Nucleus

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Dieter Kassing

NUCLEUS

Dieter Kassing, Jahrgang 1941, Journalist und Schriftsteller, arbeitete über viele Jahre im politischen Ressort von Tageszeitungen, im Bundesbildungsministerium in Bonn und danach als freier Korrespondent für verschiedene Rundfunkanstalten.

Fast 25 Jahre lang leitete er im Anschluss den von ihm gegründeten Bonner Verlag »Energie und Umwelt«. Der Verlag gab bundesweit erscheinende energiepolitische Magazine und Fachbücher heraus und veranstaltete nach der Wiedervereinigung Energie- und Umweltmessen in Leipzig. Dieter Kassing lebt mit seiner Familie in der Nähe von Bonn.

Dieter Kassing

Impressum

Die Deutsche Bibliothek- CIP Einheitsaufnahme

Dieter Kassing:

Nucleus

1. erweiterte Auflage

© 2013 by Umwelt-& Energiereport Verlag, Sankt Augustin

ISBN: 978-3-8442-7833-0

Umwelt- & Energiereport-Verlag

Sankt Augustin, Eichhörnchenweg 3

Telefon: +49-2241-8460106

Fax: +49-2241-8460648

E-Mail: nc-kassinel@netcologne.de

www.dieter-kassing.de

Lektorat und Satz: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, Bonn

Titelbild: Alexander Kassing, Düsseldorf

vertr. durch Galerie Luis Campana, Berlin

Das gesamte Werk ist im Rahmen des Urheberrechtes geschützt.

Jegliche vom Verlag nicht genehmigte Verwertung ist unzulässig. Dies gilt insbesondere für die Verbreitung durch Film, Funk, Fernsehen und elektronische Medien sowie den auszugsweisen Nachdruck und die Übersetzung.

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Realität oder Fiktion?

Die wichtigsten Personen (fiktiver Teil)

Prolog

Staatsanwälte und Gerichte mauern

Anhang

Personenregister

Quellenverweise

Realität oder Fiktion?

Dieser Roman ist beides zugleich. Der Tatsachenteil ist typografisch, also in anderem Schriftbild, ausgewiesen. Die Dokumente und Quellen dazu finden Sie im Anhang- und Dokumententeil hinten. -

1987 kommt im Untersuchungsgefängnis Hanau ein führender Manager einer westdeutschen Atomenergie-Firma auf spektakuläre, überaus mysteriöse Weise ums Leben. Ein anderer wurde zuvor nachts von einem Zug in Hannover- Linden überfahren, tot auf den Gleisen gefunden. Beides ist Realität.

Im Roman ist das der Anlass für ein Team investigativ arbeitender Bonner Journalisten eines kleinen, unabhängigen Energie-Magazins, sich der Fälle anzunehmen. Je hartnäckiger und tiefschürfender ihre Recherchen sind, umso gefährlicher wird ihre Arbeit.

Bei der Atomwirtschaft geht es damals wie heute um Milliarden-Geschäfte. Die Unternehmen verhalten sich wie im Krieg. Der Boss eines Atomkonzerns herrscht wie ein Feldherr, seine Manager sollen Befehle befolgen wie Soldaten. Sie haben nicht zu fragen, sie sollen gehorchen. Ihre Waffen sind Schwarze Kassen im In- und Ausland, Scheinkonten, Schmiergelder.

Die Schlachtfelder sind Nobelherbergen und Edelrestaurants, Büros und Bordelle. Es geht um Aufträge mit horrenden Summen.

(Quelle u. a. Bericht des 2. Untersuchungsausschusses der 11. Wahlperiode des Deutschen Bundestages, Transnuklear/Atomskandal 25/90 Band 1 und 2) Ein Insider, der aussteigen will, begibt sich in Lebensgefahr.

Ein Politiker, der reden will, stirbt auf mysteriöse Weise in einer Badewanne.

Der hier beschriebene, akribisch recherchierte Fall ist der größte deutsche Atomskandal, der zum tief greifendsten Einschnitt in der Geschichte der deutschen Atomwirtschaft führte.

Dieser Tatsachenroman schildert das, was wirklich passiert ist und bis heute nicht bekannt wurde. Er nennt die Namen aus Politik und Wirtschaft, die damit verbunden sind, von 1987 bis heute. (Siehe auch Personenregister hinten! Die Namen der umgekommenen Manager wurden aus Rücksicht auf die Angehörigen im vorderen Teil geändert. Im Anhang werden sie kurz genannt.)

