Blindflug Abu Dhabi

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Blindflug Abu Dhabi
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Dieter Eppler

Blindflug Abu Dhabi

Mein Leben nach dem Swissair Grounding

Impressum

Blindflug Abu Dhabi

Dieter Eppler

Published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

E-Book-Produktion: melle newMedia, Potsdam

www.dipub.de

Copyright © 2013 Dieter Eppler

ISBN 978-3-8442-5228-6

Erinnerung ist nur eine Reifenspur im Sand,

der Wind weht sie zu und oft viel zu früh,

hat man’s nicht mehr in der Hand

Rainhard Fendrich, aus «Tränen trocknen schnell»

Wie alles begann, 2001

Das Telefon klingelt. Viel zu früh, denke ich, ohne genau zu wissen, wie spät es ist. Noch immer steckt die Müdigkeit der vor einem Tag abgeschlossenen Nordatlantik-Rotation in meinen Gliedern. Durch die Vorhänge unseres Schlafzimmers dringen frühmorgendliche Sonnenstrahlen und werfen ein mattes Licht in den Raum. Die Nacht schleicht sich langsam davon. Noch immer klingelt das Telefon. Ich grabe meinen Kopf ins Kissen und versuche, den Lärm zu ignorieren.

«Warum geht denn keiner ran?», denke ich entnervt.

Meine Frau Franziska ist bereits aufgestanden, die Kinder müssen in die Schule. Oder sind sie vielleicht alle schon aus dem Haus? Wie spät ist es eigentlich?

Ein erneutes Abtauchen ins Traumland wird unmöglich. Der oder die Anruferin kennt keine Gnade.

«Halloo …?», melde ich mich verschlafen.

«Dieter, hast du gehört, was passiert ist?» Die aufgeregte Stimme unserer Nachbarin reisst mich vollends aus der Dämmerung. Als ehemalige Flight Attendant der Swissair ist Bettina mit der Fliegerei noch immer eng verbunden.

«Der 111er ist abgestürzt!»

Sofort bin ich hellwach. «Was? Wo – und wann?»

«In der Nähe von Halifax, heute Nacht! Die Ursache ist unbekannt.»

«Und was ist mit der Crew und den Passagieren?», erkundige ich mich.

«Auch das ist ungewiss, auf jeden Fall wurden noch keine Überlebenden gefunden», entgegnet Bettina mit gepresster Stimme.

Ich springe aus dem Bett, haste die Treppe hinunter ins Wohnzimmer, wo ich sofort den Fernseher einschalte. CNN berichtet live. Bilder der Nacht, unruhige, aufgewühlte Wasser vor der Küste Neuschottlands. Der Leuchtturm von Peggy’s Cove, Rettungsboote mit Suchscheinwerfern, Fischkutter, Kleidungsstücke, ein leerer Crewbag. Zeugen und Reporter in nass-glänzenden Regenjacken, die ihre Statements in ein Gewühl von Mikrofonen abgeben.

Ein Swissair-Wrack im Fokus der Medien. Bilder der Verwüstung. Ich muss sofort wissen, wer im Cockpit sass, denn ich habe gute Freunde, die den MD11 fliegen. Wo mögen sie jetzt gerade stecken? Ich logge ins Intranet ein, doch der Zugang zur Besatzungsliste des abgestürzten Fluges ist gesperrt. Wieder klingelt das Telefon. Es ist eine Freundin, die sich nach mir erkundigt. Sie hat vom Absturz gehört und beginnt, als sie meine Stimme hört, vor Erleichterung zu schluchzen. Das Telefon wird an diesem Tag noch viele Male läuten.

Franziska kommt ins Wohnzimmer und setzt sich, wie in Trance, zu mir. Fassungslos starren wir auf den Bildschirm und folgen einer Berichterstattung, die wenig Hoffnung lässt. Spekulationen und Fragen wechseln mit Momenten des Schweigens. Leider holen unsere Mutmassungen über die Ereignisse dieser Nacht die Toten nicht mehr ins Leben zurück.

