INDIVIDUUM

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Gesicherte Erkenntnisse liegen allerdings bereits zum Zusammenhang von Interaktionskompetenz und Familienform vor. Der Erwerb der Interaktionskompetenz hängt erwiesenermaßen nicht von der Familienform selbst, sondern von der Beziehungsqualität ab. Die Beziehungsqualität wiederum zeigte keinen eindeutigen Zusammenhang zu finanziellen und zeitlichen Belastungen, wie sie für verschiedene Familienformen grundsätzlich angenommen werden. Vielmehr zeigte sich überraschenderweise hier eine negative Wechselwirkung mit den Kontrolleuren. Bei allen gegebenen Schwierigkeiten beeinträchtigen im Ergebnis nicht die alternativen Lebensformen selbst, sondern vor allem deren Stigmatisierung die Entwicklung der betroffenen Kinder.

Zugegeben, „Chinesisch für Fortgeschrittene im Alter von 3 bis 5 Jahren“ und „Voltigieren für Krabbelkinder“ wird meist von einer anderen Klientel besucht. Aber ist es vielleicht sogar denkbar, dass sich die sogenannten problembehafteten Familienformen letztlich als Kompetenzzentren für die zunehmend ebenfalls an Bedeutung gewinnenden „soft skills“ erweisen?

Als „problembehaftet“ werden Familien in erster Linie eingestuft, wenn eine Scheidung vorliegt. Die Scheidungserfahrung ist bekanntermaßen für alle Beteiligten dauerhaft beeinträchtigend. Dabei haben Frauen eher Probleme mit der Situation vor der Trennung, bei Männern ergeben sich die Probleme eher hinterher. Vor allem aber für Kinder kann die Scheidung zu einer traumatischen Erfahrung werden. Nach amtlichen Daten war im Jahr 2016 bei gut der Hälfte aller Fälle Nachwuchs im Spiel. Man geht zwischenzeitlich allerdings davon aus, dass die Scheidung als solche nicht alleine bewertet werden kann. Als problemgenerierend erwies sich nämlich weniger die Trennung, als vielmehr der wechselseitige Umgang vor und nach der Scheidung. Ungezügelte Streitigkeiten vor dem Kind und die Instrumentalisierung dessen für Einzelinteressen sind der effektivste Weg, das Kindeswohl zu beeinträchtigen. Diese Situation vor Augen, plädiert die klinisch orientierte Scheidungsliteratur für eine radikale und vollkommene Trennung. In der Praxis zeigt sich allerdings, dass für die Kinder die Beziehungspflege zu beiden Elternteilen elementar wichtig ist.

Bei der Scheidung wird entsprechend also nur das Ehesystem, nicht aber das Eltern-Kind-System gelöst. Man spricht fortan von der Fortsetzungsfamilie. Dabei handelt es sich um eine Vielzahl von möglichen Familienkonstellationen. Die prominenteste Vertreterin ist die Patchworkfamilie. Bei diesen Familien ist die Situation meist noch relativ einfach zu erfassen. Väter und Mütter aus vorangegangenen Beziehungen bekommen in einer neuen Ehe weitere, gemeinsame Kinder. Die sicherlich älteste Variante ist die Stieffamilie. Zwar wird der Begriff „Stieffamilie“ teilweise auch als Synonym für Fortsetzungsfamilie verwendet, primär wird damit jedoch entweder eine Familie bezeichnet, bei der nach dem Tod eines Partners eine Wiederverheiratung erfolgt oder wenn zu den eigenen Kindern bzw. anstatt eigener Kinder fremde Kinder aufgenommen werden. Neben diesen noch relativ überschaubaren gibt es auch Familienkonstellationen, in denen die Mitglieder nur Ausschnitte einer gemeinsamen Familie teilen. Im Extremfall lebt jede beteiligte Person eine andere Familie. Mittelpunkt, Umfang und Ränder sind dann für jedes Familienmitglied unterschiedlich definiert. Dieser Hintergrund verdeutlicht besonders anschaulich, was bereits der französische Soziologe Emile Durkheim (1858 bis 1917) sinngemäß feststellte: Verwandtschaft begünstigt zwar die Zusammengehörigkeit, diese muss jedoch durch ein aktives Näherrücken erst entstehen. Bei den Formen der Fortsetzungsfamilien muss Familie erst recht durch jeden aktiv hergestellt und organisiert werden. Sie kann dabei durchaus eine Aufwertung erfahren. Die entsprechenden Beziehungen sind frei gewählt und damit auch bewusst gewollt. Das ist mehr als man in mancher Normalfamilie vorfindet. Die zugrunde liegende Aufgabe hört sich zwar anstrengend an, scheint aber ein sehr fruchtbarer Prozess zu sein. Die soziale Eltern- und Verwandtschaft gewinnt gegenüber der biologischen enorm an Bedeutung. Es wird davon ausgegangen, dass ungefähr jedes vierte minderjährige Kind mit den sozialen Eltern nur teilweise oder gar nicht verwandt ist. Die meisten Kinder erleben im Zuge dieser aktiven Familienherstellung jedoch nicht den Verlust eines Elternteils, sondern werden zu „elternreichen“ Kindern. Hierfür kommt es vor allem darauf an, dass die Fortsetzungsfamilien Grenzen finden, die den neuen sozialen Elternteil einschließen und den nunmehr abwesenden biologischen Elternteil nicht ausschließen. Nach Rüdiger Peuckert ist ein kindorientierter Umgang zwischen den Expartnern gar nicht so selten. Selbst wenn die biologischen Eltern ihren Konflikt nach der Scheidung nicht lösen können, organisieren manche eine Art „parallele Elternschaft“, die den Nachwuchs vom Kampfgeschehen fernhält. Was die soziale Elternschaft anbelangt, so dauert es in der Regel 5 Jahre, bis zwischen den Kindern und dem neuen Elternteil eine tragfähige Beziehung entstanden ist. Insgesamt bewältigen die meisten Trennungskinder ihre Situation mittel- bis langfristig jedoch problemlos.