Der Tatsachenroman belegt, was damals alles dafür getan wurde, die heutige Angst vor einem möglichen nuklearen terroristischen Attentat sehr plausibel erscheinen zu lassen.

Akten verschiedener deutscher Landeskriminalämter, von Staatsanwälten, der DDR-Stasi und des BND untermauern dies. (Im umfangreichen Anhangsteil finden Sie die Dokumente und Quellenverweise, die die fiktive Story vorn und den im Schriftbild anders ausgewiesenen Tatsachenteil stützen. Die Quellenverweise vorne mussten aus technischen Gründen knapp gehalten werden.)

Ein äußerst spannender Stoff. Dokumente parlamentarischer Untersuchungsausschüsse aus Bonn, Brüssel und Wiesbaden sprechen darüber hinaus eine eigene, deutliche Sprache. (Siehe Anhang)

Noch mal: Die Recherchen spiegeln die Wirklichkeit, geben die Fakten wieder. Sie erscheinen in deutlich abgesetzter Schriftform. - Dieser Tatsachen-Roman, auch die Abläufe im sogenannten fiktiven Teil sind akribisch recherchiert worden. Das Buch ist übrigens im Mai 2012 bereits in gedruckter Form erschienen.

In der jetzigen, digitalen Form ist es stark erweitert. Im Anhangsteil habe ich meine Rechercheergebnisse seit Erscheinen des gedruckten Buches im Mai 2012 wiedergegeben. Habe beschrieben wie Staatsanwälte und Richter mauern. Der größte deutsche Atomskandal birgt noch immer größte politische Sprengkraft.

Sankt Augustin, im Dezember 2013

Dieter Kassing

Die wichtigsten Personen (fiktiver Teil)

Kurt Wedelmeyer, Gefängnisaufseher

Heins Genske, Untersuchungshäftling

Daniel Deckstein, Chefredakteur Energy- Report

Rainer Mangold, Redakteur des Energy-Report, Spitzname Schnüffel

Gerd Overdieck, Redakteur beim Enertgy-Report, der Spitzenschreiber des Blattes, mit dem Spitznahmen Grizzly wegen seiner Statur

Sabine Blascheck, stellvertr. Chefredakteurin, schweißt die Redaktion zusammen und ist nahe an Deckstein dran

Werner Brandstetter, Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt

Walter Mombauer, Chef des Kanzleramtes

Walter Meyer, Chef des BKA

Richard Grossmann, Chef des BND

Volkmar Wildhagen, Generalinspekteur der Bundeswehr

Bernd Conradi, Abteilungsleiter Krisenmanagement im Bundesinnenministerium und Freund von Daniel Deckstein

Bernd Wimmer, General, Leiter des NATO-Gefechtsstandes Uedem und Herr über das Geschehen am deutschen Himmel

Victor, russischer General, bekleidet bedeutende Position im Moskauer Verteidigungsministerium

Gennadij, sein Freund, macht für Victor die Schmutzarbeiten

Lensbach, Bundesinnenminister

Jürgen Steiner, deutscher Botschafter in Saudi Arabien

Prolog
Hanau, 15. Dezember 1987

Kurt Wedelmeyer stand an einem der vergitterten Fenster des Untersuchungsgefängnisses und betrachtete wohlwollend die dichten Schneeflocken, die aus den grauen, tief hängenden Wolken fielen. Der Aufseher freute sich darauf, mit seinen Kindern am Wochenende im Hanauer Wald Schlitten zu fahren.

Plötzlich, so als hätte er von irgendwo her einen lautlosen Befehl erhalten, wandte er sich mit einem Ruck um. Er senkte das Kinn auf die Brust und schloss die Augen. So verharrte er einen Augenblick. Um innerlich ganz ruhig zu werden, hielt er kurz den Atem an. Für die nächsten Schritte brauchte er seine volle Konzentration. Er durfte nicht den geringsten Laut erzeugen. Der Häftling, den er sich durch den Spion in der Zellentür ansehen würde, sollte auf keinen Fall merken, dass er kontrolliert wurde. Alle fünfundzwanzig Minuten sahen er oder einer der Kollegen nach dem Mann.

