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MITTWOCH

2
Hanau, Untersuchungsgefängnis

Deckstein saß rittlings auf dem einzigen Stuhl im Zimmer des Aufsehers Kurt Wedelmeyer. Das Sitzmöbel machte einen derart wackeligen Eindruck, dass der Journalist es zur Sicherheit mit der Rückenlehne nah an die Kante des kleinen Tisches gestellt hatte. Das gab ihm das Gefühl, nicht damit umkippen zu können. Aus dieser Warte hatte Deckstein das Aufnahmegerät, das auf dem Tischchen neben dem Teller mit Wedelmeyers Mittagessen stand, gut im Blick. Es würde ihm also nicht passieren, dass sie redeten und redeten und das Band stünde längst still. Häufigeres Reporterschicksal, als man glaubt. Alex Sudhoff hatte sich mit seiner Kamera hinter ihm aufgebaut.

Deckstein betrachtete das zerfurchte, graue Gesicht des Aufsehers, der ihm auf einem ausgeblichenen, durchgesessenen Sofa gegenübersaß. Seit über zwanzig Jahren tat Wedelmeyer hier im Hanauer Gefängnis Dienst. Seine Augen, die unruhig hin und her huschten, lagen tief in dunkel umschatteten Höhlen. Die Wangen waren eingefallen, die Lippen hatte er fest aufeinander gepresst. Er machte den Eindruck eines Mannes, auf dem ein gewaltiger seelischer Druck lastet.

»Ein paar Tage nach diesem schrecklichen Erlebnis mit Genske hatte ich zufällig wegen einer anderen Sache mit Doktor Gaibel zu tun. Das ist unser Gefängnisarzt«, erzählte Wedelmeyer. »Ich hab ihn gefragt, was eigentlich im Kopf und im Körper eines Selbstmörders passiert, nachdem der sich die Adern aufgeschnitten hat. Sitzt der dann da einfach so rum und sieht zu, wie ihm der eigene Saft rausspritzt?«

Mit einer raschen Bewegung, die Deckstein dem bisher eher träge erscheinenden Mann gar nicht zugetraut hätte, griff Wedelmeyer hinter sich und zog hinter seinem Rücken ein wabbeliges Ding hervor.

»Ich hab was vorbereitet, damit Sie sich mal so richtig vorstellen können, wie das mit dem Genske abgelaufen ist, meine Herren. Ich meine, dann fallen Ihnen sofort die richtigen Fragen ein.«

Wie bei einem Zauberer verschwand das rote wabbelige Ding plötzlich tief in dem weiten linken Ärmel von Wedel- meyers alter, durchgescheuerter Uniformjacke. Er streifte den Stoff hoch, und plötzlich schoss eine hellrote blutähnliche Flüssigkeit aus seinem linken Arm.

»Nicht! Lassen Sie das«, rief Wedelmeyer, als Deckstein den Teller mit dem Mittagessen wegziehen wollte. Das »Blut« spritzte über den Tisch, das Mittagessen und einen daneben liegenden Brief.

Mit einem Ruck wandte Deckstein den Kopf ab. Er hörte, wie es hinter ihm polterte, und spürte einen Ruck an seinem Stuhl. Er drehte sich um und sah, dass Alex Sudhoff vor Schreck seine Kamera losgelassen hatte. Sie war gegen Decksteins Stuhl geschlagen und baumelte jetzt am Riemen vor dem Bauch des Fotografen.

»Ih!«, gellte Alex' schriller Schrei durch den Raum.

Hoffentlich kippt der mir jetzt nicht noch um, dachte Deckstein,

»Nee, Herr Wedelmeyer«, rief Sudhoff, »dieses Blut im Mittagessen! Wie widerlich! So eine ekelige Sauerei!« Zugleich griff er wieder nach seiner Kamera und kniete sich mit einer geübten Bewegung hin. Immer wieder drückte er auf den Auslöser und schoss eine Serie Bilder von dem blutigen Stillleben.

Als Deckstein sich Wedelmeyer wieder zuwandte, sah er, dass inzwischen dunkleres »Blut« vom Tisch auf dessen Hose tropfte. Auf dem Boden hatte sich schon eine kleine Lache gebildet, die rasch größer wurde. Der linke Arm des Aufsehers hing wie eine rote blutige Wurst schlaff herunter.