Es gibt bei genauer Betrachtung also weder einen Grund, die unterschiedlichen Formen der Fortsetzungsfamilien und deren Mitglieder herabwürdigend zu beäugen, noch deren Erziehungsqualität in Frage zu stellen. Diese Familienformen bieten augenscheinlich vielmehr tatsächlich ein enormes Erfahrungspotential für das Leben in der Weltgesellschaft. Die hierfür entscheidende „Weltbewusstheit“ setzt, in Anlehnung an den Soziologe Rudolf Stichweh, keinesfalls teure Exkursionen in die entlegensten Winkel der Erde voraus. Zum einen ändert die Anzahl bereister Orte nichts an der Grundhaltung, ob andere Lebensauffassungen bestenfalls toleriert oder aber tatsächlich mit Respekt akzeptiert werden. Zum anderen konfrontiert der Weltvergesellschaftungsprozess jeden Einzelnen auch zu Hause damit, dass seine Lebensweise weder die einzige noch die vortrefflichste Möglichkeit ist. Ein Sachverhalt, der den Mitgliedern einer „Nicht-Normal-Familie“ sicherlich mehr als vertraut erscheint. Die entsprechenden Erfahrungen und die Bewältigungsformen, die Kinder im Rahmen einer gelungenen Fortsetzungsfamilie erwerben können, sind für ein Leben mit der Vielfalt der Weltgesellschaft jedenfalls alles andere als hinderlich.

Die Umgangsformen innerhalb der Familie und damit auch das Eltern-Kind-Verhältnis haben sich in den letzten Jahren allgemein gewandelt. Vor allem die Machtbalance zwischen Eltern und Kind ist durch eine Emanzipation der Kinder geprägt. Der Befehlshaushalt, mit seinem autoritären, strengen und strafenden Erziehungsstil, ist überwiegend durch den Verhandlungshaushalt abgelöst worden. Problematischerweise ist unter diesen Umständen allerdings selbst für erfahrene Beobachter nicht immer klar zu unterscheiden, ob sie eine Erziehung hin zur Selbstständigkeit oder eine resignierte Gleichgültigkeit vor Augen haben. Von einer Erziehungsverweigerung dürften die ahnungslosen Nörgler jedoch spätestens dann nicht mehr sprechen, wenn wissenschaftlich belegt ist, dass Kleinkinder, noch bevor sie sich motorisch aufrichten, Wortgefechte durchstehen können. Nicht anders wird es sich mit der törichten Forderung verhalten, dass „verhandlungssichere“ Fremdsprachenkenntnisse erst dann erworben werden sollten, wenn der Zögling gelernt hat, was Verhandeln und Entscheiden eigentlich bedeuten. Derart sozialromantische Sichtweisen berücksichtigen in keinster Weise, dass viele Kinder die Zeit wieder aufzuholen haben, die bis zu ihrer Geburt bereits vergangen ist.