Wie eine Marionette stakste Wedelmeyer mit großen vorsichtigen Schritten zu der graugrünen Zellentür hinüber, hinter der er hauste, der Spitzenmanager von einer der Atomfirmen im Hanauer Atomdorf am Rande der Bulau. So weit sich Wedelmeyer erinnerte, war er der erste Manager einer Atomfirma, den sie jemals eingebuchtet hatten. Eingeliefert worden war er unter dem Namen Genske – sein wirklicher Name sollte aus vielerlei Gründen nicht bekannt werden. Genskes Unternehmen transportierte den atomaren Brennstoff für Deutschlands Atomkraftwerke. Daraus wurden auch Atombomben produziert.

Wedelmeyer heftete sein rechtes Auge an das Guckloch in der Zellentür. Geblendet von dem grellen, kalten Licht der Deckenstrahler kniff er es zusammen, riss es Sekundenbruchteile später wieder auf und erstarrte. Nur langsam setzte sein Gehirn immer mehr Teile des Datenstroms, den ihm sein Auge mit hoher Geschwindigkeit lieferte, zu einem unvollständigen Bild zusammen. Er lauschte angestrengt, um akustische Signale aufzunehmen. Vergeblich. Kein Ton drang an sein Ohr. Schließlich nahm sein Gehirn das grausige Stillleben wahr, das sich ihm bot.

 

Der Untersuchungshäftling Genske saß bewegungslos auf dem einzigen Holzstuhl in der Zelle. Der Teller mit dem Mittagessen stand unberührt vor ihm auf dem Tisch. Genskes Hinterkopf lehnte an der weiß getünchten Zellenwand. Seine weit aufgerissenen Augen starrten Wedelmeyer an. Der Mund stand offen – es sah aus, als schnappe der Atommanager nach Luft. Sein Oberkörper lag grotesk verdreht halb auf dem Tisch. Der linke Arm hing schlaff herunter. Der Ärmel des dunkelblauen Hemdes war weit hochgeschoben, sodass der blutverschmierte Unterarm zu sehen war, der einer großen, der Länge nach aufgeschlitzten Wurst, ähnelte. Aus der Wunde, deren Ränder auseinanderklafften, tropfte inzwischen kaum noch Blut auf das linke Bein der grauen Anzughose, auf der sich ein großer, nasser, dunkelroter Fleck gebildet hatte.

Instinktiv drückte Wedelmeyer auf den roten Knopf seines Alarmgebers an seinem Gürtel und griff mit zitternden Händen nach dem Schlüsselring, um den Schlüssel für die Zelle abzulösen. Dann fiel ihm ein, dass er ihn eben ja schon in der Hand gehabt hatte. Hatte er ihn vor Schreck fallen lassen? Er sah auf den Boden. Richtig, da lag er.

Er hob den Schlüssel auf, steckte ihn ins Schloss und drehte ihn mit einer hastigen Bewegung herum. Er ließ ihn im Schloss stecken und öffnete die Tür nur einen Spaltbreit und blieb im Türrahmen stehen. Falls etwas Unvorhergesehenes geschah, konnte er die Tür rasch wieder zuschlagen und den Schlüssel umdrehen.

So, wie Genske ihn ansah, musste der seinen letzten Blick auf dieser Welt zum Ausgang gerichtet haben. Was hatte er da gesehen? Hatte er noch in den letzten Sekunden seines Lebens nach einem Ausweg gesucht? Auf Hilfe gehofft? Oder war jemand hier in der Zelle gewesen? Was war vorher passiert? Wedelmeyer musste sich zusammenreißen, um nicht laut loszuschreien. Plötzlich kam ihm ein seltsamer Gedanke. Konnte es sein, dass Genske seinen Tod nur vortäuschte? Und wo, verdammt, blieben die Kollegen? Wedelmeyer hörte kein Fußgetrappel. Ihm fehlten ihre beruhigenden Rufe: »Kurt, bleib ruhig, wir sind schon da ...«

Da er dem Alarmgeber nicht so recht traute, hatte er seine alte Trillerpfeife immer noch in der Hosentasche bei sich und beschloss nun, zur Sicherheit noch mal Signal zu geben. Er warf einen kurzen Blick auf die Uhr – zehn vor eins. Er zog die Trillerpfeife heraus, steckte sie in den Mund und pfiff die geübten Alarmsignale. Die schrillen Töne hallten in den Gefängnisfluren wider. Aus den benachbarten Zellen schollen ihm die Protestrufe der anderen Häftlinge entgegen. Einige hämmerten mit ihren Kochgeschirren gegen die Zellentüren.