»Und nun sitze ich hier und warte in aller Seelenruhe darauf, dass mir weiter das Blut rausläuft? Bis ich tot umfalle? Und dann hoffe ich auch noch, dass mich keiner entdeckt?« fragte Wedelmeyer ironisch und sah die beiden Journalisten an. »Das musste damals bei dem Genske ja alles zwischen zwei zeitlich engen Kontrollen passieren. Und der wusste natürlich nicht, wann die jeweils waren.«

In der Wärterzelle sah es inzwischen aus wie beim Schlachtfest. Je länger Deckstein Wedelmeyer mit seinem blutüberströmten Arm betrachtete, desto mehr verschwamm das Bild des Wärters vor seinen Augen. Stattdessen sah er den großen, schlanken, lebensfrohen Genske vor sich, wie er ihn von vielen Fotos und Schilderungen in Erinnerung hatte. Zugleich drang ihm immer klarer die Frage ins Bewusstsein: Sieht so ein Täter aus? Oder doch das geschlachtete Opfer? Ist das alles überhaupt so gewesen? Und wenn nicht, warum gibt sich Wedelmeyer so viel Mühe, uns vorzumachen, dass der Genske sich tatsächlich den Puls aufgeschlitzt hat?

»Also, der Doktor Gaibel«, erklärte Wedelmeyer weiter, »hat mir damals den medizinischen Ablauf eines Suizids geschildert. Mir kamen dabei immer wieder die Bilder von Genske in der Zelle hoch. ›Nach dem Schnitt‹, hat der Doktor gesagt, ›kommt zunächst der Moment, in dem man noch einmal richtig lebendig wird. Das Herz rast dann wie wild.‹ In diesem Augenblick, in dem man dann noch mal so richtig aufgekratzt und mobil wird, geben manche Selbstmordkandidaten ihre Absicht auf. Sie schreien rum, machen sich bemerkbar und werden oft noch gerettet.

Wenn man den Schnitt richtig gemacht hat, also längs und nicht quer, und die erste Phase hinter sich hat, kommt die zweite, und zwar ziemlich bald nach diesem Herzrasen. ›Sogar die erlebt man noch bei vollem Bewusstsein‹, hat der Gaibel mir weiter erklärt. ›Dann hat man schon richtige Schmerzen, denn der Körper versorgt nur noch das Gehirn, den Bauch, die Lunge und das Herz mit Blut. Beine und Arme schon nicht mehr. Und das kann sehr, sehr wehtun.‹«

Wedelmeyer machte eine Pause und fuhr dann nachdenklich fort: »Wenn das stimmt, was der Doktor mir erzählt hat – und es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln –, dann muss der Genske doch damals irre Schmerzen gehabt haben.«

Deckstein lauschte mit angehaltenem Atem und brannte darauf, dass der Aufseher weitersprach.

»›Wedelmeyer‹, hat der Gaibel mich in einem Ton angeschrien, als ginge es auf mein eigenes Ende zu. ›Wedelmeyer, wenn Sie nun Ihre dritte Suizid-Phase erreicht haben, macht langsam auch Ihr Gehirn nicht mehr mit.‹ Er hat mir dabei einen kurzen, kräftigen Klaps vor die Stirn gegeben. ›Die kleinen Blutgefäße, die Kapillargefäße, die die Nervenzellen mit den übrigen Blutgefäßen verbinden, werden jetzt nicht mehr richtig durchblutet. Sie schalten allmählich ab. Und dann stellt der Herzmuskel seine Arbeit ein. Danach schalten auch alle anderen Organe ab.‹« Wedelmeyer verstummte und schüttelte sich, als liefe es ihm noch in der Erinnerung kalt den Rücken herunter. Mit einem Mal beugte er sich so abrupt vor, dass das altersschwache Sofa ächzende Laute von sich gab. Eine Weile saß der Wärter regungslos mit zusammengezogenen Schultern da.

Deckstein stellte ihm keine Fragen, sondern wartete ab. Er will sich vor etwas wegducken, dachte er und nahm sich die Zeit, den Aufseher genauer in Augenschein zu nehmen.

Im kaltweißen Licht der Neonröhre stachen die »Blutspritzer« in dem von tiefen Furchen durchzogenen Gesicht hellrot hervor. Wedelmeyers an sich krauses Haar war durch die Mütze, die er eben noch getragen hatte, platt an den Kopf gedrückt worden.