Die längeren Ausbildungszeiten der Eltern verzögern die Familiengründung erheblich. Während die Entscheidungsphase vor einer Generation mit 10 Jahren angegeben wird, sei heute die „Rushhour“ des Lebens auf 5 Jahre geschrumpft. Diese Entwicklung gilt allerdings nur dann, wenn das sogenannte sequenzielle Prinzip nach der Ausbildung noch die berufliche Etablierung verlangt. Väter und Mütter, die bei der Familiengründung entsprechend auf ein gefestigtes ökonomisches Fundament bauen, sehen im Nachwuchs nicht zuletzt eine Bedrohung ihres materiellen und beruflichen Status. Wenn die Voraussetzungen allerdings erst einmal als gegeben eingestuft werden, bleibt es unter diesem Verständnis meist nicht bei einem Kind. Verbindet sich Arbeit und Familie nach dem parallelen Modell, richtet sich der Kinderwunsch nicht nach wirtschaftlichen Sicherheiten. Diese Unbeschwertheit tendiert allerdings auch stark zur Ein-Kind-Familie.

Dabei weiß doch jeder, dass Einzelkinder verzogen sind. Entweder, weil man mindestens eines dieser „Gören“ kennt oder weil man selbst eines ist. Umso bedrückender erscheint die Tatsache, dass die Kinder ihre ersten Lebensjahre zunehmend nur in enger Beziehung zu Erwachsenen verbringen. Die wahrgenommenen Kompensationsmöglichkeiten sind allerdings vielfältig. So dient die Einbindung in zweckrationale Gruppen als Geschwisterersatz. Die sozialen, sportlichen, künstlerischen und fremdsprachlichen Schwerpunkte bieten dem Kind unterschiedlichste Rollenkontexte, in denen es sich lernend zu bewähren hat. Freizeit ist Lernzeit. Die entsprechend zunehmende Pädagogisierung, Institutionalisierung und Verinselung der Kindheit ist allerdings schon wieder Anlass zur Kritik. Die Rede ist dann von der „Termin-“ und „Vereinskindheit“. Durch eine derart umfängliche Betreuung verlören die Kinder jegliche Fähigkeit zur Selbstbeschäftigung und zu spontanen Aktivitäten. Wesentlich flexibler sind dann nur noch die Eltern, deren Beziehung zum Kind zu einer sogenannten „Schulbeziehung“ mutiert ist. Zuneigung ist nichts Naturgegebenes, sondern will verdient sein. Welcher Maßstab ist hierfür also geeigneter als die Schulnoten?

Wie beruhigend ist an dieser Stelle wieder einmal die statistische Wirklichkeit. Die Kinderzahl pro Familie hat sich insgesamt zwar verringert, die Mehrzahl der Kinder wächst jedoch draußenspielend mit Geschwistern auf. Der unter Umständen daraus resultierende psychische Schaden ist zumindest gesellschaftlich salonfähig.

 

Erziehung ist wirklich keine einfache Sache. Pädagogik und Psychologie geben den Eltern in unzähligen Publikationen zumindest das beruhigende Wissen an die Hand, dass Begabungen und schulische Leistungen kein naturgegebenes Schicksal sind. Dass ihre Bemühungen und ihr elterliches Verhalten den Ausschlag für die kindliche Entwicklung geben, führt bei vielen Eltern erstaunlicherweise allerdings zu einer zunehmenden Überforderung.