»Ich will raus ... eurem verdammten Puff!«

»Ruhe verdammt ... mal ...«

»Ihr Mörder ... umgebracht!«

»Du Wichser ... mich aufgeweckt!«

»... bin ich hier auf 'nem Kasernenhof oder was?«

Die Schreie und das Hämmern erreichten Wedelmeyer, als wären es Laute aus einer anderen Welt. In der Nähe hörte er einen der Häftlinge »Stille Nacht, Heilige Nacht« singen. Weihnachten. Gott ja, bis Weihnachten waren es ja nur noch wenige Tage!

Wedelmeyer schloss für einen kurzen Moment die Augen und dachte nach. Wenn die Kontrollen richtig eingehalten worden waren, musste der Atommanager vor einer halben Stunde noch gelebt haben. Und nun war er von jetzt auf gleich tot. Unfassbar. Im Unterbewusstsein vernahm Wedelmeyer schnelle Laufschritte auf dem Gefängnisflur. Seine Kollegen waren im Anmarsch.

Wie hatte das mit dem Genske überhaupt passieren können? Hatte der das selbst gemacht? Womit überhaupt? Der Aufseher öffnete die Augen und warf einen raschen Blick in die gut überschaubare Zelle. Er entdeckte nichts. Da lag kein Messer, auch keine Rasierklinge. Ein jäher Gedanke schoss ihm durch den Kopf: War es überhaupt Selbstmord?

Wieder warf er einen Blick auf den blutüberströmten Arm des Atommanagers. Für diesen Tag hatte sich Genskes Freundin angekündigt, wie Wedelmeyer in den Unterlagen gelesen hatte. Genske hatte sie gebeten, ihm neue Wäsche mitzubringen. Wer bittet denn um frische Wäsche und bringt sich gleich anschließend um?, dachte Wedelmeyer. Außerdem hatte die Hauptverhandlung unmittelbar bevorgestanden. Ihn überkam ein Verdacht.

»Genske«, sagte er laut mit erhobenem Zeigefinger, »du musstest sterben, weil du zu viel gewusst hast. Du solltest deine Geheimnisse mit ins Grab nehmen. Irgendwer hatte Angst, dass du vor Gericht eine Bombe auspacken könntest!«

***

»Wissen Sie schon, dass sich der Justizminister wegen dieser Sache eingeschaltet hat?«, fragte Oberstaatsanwalt Ulrich Winter empört und wedelte mit der Hand in Richtung von Genskes Zelle. Gemeinsam mit dem stellvertretenden LKA-Chef Volker Grund hatte er sich dort ein erstes Bild gemacht.

»Mensch, Kollege, was haben Sie denn erwartet?« Grund zuckte die Schultern. »Bei dem dicken Fall stehen die da oben doch alle unter höchstem Druck. Da bewegen wir uns auf ganz dünnem Eis. Wir beide«, sagte er und zeigte erst auf den Staatsanwalt und dann auf sich selbst, »und die da oben auch.«

Er streckte den Daumen in die Luft. Er schaute den Flur hinauf und hinunter und trat noch einen Schritt näher an den Oberstaatsanwalt heran, dessen rot angelaufener Kopf wie ein Granatapfel aus dem blütenweißen Hemdenkragen ragte.

»Ein Tritt in die falsche Richtung, und das Eis bricht ein!«, sagte er leise. »Ich bin sicher, dass die Sache hier von internationaler Bedeutung ist und der Minister ziemlich Druck von der Regierung bekommen hat. Vergessen Sie nicht, bei dem Mann da in der Zelle«, fuhr Grund fort und zeigte hinter sich, »bei dem Genske und auch ein paar anderen, besteht der Verdacht, dass sie den Stoff für die Bombe ins Ausland verschoben haben. Und falls wir bei unseren Ermittlungen feststellen, dass die Regierung da ruhig zugesehen hat oder sogar involviert war, kommt auf Deutschland einiges zu – Atomwaffensperrvertrag gebrochen und so weiter!« Grund schüttelte so heftig den Kopf, dass sein zwar längeres, aber schütteres Haar in Bewegung geriet.

»Mensch, Winter, das gäbe einen Riesenskandal!«

»Aber stellen Sie sich das bloß mal vor!«, schimpfte Oberstaatsanwalt Winter weiter. »Alles, was wir ermittelt haben, sollen wir sofort dem Minister oder seinem machtgeilen Staatssekretär auf den Tisch packen!«

Der Oberstaatsanwalt legte viel Wert auf Contenance, was er durch eine elegante äußere Erscheinung zu unterstreichen suchte. Sein eleganter dunkler Nadelstreifenanzug war maßgeschneidert. Es war selten, dass Winter – wie jetzt – außer Fassung geriet. Über seinem linken Arm lag ein leichter sandfarbener Mantel, von dem er nervös immer wieder nicht vorhandene Staubkörnchen abklopfte.