Plötzlich kam wieder Leben in den Aufseher. Er straffte sich, stand auf und sagte: »Entschuldigen Sie, meine Herren, aber Sie werden verstehen, dass ich jetzt wieder arbeiten muss. Man wird mich bestimmt schon vermissen. Und ich muss mich ja noch umziehen.«

Als die drei Männer den Raum verließen, hielt Deckstein das eingeschaltete Tonbandgerät in der Hand. Er achtete darauf, dass das Mikrofon möglichst auf Wedelmeyer gerichtet blieb. Sie waren kaum auf dem Gang angekommen, als der Wärter unvermittelt stehen blieb.

»Noch mal kurz zu Genske ...«

»Das ist das Stichwort, Herr Wedelmeyer«, unterbrach ihn Deckstein. »Wir haben Hinweise darauf, dass das alles ganz anders abgelaufen ist.«

Der Aufseher sah ihn erschrocken an und schwieg. Die plötzlich eingetretene Stille wurde vom Klingelton eines Mobiltelefons unterbrochen.

Deckstein sah seinen Fotografen an. Doch Sudhoff schüttelte den Kopf und zeigte auf Wedelmeyer. Der Aufseher griff in seine Jackentasche, zog sein Handy hervor und sah auf das Display.

»Entschuldigung, meine Herren«, sagte er erstaunt. »Eigentlich ungewöhnlich. Ich werde hier sonst nie angerufen. Normalerweise funktioniert auch unser Störsender, damit die Häftlinge nicht einfach so mit ihren Handys ...« Er sah noch einmal auf das Display. »Die Nummer kenn ich nicht. Ich nehme aber mal schnell an ... Wedelmeyer, hallo?«

Gleich danach lief sein Gesicht rot an. Er reckte den Kopf, um den langen Gefängnisgang zu überblicken. Dann schrie er: »Wer sind Sie überhaupt? Woher wissen Sie ...? Was wollen Sie ...?« Er beendete das Gespräch und sah Deckstein direkt ins Gesicht: »Seien Sie bloß vorsichtig!«

»Was ist denn los, Herr Wedelmeyer?«

Der Aufseher versuchte, das Handy, das von der »blutigen« Vorführung ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen war, wieder in seiner Jackentasche zu verstauen, griff aber aus Nervosität mehrmals daneben. Deckstein sah, wie seine rot verschmierten Hände zitterten.

»Da war so ein Kerl dran. Wollte seinen Namen nicht nennen«, murmelte Wedelmeyer und konzentrierte sich darauf, das Handy in der Außentasche seines zu weiten Jacketts zu verstauen. Schließlich schaffte er es. »Der meinte doch tatsächlich ...«

Er sieht aus, als verstünde er überhaupt nichts mehr, dachte Deckstein.

»Meine Herren, haben Sie bitte Verständnis, aber ich muss jetzt«, erklärte der Aufseher unvermittelt und zeigte in Rich-tung Ausgang. »Ich fürchte, dass sich da im Hintergrund was gegen Sie zusammenbraut«, fuhr er fort, während er mit schnellen Schritten voranging. »Ich geb Ihnen einen guten Rat: Passen Sie auf sich auf! Nicht, dass Ihnen auch noch was passiert!« Er wirkte tief beunruhigt.

 

Als sie vor dem Ausgangstor angekommen waren, drückte der Wärter neben der Tür auf verschiedene Zahlen. Innerhalb des großen Tores öffnete sich, wie von Geisterhand gesteuert, eine kleinere Tür. Grelle Sonnenstrahlen tasteten sich in das dunkle Viereck, als versuchten sie, Licht in das unheimliche Geschehen dahinter zu bringen.

Draußen schien eine andere Welt zu warten. Oder war das nur eine kurze Sinnestäuschung? Vielmehr ein Wunsch? Deckstein zog es ins Freie, in die warme Sonne, zu ihrem Auto. Er wollte möglichst schnell weg aus dieser grellen Sterilität der kalt ausgeleuchteten Gefängnisflure. Alex Sudhoff war schon auf dem Weg zu ihrem Wagen, als Deckstein im letzten Moment einfiel, was Rainer Mangold ihm aufgeschrieben hatte: Fragen Sie den Wärter unbedingt auch nach dem letzten Besucher in Genskes Zelle und nach der Akte zum Todesermittlungsverfahren.