Nichtsdestotrotz bleibt die Intuition nach 2006 auch bei der TNS Emnid Mütter-Umfrage 2016 mit 89% die am häufigsten genannte Orientierungshilfe für die Mutterrolle. In Verbindung mit den Erziehungszielen präsentieren sich die Eltern hier bestens gerüstet, um den Nachwuchs auf die Weltgesellschaft vorzubereiten. Die wissenschaftlichen Verfechter der Wertehierarchie scheinen sich dagegen selbst im Weg zu stehen: Wenn die Werte der Selbstverwirklichung hoch eingestuft werden, müssen die der gesellschaftlichen Konformität unweigerlich niedrig eingestuft werden und umgekehrt. Alles andere spräche für eine pathologische Orientierungslosigkeit. Im Einklang mit den Erziehungsberechtigten gehen die Vertreter der Wertesynthese jedoch davon aus, dass sich beide Orientierungen nicht wechselseitig ausschließen. Es erfolge vielmehr eine situationsspezifische Abwägung, bei der einmal das eine, ein anderes mal das andere stärker gewichtet werde. Statistisch konnte bereits nachgewiesen werden, dass Menschen mit einer wertesynthetischen Orientierung wesentlich besser mit unübersichtlichen Ausgangslagen, wie sie sich in der heutigen Zeit zunehmend finden, zurechtkommen. In den letzten Jahrzehnten hat die traditionelle Erziehung zu „Gehorsam und Unterordnung“ gegenüber der Förderung von „Selbstständigkeit und Persönlichkeit“ zwar kräftig Federn gelassen. Im Ergebnis werden die Ideale des Zusammenlebens nunmehr jedoch, ganz im Sinne der Wertesynthese, als ebenso wichtig angesehen wie die der Selbstverwirklichung. Bei der Vorbereitung auf unsichere Zeiten setzen die Eltern also nicht, wie vielleicht zu erwarten gewesen wäre, primär auf Durchsetzungsvermögen, vielmehr behaupten auch Höflichkeit, Benehmen und Gewissenhaftigkeit ihren Platz. Gewichtungsunterschiede ergeben sich zum Teil durch die erwartete Berufsneigung. Sehen Eltern ihren Sprössling zukünftig eher in abhängiger Beschäftigung, spielen Umgangsformen und Respekt in der Erziehung eine etwas größere Rolle. Wird sich dieser aller Wahrscheinlichkeit nach später dagegen durch Selbständigkeit bewähren müssen, so wird er bereits früh in die Verhandlungen über die angewandte Erziehungsmethode mit einbezogen.

Ergänzend nochmals auf die Vorbilder für die Mutterrolle zurückkommend, offenbart die Innenansicht eine Überraschung. Die Möglichkeit der Mehrfachnennungen ergab auch 2016 auf Platz 2, statt vormals 66% nun mit 79%, den Erfahrungsaustausch mit anderen Müttern. Auf dem erstaunlichen 3. Platz landete bei beiden Erhebungen, von 53% auf 65% gewachsen, das Abschauen bei der eigenen Mutter. Angeblich ist doch das Generationenverhältnis nur noch als Generationenkonflikt bekannt. Bei genauer Betrachtung erweist sich dieser jedoch, wenn überhaupt, dann als außerfamiliäres, gesellschaftliches Phänomen. Mögliche Ursachen werden darin gesehen, dass beispielsweise die Alterssicherungskosten wesentlich stärker kollektiviert seien als die eher individualisierten Versorgungskosten für Kinder. Innerhalb der Familie befindet sich das Generationenverhältnis vielmehr sogar auf einem historischen Höhepunkt. Die Mehrgenerationenfamilie ist alles andere als vom Verfall bedroht. Durch die geringere Kinderzahl umfasst diese zwar weniger Mitglieder innerhalb der gleichen Generation. Durch die höhere Lebensdauer umfasst die Mehrgenerationenfamilie allerdings so viele Generationen wie noch nie zuvor. Das Zusammenleben findet allerdings meist nicht in einem gemeinsamen Haushalt statt. Deshalb wird von der multilokalen Mehrgenerationenfamilie gesprochen, deren Ortsbezug vom gleichen Haus bis hin zu anderen Kontinenten reicht. Die technisch erleichterte Überwindung von Distanzen ermöglicht es, den Kontakt zu den Kindern und Enkelkindern auch nach deren Auszug beizubehalten. In der Migrationsforschung finden sich hier beeindruckende Familiennetzwerke, die das Familienleben und die familiale Unterstützung über mehrere Länder hinweg organisieren. Allgemein findet sich eine große familiale Solidarität und Unterstützungsbereitschaft zwischen den Generationen. Dabei erfährt nicht zuletzt die Großelternrolle eine enorme Aufwertung, was besonders den Berufstätigen und Alleinerziehenden zugutekommt. Letztere leben zwar überwiegend unter der Armutsgrenze, nach Rüdiger Peuckert werden jedoch fast alle Alleinerziehenden in irgendeiner Form durch ihr soziales Umfeld unterstützt.

