meist völlig unbeachtet bleibt das letzte Verständnis von Säkularisierung. Der Beginn wird bereits auf das 11. Jahrhundert datiert. Damals versuchte die katholische Kirche unter Papst Gregor VII (Pontifex von 1073 bis 1085) sich von der „staatlichen“ Macht zu lösen. Das Ziel war, eine autonome Institution mit eigener Gesetzgebung zu etablieren. Bekannt ist Papst Gregor VII vor allem durch sein inniges Verhältnis zu Kaiser Heinrich IV (1050 bis 1106), damals noch König. Erst belegte der Papst den König mit dem Kirchenbann. Dann wanderte der König 1077 nach Canossa, wo nach dreitägiger Buße der Bann wieder aufgehoben wurde. Dafür setzte der König im Jahr 1080 den Papst ab und etablierte mit Klemens III einen Gegenpapst. Dieser dankte dem König wiederum, indem er ihn zum Kaiser krönte. Erwähnenswert ist noch, dass Papst Gregor VII auch die Durchsetzung des seit Längerem bestehenden Zölibats einleitete. Seine Auslegung, dass ein kirchenrechtliches Verbot auch das praktische Sexualleben der Geistlichen prägen sollte, stößt bis heute in manchen Kreisen auf Unverständnis. Die von ihm angestoßene Säkularisierung ist dagegen seit der endgültigen Erlangung der staatlichen Souveränität der Vatikanstadt im Jahr 1929 abgeschlossen.

So unterschiedlich diese Auffassungen von Säkularisierung auch sind, als gemeinsamer Nenner bleibt jeweils die Befreiung von bevormundenden Anweisungen in Glaubensfragen. Normen sind immer dann im Spiel, wenn mehrere Menschen eine gemeinsame Richtschnur brauchen. Wie erklärt sich aber diese Verbindung von Gesellschaft und Religion?

Viele Gesellschafts- und Staatstheoretiker gehen davon aus, dass die Vernunft das Wesen des Menschen ausmacht und haben trotzdem oder gerade deshalb auffallend häufig Angst vor dem Individuum. Die genauere Beleuchtung dessen führt unter der Leitung des Religionswissenschaftlers Alexander-Kenneth Nagel zurück ins 17. Jahrhundert. Damals ging die Aufklärung von England aus und erreichte im 18. Jahrhundert über Frankreich auch den Rest Europas. Dabei sollten die Menschen grundsätzlich von der Tyrannei der christlichen Tradition befreit und zu einer religiösen Toleranz geführt werden.

Der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588 bis 1679) gehört mit zu den bekanntesten Angsthasen. Relativierend sollte allerdings nicht unerwähnt bleiben, dass er sich immerhin „als unbequemster politischer Denker Englands“ mit allen seinen Zeitgenossen anlegte. Im „Naturzustand“ herrscht seiner Ansicht nach der reine Egoismus und der Kampf aller gegen alle. Der berühmte Satz „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“ hat nicht nur dem damaligen Ansehen von Thomas Hobbes selbst, sondern bis heute auch dem der Wölfe geschadet. Jedenfalls mache dieser zerstörerische Naturzustand den Gesellschaftsvertrag notwendig. Inhaltlich begründet dieser Vertrag die absolute Gewalt des Staates über alle Bürger. Der Staat, bei Thomas Hobbes „Leviathan“ genannt, ist Garant und Hüter der Sicherheit, damit niemand auf falsche Gedanken kommt. Entsprechend bestimmt die Krone auch über die Einzelheiten des Glaubens, so dass dem Untertan im Gottesdienst zugleich die weltliche Macht bewusst wird. Nur auf diesem Weg könne das engstirnige tradierte Weltbild der Christen überwunden werden. Dabei konnte sich Thomas Hobbes eine erfreuliche Vorarbeit der katholischen Kirche aus dem Mittelalter zunutze machen. Dank dieser liegt der Ausgangspunkt der Religion nicht nur in der Furcht, sondern zudem auch noch in der Verehrung des Gefürchteten. Auf diesem Weg lassen sich auch die Herrschaftsansprüche des Staates vortrefflich absichern.