»Sie wissen ja, wen ich meine«, sagte er und stellte mit einer hektischen Bewegung seine Aktentasche auf dem Boden ab. »Und was heißt das? Wir müssen uns jetzt vor jedem Ermittlungsschritt vorher vom Minister die Genehmigung einholen! Außerdem haben er und der Staatssekretär in der letzten Sitzung darauf hingewiesen, dass nichts von unseren Ermittlungsergebnissen an die Presse durchsickern darf.«

»Aber das ist doch klar, Kollege Winter«, sagte Grund, »bei der Situation! Der Fall ist so bedeutend, da haben die doch die Hosen gestrichen voll. Und deswegen …« Er zögerte einen Moment. »Ich will Ihnen ja keine Angst einjagen. Ich sag's deshalb mal mit Chruschtschows bekanntermaßen zarten Worten. Sie kennen ja mein Faible für die klare Sprache dieses sowjetischen Schlitzohrs aus dem Bauernstand.« Grund setzte sein berüchtigtes, süffisantes Lächeln auf. »Wenn die Westmächte dem zu aufmüpfig wurden, drohte er immer damit, er werde die in Berlin ›an den Eiern packen‹.«

Die Augen des Oberstaatsanwalts wurden größer, sein Gesicht blasser. Mit starrem Blick und abweisender Miene musterte er den LKA-Mann, der in seiner ausgeleierten sandfarbenen Cordhose und dem abgetragenen Fischgrätsakko vor ihm stand.

»Begreifen Sie denn nicht?«, fragte Grund unbeeindruckt. »Die da«, er zeigte wieder mit dem Daumen nach oben, »die wollen am liebsten alles unter der Decke halten. Möglichst schnell die Leiche begraben. Weg damit und weiter, wie gehabt. Und das in diesem Fall möglichst schneller als schnell. Kollege Winter, wir beide kennen das doch zur Genüge. Aber diese Sache ist ja nun wirklich heikel ...«

»Das ist mir inzwischen auch klar«, sagte der Oberstaatsanwalt, der sich wieder gefasst zu haben schien. Sein Gesicht war nur noch leicht gerötet. »Aber wo kommen wir denn da hin!«

Grund trat einen Schritt zurück. »Herr Winter, Sie müssen sich vorstellen, dass unsere Atominteressen, also die Machtinteressen unseres Landes, berührt sind.«

Der Oberstaatsanwalt zuckte zusammen. »Nicht so laut, Herr Grund!«

Mit dem Zeigefinger vor dem Mund ließ er ein scharfes »Pst« hören.

»Das müssen doch nicht gleich alle mitbekommen«, flüsterte er und sah sich nach allen Seiten um.

Volker Grund sprach nun zwar ein bisschen leiser, aber in den angrenzenden Zimmern war seine Antwort immer noch zu verstehen.

»Schon bei dem Bisschen, was ich von dem Fall weiß, bin ich mir sicher, dass uns die Amis, Franzosen und Briten, wenn sie alles erfahren, wirklich alles, was hier gelaufen ist, an den Arsch packen. Und nun stellen Sie sich erstmal vor, wir bohren richtig tief und werden fündig!«

Er schüttelte den Kopf.

»Das war's dann, das schwör ich Ihnen. Dann können wir den ganzen Atomladen hier in Deutschland dichtmachen! Und nicht nur das. Wissen Sie was das für uns im Zweifel bedeutet, Kollege? Mit unseren Ermittlungsergebnissen hätten wir beide unser Land ans Messer geliefert. So sieht's aus!« Er machte eine Pause und fuhr mit einem schiefen Grinsen fort: »Glauben Sie wirklich, dass Sie dafür einen Orden kriegen? Oder befördert werden?«

Grund fasste den Staatsanwalt an der Schulter und sah ihm in die Augen.