Staatliche Leistungen standen seit jeher im Verdacht, den familialen Zusammenhalt zu ersetzen. Im Alltag ermöglichen diese jedoch vielfach erst die vorfindbare Hilfe zwischen den Generationen.

Bleibt abschließend die alles entscheidende Frage, wer sich denn nun nicht nach wessen Familienbild richtet.

Alleine die Sorge um unseren Staat treibt diesbezüglich schon wundersame Blüten. Mal sind es die Alten, die partout nicht einsehen wollen, dass einer Rentnerschwemme nur durch ein sozialverträgliches Frühableben beizukommen ist. Ein anderes Mal sind es die Frauen, die sich weigern, ihrer gesellschaftlichen Gebärfunktion nachzukommen. Seit Jahrzehnten sind es jedoch auf jeden Fall die Migranten, die sich mit ihren Großfamilien, im Wohnzimmer verbarrikadiert, dem öffentlichen Leben entziehen und damit auf die Abschaffung unseres Landes hinwirken. Oder sind es am Ende vielleicht doch die Zahlenschieber, die nicht einsehen wollen, dass Statistik nur mit Verstand angewendet werden sollte?

Solange unsere verfassungsrechtlich verankerte freiheitliche demokratische Grundordnung besteht, wird sich jedenfalls niemand unter Androhung der Exkommunikation öffentlich für sein Familienverständnis rechtfertigen müssen. Bezüglich der familieninternen Straftaten sollte sich auch der Angestammte nicht allzu weit aus dem Fenster lehnen. Von dem merklichen Schwund des Staatsvolkes ganz zu schweigen, würde der Integrationstest zur allgemeinen Bürgerpflicht. Auch staatliche Eingriffe in die Schlafzimmer der Bürger bleiben auf die zweifelhafte Möglichkeit finanzieller Anreize beschränkt. Zu einer vorstellungskonformen Fortpflanzungshäufigkeit führen diese erfahrungsgemäß jedenfalls nicht.

Gott sei Dank - aber er hat sich ein eigenes Kapitel verdient.

Bis hierher lässt sich also nicht ausmachen, wer oder was auf den Untergang der Familie hinwirkt. Einer der deutlichsten Hinweise darauf, dass alles seinen (individuell) geordneten Gang nimmt, findet sich in der Gesamtschau der wissenschaftlichen Interpretationen. Während die eine Seite eine Pluralisierung und Vervielfältigung der familialen Lebensformen zu erkennen glaubt, wird von anderer Seite betont, dass es schon immer verschiedenste Formen gegeben habe. Fraglich bleibe lediglich, ob es diesbezüglich zu einer Dominanzverschiebung komme. Alles quatsch, es könne vielmehr von einer Strukturstarre ausgegangen werden. Die Versorgerehe sei und bleibe das dominante Familienmodell.

Während sich die wissenschaftlichen Disziplinen also mit sich selbst beschäftigen, scheinen die Familien zeitgleich ihren eigenen Weg zu finden. Selbst für Traditionalisten lässt sich festhalten, dass die überlieferten gesellschaftlichen Vorgaben nach Prüfung ihrer jeweiligen und individuellen Sinnhaftigkeit weiterhin Anwendung finden. Der Umgang innerhalb der Familien scheint dabei, entgegen der früheren Gepflogenheiten, jedoch wesentlich mehr an den beteiligten Individuen und nicht mehr an anonymisierten Rollenträgern orientiert zu sein. Mit dem Bedeutungsverlust der biologisch begründeten, obligatorischen Solidarität dürften die Familien in historischem Ausmaß von einer neuen Beziehungsqualität geprägt sein.

Das damit bestenfalls einhergehende zwischenmenschliche Verständnis ist nichts Geringeres als die Voraussetzung für das weltgesellschaftliche Miteinander. Das beeindruckendste Beispiel hierfür sind der Palästinenser Ismail Khatib und seine Frau. Deren Sohn war 2005 von israelischen Soldaten erschossen worden. Es wäre sicherlich mehr als verständlich gewesen, hätte dieses unermessliche Leid die Wahrnehmung auf den eigenen Schmerz beschränkt. Zum Vorbild für die gesamte Menschheit wurde Familie Khatib nicht nur durch die Freigabe der Organe ihres Sohnes, sondern ebenfalls durch die dabei gezeigte Grundhaltung, die Grenzen und Kulturen zu überwindenden vermag. So retteten sie - Nahost-Konflikt hin oder her - auf eigenen Wunsch auch sechs israelischen Kindern das Leben. Sie demonstrierten damit der ganzen Welt, dass es spätestens bei der elterlichen Sorge um die Kinder weder um Staats- noch um Kulturangehörigkeit gehen darf.