»Sagen Sie mal«, sagte Deckstein und legte die Hand auf Wedelmeyers Arm. »Ich wollte Sie schon die ganze Zeit danach fragen, aber über diesen Anruf eben hab ich's vergessen. Hatte der Genske eigentlich Besuch? Irgendwelche Leute haben den doch bestimmt in der Zelle besucht. Und dann muss es da doch eine Akte geben, in der der Arzt die genaue Todesursache angegeben hat.«

»Sie meinen die Todesermittlungsakte? Gute Frage! Wo die steckt, weiß ich auch nicht. Aber da sind Sie schon auf dem richtigen Weg. Wenn Sie die in der Hand hätten, wüssten Sie eine ganze Menge mehr. Fragen Sie mal bei der Staatsanwaltschaft Hanau nach. Im Übrigen: Den Genske haben schon einige Leute besucht«, sagte der Aufseher. »Vernehmungsbeamte vom Landeskriminalamt, Staatsanwälte ... Wenn Sie die Besucherliste einsehen wollen, müssten Sie auch beim zuständigen Staatsanwalt anfragen, der hat die bestimmt noch in seinen Akten. Da gibt es einen ganz Netten, der auch an der Aufklärung des Falles beteiligt war. Ich kann Ihnen den Namen raussuchen. Schicke ich Ihnen.«

»Ich hab sie aus einem bestimmten Grund danach gefragt, Herr Wedelmeyer. Kann ja sein, dass wir da Namen von Leuten finden, die uns Hinweise auf Genskes mögliche Todesumstände geben. Besonders interessant wäre der Name des letzten Besuchers.«

»So ist es«, sagte Wedelmeyer in einem Ton, als wäre er nicht ganz bei der Sache. Er richtete sich kerzengerade auf und schob die Brust heraus. Das Jackett saß auf einmal stramm. Deckstein hatte den Eindruck, als stünde jemand hinter dem Aufseher und würde ihn mit einer Luftpumpe aufblasen.

Wedelmeyer sah an Deckstein vorbei. »Irgendwo müssen diese Schweine, die Sie und mich überwachen, doch stecken!«, flüsterte er und suchte mit den Augen die gegenüberliegende Häuserzeile ab.

»Vergessen Sie's, Herr Wedelmeyer. Das sind Profis. Die lassen sich bestimmt nicht sehen«, sagte Deckstein.

Kaum hatte er ausgesprochen, schoss hinter einem mittelgroßen Lkw, der auf dem Parkplatz vor den Häusern gestanden hatte, ein schwerer dunkler Mercedes mit quietschenden Reifen hervor. Zwei Männer mit dunklen Sonnenbrillen warfen einen kurzen Blick in Richtung des Gefängnistores, dann war der Wagen um die Kurve verschwunden. Es war so schnell gegangen, dass weder Deckstein noch Wedelmeyer das Kennzeichen erkennen konnten.

»Ich kann's nicht oft genug sagen: Seien Sie vorsichtig!«, sagte Wedelmeyer.

Deckstein verabschiedete sich mit einem kurzen Händedruck von dem Aufseher und ging mit schnellen Schritten zu dem Wagen, in dem Alex Sudhoff auf ihn wartete. Bevor er einstieg, wandte er sich noch einmal um und sah, dass Wedelmeyer ihnen noch mit sorgenvollem Blick nachsah, bis sich das Gefängnistor wie von Geisterhand gesteuert vor ihm schloss.

3
Bonn, Redaktion des Energy Report

Draußen wurde es bereits dunkel. Im Verlag des Energy Report, unweit der Bonner Oper, hüllten die italienischen Designerlampen Decksteins Büro in ein warmes Licht. Gerd Overdieck und Rainer Mangold hatten es sich im »italienischen Eck« bequem gemacht. Dieses von den Mitarbeitern mit untergründigem Spott so getaufte Ensemble im Büro des Chefredakteurs bestand aus drei leichten, schwarzen Ledersesseln und einer Zweiercouch. Produkte eines italienischen Nobeldesigners. Deckstein hatte seine Mitarbeiter zu sich gebeten, weil er ihnen von dem Interview mit Wedelmeyer und vor allem auch von dem seltsamen, irgendwie bedrohlichen Anruf berichten wollte.