»Ich denke, es wäre das Beste, wenn wir den Ball ganz flach halten. Ich werde jedenfalls meinen Jungs sagen: Grabt um Himmelswillen nicht zu tief! Das rate ich Ihnen und Ihren Leuten auch. Der Genske ist tot. War ein grausiger Tod, zugegeben. Aber wenn wir nun herausfinden, dass der sich gar nicht selbst umgebracht hat, sondern wegen irgendwelcher Machenschaften von irgendwem umgebracht worden ist, ändert das auch nichts mehr. Außerdem wurde mir zu verstehen gegeben, dass es ja auch für jeden da draußen verständlich wäre, wenn der Genske sich selbst …«, sagte Grund und machte eine Bewegung, als wollte er sich den Arm aufschlitzen. »Sie wissen schon, was ich meine. Bei den schweren Vorwürfen wär das ja wirklich kein Wunder.«

DIENSTAG

1
Bonn, Redaktion des Energy Report

Daniel Deckstein, Chefredakteur des Magazins Energy Report, nickte und legte den Entwurf für die neue Titelstory beiseite.

»Hervorragend geschrieben!«, sagte er und warf seinen beiden Kollegen Gerd Overdieck und Rainer Mangold, die ihm in seinem Bonner Büro gegenübersaßen, einen anerkennenden Blick zu. »Hm … einfach Zucker! Ich hätte ewig weiterlesen können.« Er machte eine nachdenkliche Pause, schüttelte den Kopf und fuhr mit Bedauern in der Stimme fort: »Ich wünschte, wir könnten das so stehen lassen. Das mit dem Staatsanwalt und dem LKA-Mann kann so bleiben, aber an der Beschreibung von Genskes Tod müssen wir grundsätzlich noch was ändern. Es sieht inzwischen so aus, als wäre der ganz anders zu Tode gekommen, als Sie es beschrieben haben. Ich bin froh, dass wir morgen diesen Gefängnisaufseher vor die Flinte kriegen. Am Nachmittag, oder, Gerd?«

»Aber nur Sie und der Alex. Der macht doch die Fotos.«

»Ach ja, Sudhoff fährt auch mit. Ich weiß nicht, warum, aber ich hab das Gefühl, dass wir morgen, wenn wir das Interview mit dem Wedelmeyer im Kasten haben, der Wahrheit ein gewaltiges Stück näher …«

»Da bin ich mir nicht mehr so sicher«, unterbrach ihn Overdieck. »Wenn man selbst der Aussage eines Oberstaatsanwalts nicht mehr trauen kann ...«

»Wir werden den Wedelmeyer mächtig löchern«, sagte Deckstein. »Wir quetschen dem alles aus den Rippen, was er über Genskes Tod weiß.«

»Wenn der Genske so zu Tode gekommen ist, wie wir bei unseren Recherchen von anderer Seite gehört haben, müssen wir aber auch noch woanders nachfassen«, sagte Overdieck, »und zwar ganz oben. Dann stellt sich auch erst recht die Frage, ob er das wirklich selbst gemacht hat. Egal, ob er so«, er machte mit der Rechten eine Bewegung, als wollte er sich den Arm aufschlitzen, »umgekommen ist, oder so.« Er deutete eine Bewegung an, als würde er sich eine Schlinge um den Hals legen.

 

»Das heißt, wenn er sich nicht selbst umgebracht hat, dann muss es Gründe dafür geben, warum er ermordet wurde«, erklärte Mangold und sah Deckstein an. »Um das rauszufinden, haben wir beschlossen, noch tiefer einzusteigen und die ganze Vorgeschichte aufzurollen. Also alles auf den Tisch zu packen, was die da an Dunkelgeschäften abgewickelt haben.«

»Ist uns ja auch bis jetzt ganz gut gelungen«, sagte Overdieck und lächelte Mangold zu. Er schätzte die journalistischen Qualitäten seines Kollegen und Freundes, der mehr als zehn Jahre bei internationalen Nachrichtenagenturen in London und Paris gearbeitet hatte. Overdieck wusste, dass Mangold sich dort mit großen Geschichten einen Namen gemacht hatte. Inzwischen eilte diesem der legendäre Ruf voraus, er habe die unglaubliche Begabung, Skandale förmlich zu wittern. Noch bevor überhaupt nur irgendjemand den Hauch eines unangenehmen Geruchs an irgendeiner Geschichte wahrgenommen habe, hieß es, stecke Mangold mit seiner empfindlichen Nase schon tief drin.