Der Verfall der Arbeit

Was ist aus der Arbeit nur geworden? Die Entwicklung war so ... - Was ist Arbeit im Generellen eigentlich? Die Sache scheint so lange klar zu sein, bis man beginnt, sich ein genaueres Bild zu machen.

Vielleicht kann die Philosophie hier weiterhelfen. Arbeit gehört nach philosophischem Verständnis zum menschlichen Handeln und beinhaltet ein zweckvolles Tun und Wirken. Schön und gut, aber das gilt gleichermaßen auch für den Toilettengang. Kommt daher vielleicht die Redewendung 'ein Geschäft verrichten'? Damit haben wir zwar ein Bild vor Augen, aber eher zu einem anderen Thema. Bei den Ayizo, einer bäuerlichen Gesellschaft im Süden der Republik Benin, werden selbstbezogene körperliche Handlungen, wie beispielsweise auch die Körperreinigung, jedenfalls ausdrücklich nicht zur Arbeit gezählt.

Ein Kriterium, das uns von diesem Irrweg wieder herunterbringen könnte, ist die Festlegung, dass die Tätigkeit als gesellschaftlich wertvoll anerkannt sein muss, damit man sie als Arbeit bezeichnen darf. Damit fällt schon mal einiges weg. Gesellschaftlich wertvoll! Die philosophischen Disziplinen schreiben sich allerdings schon seit der Entstehung des Privaten die Finger wund, um der bisher fälschlicherweise so bezeichneten Haus-„Arbeit“ diese gesellschaftliche Adelung zukommen zu lassen. Bleibt diese unermüdliche „Arbeit“ der Philosophen vielleicht deshalb unfruchtbar, weil sich vielen Menschen auch der gesellschaftliche Wert der Philosophie selbst nicht so recht erschließt?

Vielleicht lässt sich der gemeinnützige Beitrag über das Einkommen bestimmen? Die Sicherung des Lebensunterhalts findet sich ohnehin in mehreren Definitionsversuchen. Damit kann die Hausfrau endgültig zu Hause bleiben. Der Philosophie-Professor ist eindeutig und zweifelsfrei gesellschaftlich wertvoll. Und dies mindestens in gleicher Weise wie - der Zuhälter?

Hausfrauen, Professoren, Zuhälter! Kein Wunder, dass man hier nicht so recht weiterkommt. Arbeit muss anstrengend und mühevoll sein. Dieser Aspekt findet sich über mehrere Jahrhunderte in unterschiedlichen Kulturkreisen. Als Gegenstücke dienen entsprechend das Spiel oder allgemeiner die Muße. Wer hat nicht das klare Bild der schwer arbeitenden Menschen vor Augen - der Bauarbeiter, der sich völlig erschöpft von der Verrichtung der kräftezehrenden Arbeit, die Zigarette mehr hängend als fest im Mundwinkel, der gnadenlos sengenden Hitze der Sonne trotzend, mit letzter Kraft auf seine Schaufel stützt. Das ist Arbeit!

Zu Missverständnissen scheint es zu kommen, seit die akademischen Aufklärer, hinterher weder entkräftet noch erschöpft, die Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung ins Spiel brachten. Nebenbei bemerkt würden die Ayizo, im Unterschied zu manch bäuerlichem Arbeitsverständnis im Hochschwarzwald, nie an der notwendigen Anstrengung hinter dieser intellektuellen Leistung zweifeln. Jedenfalls verschwanden ab dem 18. Jahrhundert zunehmend nicht nur der Selbstzweck der Arbeit, sondern auch die aufopfernd zu erarbeitenden Früchte des Jenseits aus dem Blickfeld. Sehen wir hier vorgreifend bereits die allgemeinen Wurzeln des Untergangs der Religion und damit der Gesellschaft? Der Islam - sofern nicht verachtet - belehrt uns hier eines Besseren. Dessen Gesetze klassifizieren die selbstkasteiende Zerstörung der von Gott geschenkten Arbeitskraft seit jeher als lästerlich und nicht als Fahrschein ins Paradies.