Overdieck ließ seinen Blick durch den Raum wandern. »Ich muss schon sagen, Daniel, jedes Mal, wenn ich hier bei Ihnen sitze, fällt mir wieder auf, dass der Verleger aber auch wirklich die feinsten Teile in Ihr Büro gestellt hat«, sagte er. »Die sind derart fein und grazil, dass ich mich frage, ob er dabei auch an Leute wie mich gedacht hat.« Dabei wippte er mit seinen beinahe hundert Kilo ein paar Mal rauf und runter.

»Wenn Sie weiter hier so formidabel sitzen wollen, sollten Sie vorsichtiger mit dem Stück umgehen. Übrigens hat mir der Verleger diese schicken Teile erst hier reingestellt, nachdem ich ihn überzeugen konnte, dass wir Sie beide nur kriegen, wenn er für eine anständige Umgebung sorgt. Vorher haben wir hier auf Apfelsinenkisten gesessen«, sagte Deckstein und lachte. »Aber wir wollen fair sein, Gerd, Ihre Büros sehen auch nicht viel schlechter aus!«

»Ja, ja, stimmt schon. Ich muss zugeben, da kann man ganz gut darin leben«, räumte Overdieck ein und zwinkerte Mangold zu. »Ich benehme mich jetzt auch anständig«, fügte er schmunzelnd hinzu, »und setz mich richtig hin.« Mit einer vorsichtigen Bewegung richtete er sich gerade in dem Sessel auf und legte die Hände wie eine Novizin zusammengefaltet in den Schoß.

»Ich wollte eigentlich mit Ihnen nicht über unsere Büroausstattung diskutieren, sondern kurz berichten, wie das Interview gelaufen ist«, sagte Deckstein.

»Noch schnell ein Wort vorweg«, unterbrach ihn Overdieck. »Muss einfach sein.« Er drehte sich zur Seite und ließ seine Augen über die Bilder an den Wänden schweifen. »Wenn mich mein Eindruck nicht täuscht, wird Ihr Büro auch immer mehr zu einer Galerie für die, zugegeben, tollen Bilder Ihrer Tochter.«

»Da bringen Sie mich auf eine Idee, Gerd. Bin ich noch gar nicht drauf gekommen. Aber wir sollten jetzt doch ...«

»Studiert sie eigentlich immer noch an der Kunstakademie in Berlin?«

Rainer Mangold stellte in dem Augenblick seine Kaffeetasse mit solch einem Schwung auf die Untertasse, dass es klirrte. Deckstein und Overdieck zuckten zusammen.

»Ach, komm, Taps, hör auf zu schleimen«, fuhr ihn Mangold unwirsch an. »Daniel hat doch gerade gesagt, dass es Wichtigeres zu besprechen gibt.«

»Kein Schleimen, Schnüffel. Du verstehst eben nichts von Kunst und ...« Overdieck kam nicht dazu, weiterzusprechen. Mangold hob die Hand auf eine Weise, die ihn sofort innehalten ließ.

»Was ist los, Rainer? Sie sind heute irgendwie komisch«, sagte Deckstein.

»Ja, ich weiß auch nicht. Diese ganze Geschichte, an der wir nun schon monatelang arbeiten, hinterlässt wohl bei mir ihre Spuren. Ich bin inzwischen fast süchtig nach Süßem«, erklärte Mangold.

»Nichts Neues für uns, Rainer«, spöttelte Overdieck.

»Ist aber wirklich so. Ich brauche mehr Nervennahrung als sonst«, sagte Mangold und fuhr an Deckstein gewandt fort: »Vor allem, wenn der Taps hier solche Sachen erzählt. Haben Sie nicht für einen ängstlichen Menschen noch ein paar Kekse hier rumliegen?«

»Mensch, ich dachte, du wolltest was Wichtiges sagen! Und überhaupt, du riechst doch sonst alles«, brummte Overdieck. »Da links, direkt vor deiner Nase, steht auf dem kleinen italienischen Designer-Glastisch eine ganze Schachtel.«

»Lass gut sein, Gerd«, sagte Deckstein. »Die letzten Monate waren wirklich ein Schlauch. Manch einer hätte uns für bekloppt gehalten, so wie wir an der Geschichte gearbeitet haben. Wie die Besessenen. Tag und Nacht, hätte ich fast gesagt.«

Deckstein gab den beiden einen kurzen Überblick über das, was der Aufseher gesagt hatte. Vor allem Wedelmeyers Darstellung, wie sich Genske umgebracht haben sollte, schilderte er ihnen ausführlich. Und dann kam er zu dem ominösen Anruf. »Wedelmeyer ist überzeugt, dass wir beobachtet und womöglich auch abgehört werden.