»Alles, was wir bisher recherchiert haben, deutet darauf hin«, fuhr Overdieck fort, »dass Genske sein Ableben nicht allein herbeigeführt hat. Vermutlich haben ihm bestellte Killer Hilfestellung geleistet.« Er sah Deckstein an. »Ich geb Ihnen einen Tipp: Wenn Sie morgen bei dem Wärter auf den Busch klopfen, fassen Sie ihn bloß nicht zu hart an. Solche Leute sind nach meiner Erfahrung häufig empfindsamere Naturen, als man denkt. Ich empfehle Ihnen, bei dem mit viel Fingerspitzengefühl vorzugehen. Erstmal abchecken, abtasten. Vielleicht steht er immer noch unter Druck. Und womöglich darf er auch gar nicht kundtun, wie es wirklich war.«

»Oh, Gerd, bei Fingerspitzengefühl und Abtasten wärst ja eigentlich du mit deinen zierlichen Pfötchen gefragt«, sagte Mangold grinsend und warf einen bedeutsamen Blick auf Overdiecks Hände, die er gern mit Schaufeln oder Bärentatzen verglich. »Aber dass der Mann eventuell auch heute noch unter Druck steht, halte ich auch für möglich.«

Deckstein hatte das Geplänkel schmunzelnd beobachtet. Trotz aller Frotzeleien verstanden sich Overdieck und Mangold sehr gut. Bei den Kollegen hatten sie ihre Spitznamen bereits weg. Overdieck mit seiner behäbigen, tollpatschigen Art war der »Taps«. Mangold, der ja für seinen Riecher bekannt war, hieß bei seinen Kollegen nur noch »Schnüffel«.

Neben Sabine Blascheck, der stellvertretenden Chefredak- teurin, waren Gerd Overdieck und Rainer Mangold Decksteins wichtigste Stützen in der Redaktion. Seit sie vor einigen Jahren zum Team gestoßen waren, bildeten sie alle gemeinsam ein unschlagbares Gespann.

Overdieck und Mangold stachen allerdings schon rein äußerlich hervor. Wer den beiden zusammen auf der Straße begegnete, musste unwillkürlich an das Komikerduo Pat und Patachon denken: Der kleine schmächtige Mangold wieselte mit schnellen Trippelschritten neben dem stämmigen Zweimetermann Overdieck einher. Dieser eilte trotz seiner Größe behände und beinahe elegant mit weiten Schritten über das Pflaster. Wenn Mangold seinem Kollegen unterwegs etwas sagen wollte, musste er zu ihm aufsehen. Deckstein hatte schon häufiger erlebt, dass Menschen stehen geblieben waren und den beiden lächelnd hinterhergeschaut hatten.

Overdieck hob die Hände. »Danke für die Blumen. Übrigens weißt du genau, dass ich gar keine Zeit habe mitzufahren. Ich muss an unserer Story weiterschreiben – morgen ist Deadline. Das erinnert mich daran, dass ich noch eine Menge Stoff von dir zu bekommen habe«, sagte er mit erhobenem Zeigefinger und verzog sein Gesicht zu einem breiten Grinsen.

»Reg dich nicht auf, mein Lieber, kriegst du ...«

Overdieck wandte sich wieder an Deckstein: »Bevor mich dieser Witzbold da unterbrochen hat, wollte ich nur kurz darauf hinweisen, dass Typen wie der Wedelmeyer oft schnell dichtmachen. Die haben ja nicht so häufig mit der Presse zu tun. Ein falsches Wort, und die sind eingeschnappt. Dann bekommt man nichts Vernünftiges mehr aus denen raus. Hab da so meine Erfahrungen.«

»Das glaub ich sofort«, spottete Mangold. »Ich ginge ja schon laufen, wenn ich sehen würde, dass so ein Zweizentnerschrank auf mich zugerollt kommt.«

Overdieck sah Deckstein an und schüttelte lachend den Kopf. »Ist ja eigentlich nicht zu glauben! Jetzt hat der Mann schon über vierzig Jahre auf dem Buckel und kann immer noch nicht schlucken, dass seine Eltern ihn als halbe Portion auf die Welt gebracht haben.«

Kaum hatte er den Satz zu Ende gebracht, traf ihn ein Keks

an der Schläfe. Overdiecks Bauch zitterte vor unterdrücktem Lachen. »Lass uns mal wieder ernst werden, Rainer«, sagte er und fuhr an Deckstein gewandt fort: »Ich bin sicher, Sie machen das schon. Wenn Sie den Wedelmeyer richtig anpacken, Daniel, können Sie aus dem eine Menge für uns rausholen. Schließlich hat er laut LKA-Unterlagen den Genske tot in seiner Zelle gefunden.«

»Aus meiner Sicht haben wir nur eine Chance, was Brauchbares von dem zu erfahren, wenn wir ihm mit gezielten Fragen auf den Leib rücken«, warf Mangold ein. »Vielleicht hab ich da noch was«, setzte er mit unergründlicher Miene hinzu.