SELBSTbestimmung und SELBSTverwirklichung durch Arbeit - wer kann unter diesem Vorzeichen noch an andere denken? Wen erdrückt es nicht, den Titel „Krone der Schöpfung“ durch individuelle Leistung überbieten zu müssen? Ganz zu schweigen von den Anstrengungen, die eine tatsächliche Ergründung und Auseinandersetzung mit sich selbst und seinem Umfeld erfordern würden.

 

Der Mensch wäre nicht Mensch (Europäer), hätte er hierfür nicht eine effizientere Methode gefunden. Wer sagt denn, dass die eigene Leistung gesteigert werden muss? Die Herabwürdigung der Leistung anderer führt zum gleichen Effekt. Diese glänzende Idee war anfangs relativ einfach umzusetzen. Auf den Besichtigungstouren durch die Welt fanden sich mit freundlicher Unterstützung etwa der Völker Indonesiens, Malaysias oder der Philippinen hinreichend viele Beispiele. Deren Faulheit war aber auch zu offensichtlich.

Es brauchte nicht lange, bis diese rühmliche Erfahrung und die einhergehende Selbstbeweihräucherung zu der Erkenntnis verdichtet wurde: Wer arbeitet, ist Mensch. Die ganze Gesellschaft wurde fortan mehr und mehr zu einer Arbeitsgesellschaft. Um jedoch dem begrifflichen Missbrauch rechtlich vorzubeugen, immerhin war es den Frauen in der Vergangenheit mancherorts gelungen, sogar das Gebären als Arbeit gewürdigt zu bekommen, muss eine Tätigkeit hierfür nun als Beruf anerkannt sein. Einhergehend gibt dieser auch jedem seinen gesellschaftlichen Platz. Berufsbürgerliche Schichten konnten im 19. Jahrhundert dann sogar zur Oberschicht aufsteigen. Besitz und Anerkennung war von nun an Resultat eigenen beruflichen Fleißes und eigener beruflicher Leistung. Selbst die Unübersichtlichkeiten des Lebens lassen sich mit dieser Errungenschaft ordnen. Der Beruf gibt nach außen Sicherheit, weil jetzt jeder genau weiß, mit wem er es zu tun hat. Er gibt aber auch nach innen Halt, weil jetzt jeder genau weiß, wer bzw. was er ist. Selbst der Lebensverlauf in der beruflich strukturierten Gesellschaft wird genau in drei Phasen eingeteilt. Die erste Phase beinhaltet die Ausbildung. Hier werden die notwendigen spezifischen Qualifikationen erworben, um in der arbeitsteiligen Gesellschaft seinen Beitrag leisten zu können. In der zweiten Phase steht dann die Ausübung des erlernten Berufes im Mittelpunkt. Wenn die Anstrengungen der Lernphase erst einmal die für den Beruf notwendige Spezialisierung und Professionalisierung hervorgebracht haben, sollen diese wenigstens durch Dauerhaftigkeit belohnt werden. Vor allem im deutschen Raum verbindet sich mit dem Beruf eine Liebe fürs Leben. Frauen haben hierfür ihre Ehemänner. Sie können sich ganztägig erkenntlich zeigen, sobald der Gatte in der dritten Phase die wohlverdienten Früchte seiner Arbeit genießt.

Erst mit dieser rechtlichen Regulierung der Arbeit gegen Ende des 19. Jahrhunderts und den entsprechenden Lebensphasen entstanden auch die nunmehr eindeutigen Kategorien von Armen und Alten. Die bereits damals wachsenden Migrations- und Handelsströme hätten durchaus eine staatenübergreifende Arbeitsordnung nahegelegt. Die Maßnahme sollte jedoch in erster Linie nationalen Zwecken dienen. Als der Sozialstaat aus der Taufe gehoben wurde, stand die Versorgung der Bedürftigen nicht an oberster Stelle. Entsprechend sah die damalige Weitsicht beispielsweise Renteneintrittsgrenzen vor, die das heutige Finanzierungsproblem gar nicht erst hätten aufkommen lassen. Um die Rente erreichen zu können, musste man schon eine gewisse Zähigkeit an den Tag legen. Johannes Heesters (1903 bis 2011) hätte mit seinem Arbeitseifer allmählich allerdings selbst den Sozialreformer Otto Fürst von Bismarck (1815 bis 1898) ins Schwitzen gebracht. Auch die heutige Diskussion, ob Empfänger von Sozialleistungen zur Bürgerarbeit gezwungen werden sollten, war damals keine Frage. Den Armen und Alten kam im Staatsdienst die besondere Aufgabe zu, die nationalgesellschaftliche Solidarität und Einheit zu etablieren und zu festigen. Die heute vielfach beschworenen Gemeinsamkeiten wurde damals also schlicht durch einen juristischen Winkelzug herbeidefiniert. Was nicht passte, wurde, nach alter handwerklicher Tradition, passend gemacht. Ab- und Ausgrenzung erwiesen sich schließlich seit jeher als probates Mittel zur Herstellung und Festigung von Zusammengehörigkeit.