Der hat uns total nervös gemacht mit seinem Gehabe. Bevor wir nach dem Interview losgefahren sind, haben Alex und ich das ganze Auto nach versteckten Wanzen abgesucht.«

Mangold und Overdieck sahen sich betroffen an. Bevor sie etwas sagen konnten, klingelte das Telefon auf Decksteins Schreibtisch.

»Moment, ich geh mal gerade dran«, sagte Deckstein und hielt den Zeigefinger vor den Mund. Gleichzeitig nahm er das Gespräch auf dem schnurlosen Telefon an, das auf dem Beistelltisch neben ihm lag.

»Deckstein …, ach, Ulla, du bist es. Wer ist dran? Was sagst du, der ist ungehalten?« Er warf den beiden anderen einen bedeutungsvollen Blick zu. »Moment, ich stell gerade mal auf laut. Gerd und Rainer sollen mitbekommen, was der Würselen zu sagen hat. Okay, funktioniert. Jetzt kannst du durchstellen … Deckstein«, sagte er in die Sprechmuschel.

»Schön, dass ich Sie gleich erreiche, Herr Deckstein. Ich muss unbedingt mal mit Ihnen sprechen. Bei mir klingelt seit heute Morgen ununterbrochen das Telefon. Die Vorstände von unseren Mitgliedsfirmen rufen mich an und beschweren sich über Sie. Mein Gott, lassen Sie doch diese alten Kamellen ruhen!«

Overdieck und Mangold erstarrten. Sie hatten die Stimme erkannt – Matthias Würselen, der Präsident des Deutschen Atomvereins.

»Herr Mangold und sein Kollege, der Herr Overdieck, waren ja kürzlich auch bei mir und haben mir Löcher in den Bauch gefragt. Halt ich ja aus. Bei mir beißen die ja, wie Sie wissen, auf Granit. Aber seit Wochen, was sage ich, seit Monaten nerven die beiden nicht nur einige Vorstände unserer Mitgliedsfirmen mit ominösen Fragen zu diesem alten Skandal, auch aus Regierungskreisen gibt es immer wieder Anfragen. Die Leute wollen von mir wissen, ob da noch was auf sie zukommen könnte ...«

Deckstein spürte förmlich die Erregung des Präsidenten. Der schneidende Unterton überdeckte das Vibrieren in seiner Stimme nur unzureichend. »Sie wissen doch auch, wo Menschen arbeiten ...«

Würselen hielt inne und räusperte sich. Er musste bemerkt haben, dass er dabei war, sich zu verhaspeln. Schließlich hatte die Atomwirtschaft immer wieder betont, dass sie über ein absolut sicheres Konzept verfüge. Der Einzelne könne gar keine krummen Sachen machen. Ein wenig verbindlicher fuhr er fort: »Herr Deckstein, Sie machen doch ein professionelles, modernes Blatt. Wird auch bei uns in der Branche viel gelesen. Warum wollen Sie sich unbedingt den Ruf kaputtmachen? Der Skandal ist doch längst begraben, vergessen. Der modert ja schon richtig vor sich hin ...«

Deckstein ließ ihn nicht ausreden.

»Die Sache hat seit damals ihren üblen Geruch keineswegs verloren, Herr Würselen«, sagte er kühl. »Vergessen Sie nicht, da sind Menschen in Ihrer Branche auf brutale Art und Weise umgekommen. Ich frage Sie: warum? Weil sie zu viel wussten? Damals ist Bombenstoff verschwunden. Wohin? Nach Libyen, Pakistan und von da zu islamistischen Terrorgruppen? Bis heute will niemand aus Ihren Kreisen angeblich Genaueres wissen oder gewusst haben.«

»Das wurde doch alles aufgeklärt und ...«, warf Würselen ein.