»Mein Lieber, du riechst doch schon wieder was. Spuck's aus!«, sagte Overdieck.

»Mir ist da was durch den Kopf gegangen, Gerd. Kann ich aber noch nicht drüber reden. Muss erst noch ein bisschen rumtelefonieren. Und dann schiebe ich Ihnen, Daniel, noch ein paar saubere Fragen für das Interview rüber.«

»Okay, bin gespannt«, sagte Deckstein. »Solche Leute haben, glaub ich, oft Hemmungen, mit offiziellen Untersuchungsbeamten über ihre Entdeckungen und Gefühle zu sprechen. Und soweit wir inzwischen wissen, ist Wedelmeyer keiner dieser durchschnittlichen Schließer. Eher ein verhinderter Jurist. Obwohl er schon lange im Dienst ist, also auch erfahren, kniet der sich in die Fälle rein und liest alles darüber. Als erster eingebuchteter Manager aus einem Atomunternehmen war der Genske für ihn wohl ein ganz besonderer Fall. Das hab ich jedenfalls bei einem Telefonat mit Wedelmeyer herausgehört. Der sprudelte gleich los ...«

»Erstaunlich«, unterbrach ihn Overdieck. »Aber auch bei einigen Staatsanwälten, die wir gesprochen haben, war der Fall nach über zwanzig Jahren immer noch präsent. ›Es gibt so Fälle‹, hat der Leiter des Archivs in der Hanauer Staatsanwaltschaft zu mir gesagt, ›die merkt man sich, weil man damit rechnet, dass da irgendwann noch mal nachgefragt wird‹.«

»Wir hatten bei unseren Recherchen ja auch wiederholt den Eindruck, als hätte damals eine heimliche Hand die Ermittler an unsichtbaren Fäden zurückgehalten, damit sie nicht zu tief ermitteln«, sagte Deckstein nachdenklich.

»Die Leute erinnern sich zwar an den Fall, aber wenn wir irgendwo auftauchen, schlägt uns nicht gerade die reine Freude entgegen«, sagte Mangold. »Im Gegenteil, manchmal müssen wir froh sein, dass die uns nicht einen Eimer Wasser über den Kopf schütten, wenn wir uns vorstellen und erklären, um was es geht.«

Gerd Overdieck nickte heftig.

»Wenn das Interview mit dem Wedelmeyer gut läuft, erfahren wir vielleicht, ob die Branche oder alle, die da mitmischen, fähig sind, einen Mord in Kauf zu nehmen, um ihre Ziele nicht zu gefährden. Das, was wir bisher schon im Kasten haben und nach und nach veröffentlichen können, spricht ja eigentlich schon eine klare Sprache. Hat nicht der Richter in Hanau schon damals, als der Prozess gegen einen Mitarbeiter aus dem Umfeld Genskes lief, von mafiosen Strukturen gesprochen?«

Overdieck sprang plötzlich auf. »Ich kann's gar nicht erwarten, diesen coolen, aalglatten Atommanagern die Maske vom Gesicht zu reißen. Die erklären immer, sie hätten alles im Griff! Dabei wird gar nicht richtig klar, wie sie das eigentlich meinen!«

Mangold wusste, dass er seinen Kollegen bremsen musste,

egal wie. Sonst würde der sich weiter in Rage reden.

»Mensch, Gerd«, sagte er und setzte ein spöttisches Grinsen auf, »besser hätte ich es auch nicht formulieren können. Ich sag's ja immer, unser Taps kann sich von einer Minute zur anderen als eleganter ... Haudrauf entpuppen.«

Overdieck klopfte ihm lächelnd auf die Schulter. »Manchmal bist du so'n richtig netter kleiner Armleuchter.«

»Ich finde es zwar immer wieder unterhaltsam, Ihnen beiden zuzuhören«, sagte Deckstein, »aber die Zeit drängt. Ich muss die Unterlagen noch mal durchgehen, und Sabine will auch noch was von mir.«

»O.k., wir sind schon verschwunden«, sagte Mangold und stand auf. »Ich reich Ihnen nachher noch die Fragen rein.«