Die Gegenwehr der gedemütigten Naturvölker war in den verherrlichten Ländern kaum zu spüren. Der Versuch, Ruhm und Glanz auf Kosten der anderen Nationalstaaten herausstellen zu wollen, endete jedoch auch für die begeisterten eigenen Bürger in einer Katastrophe. Nach der zivilisatorischen Glanzleistung eines zweiten Weltkrieges entwickelten sich allmählich krisenfestere Strukturen, die die jeweilige Brillanz gleich mehrerer Staaten fruchtbar zusammenzubringen vermögen. Mit der sozialen Marktwirtschaft kamen allgemein bessere Zeiten. Jetzt wurde es einer breiteren Schicht tatsächlich zunehmend möglich, sich durch Arbeit sogar einen bescheidenen materiellen Wohlstand zu erwirtschaften.

Der Europäer der Erbengeneration sah, dass die harte Arbeit und die diesbezüglichen Leistungen der Elterngeneration gut waren und er begann, nach Beobachtungen des Ökonomen Meinhard Miegel, zu ruhen. Er würde wahrscheinlich noch immer ruhen, wäre da nicht die Globalisierung über die Menschheit hereingebrochen. So manch einem kommt sogar schon der Gedanke, dass der freundliche asiatische Gesichtsausdruck einen eindeutigen Ursprung hat: Kommen die Chinesen etwa, um jetzt die europäische Faulheit zu belächeln? Die Asiaten gelten im Allgemeinen als sehr fleißig. Aber auch den US-Amerikanern ist es schon seit Längerem ein Rätsel, wie sich die Europäer mit ihren wenigen Arbeitstagen pro Jahr am Markt halten können. Definieren jetzt plötzlich also die Chinesen, wer Mensch ist? An deren Menschenrechtsverständnis würde man sich nur schwer gewöhnen können. Allerdings blieb bisher auch das teilweise eigenwillige Menschenrechtsverständnis der Amerikaner bei uns ohne durchschlagenden Effekt.

Die teilweise hektischen und aufgeschreckten Reaktionen deuten jedenfalls auf das Erwachen nach einem tiefen Schlaf hin. Die einhergegangenen Träume sind hinreichend dokumentiert. Sie handeln von der immerwährenden Unübertrefflichkeit der frühindustrialisierten Staaten. Am Strand des Wohlstands liegend, sonnt man sich in der eigenen Fortschrittlichkeit. Da erscheint der Vorwurf, der Westen habe aus überheblicher Nichtbeachtung die Entwicklung in den sogenannten aufsteigenden Staaten schlicht verschlafen, zunächst durchaus naheliegend.

Der westliche Konsument zeigte sich von der rückständigen Unfähigkeit der Asiaten allerdings weit weniger überzeugt. Schlechte Fälschung oder erfindungsreiche Technik, die günstigen Produkte waren und sind jedenfalls die Grundlage seines immensen materiellen Wohlstands.

Bei genauerer Betrachtung scheint sich die Zweiteilung in idealisierte Träumerei und alltägliche Praxis durch die ganze Menschheitsgeschichte zu ziehen. Selbst das antike Bild vom freien Griechen, der Frau und Sklaven für sich arbeiten lässt, um sich den staatstragenden Dingen zu widmen, ist angeblich lückenhaft. So bedauerlich es klingen mag, zur vollständigen Wurzel unserer demokratischen Zivilisation gehörte sehr wahrscheinlich der Umstand, dass meist auch der ehrenwerte Bürger selbst für den Lebensunterhalt arbeiten musste. Die geschönten Darstellungen seien jedoch keinesfalls durch die Verachtung dieser Tätigkeiten begründet, selbigen soll lediglich keine nennenswerte Bedeutung beigemessen worden sein.