Bei den Franzosen konnte man sich mit der Beschreibung des negativen Naturzustandes von Thomas Hobbes nicht so wirklich anfreunden. Schließlich lebte zu dieser Zeit Gott höchstpersönlich noch in Frankreich. Der französische Schriftsteller und Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712 bis 1778) gilt entsprechend zugleich als Vertreter und Überwinder der Aufklärung. Der Naturzustand ist durch Glück charakterisiert - also zurück zur Natur und der Souveränität des Volkes! Gerüchten zufolge war Jean-Jacques Rousseau auch der erste Träger der später so berühmt gewordenen modischen Jute-Taschen. Er unterscheidet drei Arten von Religion: 1. „Religion des Menschen“, 2. „Religion des Bürgers“ und 3. „Zivilreligion“. Die „Religion des Menschen“ zielt auf die Innerlichkeit und Moralität. Auf religiöse Institutionen kann damit gänzlich verzichtet werden. Hier taucht allerdings wieder das altbekannte Problem auf, dass niemand genau weiß, was der Einzelne daraus macht. Jedenfalls besteht die Gefahr, dass dieser sich vom Staat entfremdet und die Moralität sich eben nicht an den Werten der staatlichen Gemeinschaft orientiert. Dieses Problem lässt sich jedoch relativ einfach lösen. Die „Religion des Bürgers“ besteht aus einer Reihe von Lehrsätzen und Kulthandlungen, die einzig und alleine vom Staatsoberhaupt festgelegt werden. Damit verschwindet zwar das Problem der „Religion des Menschen“, gleichzeitig taucht allerdings ein völlig neues Problem auf. Die „Religion des Bürgers“ begründet und fördert kriegerische Auseinandersetzungen mit anderen Völkern. Die gesellschaftlichen Unzulänglichkeiten dieser beiden „Religionen“ können jedoch mit der „Zivilreligion“ von vornherein überwunden werden. Alle Menschen sind in brüderlicher Liebe vereint und für das Vaterland bleibt auch noch genug Zuneigung übrig. Auf einen integrierenden übermächtigen Staat kann somit verzichtet werden. Dieser konnte die gemeinsamen Spielregeln des Miteinanders sowieso bestenfalls nur in den Köpfen verankern. Die „Zivilreligion“ verankert die Regeln der liberalen Demokratie nicht nur in den Köpfen, sondern vor allem auch in den Herzen der Bürger. Jeder Einzelne wird durch seine Liebe zum Garanten der wechselseitigen Integration. Die zur Umsetzung dieser ehernen Ideale ab 1789 entfachte blutige Metzelei und die erfindungsreich rückwärtsgewandte Selbstkrönung Napoleon Bonapartes (1769 bis 1821) im Jahr 1804 musste Jean-Jacques Rousseau nicht mehr miterleben. Wahrscheinlich hätte er sich in suizidaler Absicht seine Jute-Tasche über den Kopf gestülpt.

Ganz auf der Linie Jean-Jacques Rousseaus sieht im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert auch Emile Durkheim den Zusammenhalt nur durch ein „soziales Band“ gewährleistet. Allerdings scheint der Einzelne nicht mehr ganz so gefährlich zu sein, wird sein Verhalten in der Gesellschaft doch von einem allgemeinen Kollektivbewusstsein bestimmt. Emile Durkheim ging es auch nicht um eine politische, sondern vielmehr um die „soziale Integration“ und Religion ist nun einmal der „Inbegriff des Sozialen“. Die sozialmoralische Gesellschaftsgrundlage ist durch den „Kult des Individuums“ gegeben. Dabei müssen zwei grundsätzliche Arten des Individualismus unterschieden werden. Der Egozentrismus, wie er heute vielfach mit der Individualisierung in Verbindung gebracht wird, ist damit gerade nicht gemeint. Es gibt vielmehr einen Ansatz, der das Individuum in den Mittelpunkt stellt, ohne dass eine destruktive und anarchistische Ellenbogen-Mentalität befürchtet werden müsste. Wie bei Immanuel Kant (1724 bis 1804) bildet sich hier im Individuum die gesamte Menschheit ab. Das zugrunde liegende Ideal geht dabei soweit über die Nutzenfrage des Utilitarismus hinaus, dass diese Orientierung am Individuum und gleichzeitig an der gesamten Menschheit gefühltermaßen nur religiös sein kann. Denn das, was den Einzelnen antreibt, ist nicht Egoismus, sondern eine tief empfundene Sympathie mit der ganzen Menschheit. Dem Menschen kommt in dieser Religion also eine Doppelrolle zu. Er ist nicht nur Gläubiger, sondern gleichzeitig auch Gott. Damit dies auch zweifelsfrei funktioniert, wird der Mensch bei Emile Durkheim in zwei Naturen gespalten. Auf der einen Seite ist er als individuelles Wesen ein Organismus. Auf der anderen Seite ist er als gesellschaftliches Wesen eine Persönlichkeit. Den einen Kritikern fehlt hier eine Vermittlungsinstanz. Sie denken beispielsweise, in Anlehnung an Sigmund Freud, an eine zu berücksichtigende Ich-Identität. Andere sehen in der „Sakralität der Person“ zwar verhindert, dass sich das egozentrische Individuum selbst sakralisiert, damit sei jedoch noch nicht bewiesen, dass diese Heiligkeit auf den Menschen selbst und nicht auf einen Gott zurückgeht.