»Aufklärung nennen Sie das?«, unterbrach Deckstein den Atomvereinspräsidenten. »Der Skandal wurde genau so wenig aufgearbeitet wie der von dem atomaren Zwischenendlager Asse. Keiner weiß so richtig, was es eigentlich sein oder werden soll. Erst heute, Herr Würselen, erst heute, nach mehr als zwanzig Jahren, kommt scheibchenweise zutage, dass in dem sogenannten Zwischenendlager in Niedersachsen kiloweise Plutonium, also Stoff für etliche Atombomben lagert, den Kontrollen entzogen und ...«

»Das behaupten Sie«, ging Würselen dazwischen.

»Nein, Herr Würselen, Sie wissen genau so gut wie ich, dass dies das Ergebnis der ersten stichhaltigen Bestandsaufnahme durch Experten ist. Das belegen auch die Unterlagen der Staatsanwaltschaft, die den Hanauer Atomskandal untersucht hat. Ich erinnere nur mal an Genske. Der Name sagt Ihnen noch was?«

»Aber natürlich. Das war doch der, der sich damals ...«

»Vielleicht wusste er auch nur zu viel. Aufgrund unserer bisherigen Rechercheergebnisse stellen wir uns die Frage, wie weit Ihre Branche geht, um ihre Ziele zu erreichen.«

Deckstein zog die Augenbrauen hoch und warf Overdieck und Mangold einen gespannten Blick zu.

»Ich habe gedacht, ich könnte Sie zur Vernunft bringen. Aber ...« Würselen legte auf.

 

»So nervös hab ich den Mann vielleicht das letzte Mal während der großen Anti-Atomkraft-Demos vor Jahren erlebt«, sagte Deckstein.

»Dieser scheinheilige Klugscheißer!«, empörte sich Over- dieck. Er schaukelte so vehement in seinem Sessel, dass Deckstein ihm einen um das Möbel besorgten Blick zuwarf. »Genske und Co. haben mit Wissen ihrer Bosse den Bombenstoff ins belgische Atomzentrum Mol geliefert. Nach allem, was wir bisher recherchiert haben, bin ich mir inzwischen ziemlich sicher, dass deren Chefs sogar die Strategie dafür entwickelt haben.«

»Und in Mol wurden die schon sehnsüchtig von den pakistanischen Atomwissenschaftlern erwartet«, ergänzte Deckstein. »Wie Sie wissen, kriegt die Atombombe aber erst mit Tritium die richtige Sprengkraft. Das haben die Hanauer auch dahin geliefert. Sabine und ich haben das recherchiert. Wir liefern diesen Teil zur Titelgeschichte dazu. Das war nicht nur ein ganz dickes, sondern auch ein ganz gefährliches Geschäft. Und über all das wusste der Genske zu viel. Auch deswegen sind wir uns sicher, dass mit Genskes Tod etwas nicht stimmt.«

Overdieck und Mayer sahen ihn entgeistert an.

»Waren die meschugge? Woher wissen Sie ...?«, fragte Mayer und tippte sich an den Kopf.

»Hinter dem Tritium waren damals auch einige Atommächte her«, erklärte Deckstein.

»Es ist einfach unfassbar«, empörte sich Mangold, »da taucht plötzlich irgendwo kiloweise Plutonium auf und keiner wusste vorher, dass es das gibt! Das hatte niemand in den Büchern. Und dann behaupten diese Kerle in Wien von der IEAO oder auch diese Atomkontrolleure von Euratom, ihnen entginge aber auch gar nichts! Zumindest die hätten wissen müssen, wie viel Plutonium ins Lager Asse gekippt worden ist!« Mangold war außer sich. »Für mich steht fest, dass die überhaupt keinen Durchblick mehr hatten!«

»Die hatten noch nie einen, Schnüffel«, sagte Overdieck ruhig. »Im belgischen Mol sind Unmengen Tonnen an atomarem ›Abfall‹ unbemerkt verschwunden. Das zumindest steht hundertprozentig fest. Dieser sogenannte ›Abfall‹ war mit angereichertem Plutonium und Uran versetzt und behaftet. Glaubst du denn, deshalb wäre auch nur einer von der Regierung oder der Atomwirtschaft im Karree gesprungen? Oder wie das HB-Männchen unter die Decke gegangen? Nicht einer! Dass diese Mengen in dunklen Kanälen, vermutlich in Pakistan, versickert sein könnten, hat niemanden dort aufgeregt. Die waren ausschließlich mit dem Herunterspielen und Vertuschen der ganzen Sache beschäftigt.«