Das war vor zwölf Jahren. Mittlerweile ist viel passiert. Nie hätte ich an jenem Morgen gedacht, dass dieser Absturz der Beginn einer Ereigniskette sein könnte, die uns dereinst vom Zürcher Unterland in die Arabische Wüste vertreibt. Geschweige denn, dass die Swissair, unser aller Stolz, in wenigen Jahren einen Kollaps erleiden und in ihrem vollen Flottenumfang am Boden stehen würde.

Wie hinter dumpfem Milchglas verschwimmen die Erinnerungen an den langsamen Untergang der Swissair. Dazu zählt der MD11-Absturz von Halifax ebenso wie die Al-Kaida-Anschläge auf die USA vom September 2001. In Manhattan implodieren die beiden Türme des New Yorker World Trade Centers, und mit ihnen auch das Selbstverständnis der US-Politik und der Weltwirtschaft. Zumindest für kurze Zeit.

Auch an diesem frühen Nachmittag des 11. September ist es unsere Nachbarin Bettina, die mich mit aufgeregter Stimme auffordert, den Fernseher einzuschalten. In New York sei ein Sportflugzeug in einen der beiden Zwillingstürme gerast. Die gezeigten Bilder verwirren und erschrecken zugleich. «Diese monumentale schwarze Rauchsäule, das kann kein Sportflugzeug sein», denke ich. Dann donnert die zweite Maschine ins Wahrzeichen des New Yorker Finanzdistrikts. Ich glaube nicht, was ich sehe! Am helllichten Tag und vor den Augen der ganzen Welt – ein Passagierflugzeug, das, scheinbar kontrolliert, in den Südturm des World Trade Centers rast.

Der Fernseher läuft den ganzen Tag, die Berichterstattung hält mich in ihrem Bann. Am Abend treffe ich mich mit Mario, einem Pilotenfreund, zum Eishockeyspiel der Kloten Flyers.

Doch das Geschehen auf dem Eis ist Nebensache. Gemeinsam versuchen wir, die Ereignisse dieses Tages einzuordnen, zu begreifen und auf unsere Weise zu verarbeiten. Welche Folgen der jüngste Terroranschlag für die Swissair und die Fliegerei insgesamt haben wird, darüber können wir nur mutmassen. Die zivile Luftfahrt wird sich verändern. Das Ausmass ist uns an diesem Abend allerdings noch keineswegs bewusst.

Bevor das Eishockeyspiel beginnt, verliest der Stadionsprecher eine Erklärung, in der die Verantwortlichen des Clubs diesen terroristischen Akt hart verurteilen. Dann wird der Puck eingeworfen.

Die Flyers erweisen sich als Überflieger und besiegen die Gäs­te aus Langnau mit 6:2. Im Gegensatz dazu stehen die Vorzeichen für ihren Hauptsponsor nicht mehr so günstig: Die Luft unter den Flügeln der Swissair ist mit einem Mal erschreckend dünn geworden. Der Sprit sollte nicht einmal mehr für eine kontrollierte Notlandung reichen.

Der 2. Oktober 2001 ist ein herrlicher Spätsommertag. Ich bin in besonderer Mission auf dem Zürichsee unterwegs. Unser Sohn Tim weilt in Uerikon im Klassenlager; sein Lehrer hat mich gebeten, die Fünftklässler auf dem Wasserweg nach Rapperswil zu überführen. Da unser Boot über eher bescheidene Dimensionen verfügt und nicht einmal als Rettungsgondel auf der Titanic durchgegangen wäre, muss ich die Schüler in mehreren Fahrten übersetzen. Der See ist an diesem Dienstagmorgen wenig frequentiert, die Oberfläche spiegelglatt. Wesentlich aufgewühlter dagegen fühlt sich mein Innenleben an. Die Gedanken kreisen unentwegt um die Pressekonferenz des Vorabends, an der die Bankenchefs von UBS und CS, zusammen mit Mario Corti, André Dose und Moritz Suter, über die Zukunft der Swissair informierten. Es fällt mir schwer, die Konsequenzen der teilweise kontroversen Äusserungen abzuschätzen. Nicht zuletzt deswegen, weil mein Vertrauen in gewisse Herren, denen die Hidden Agenda aus der zu klein gewordenen, schlecht sitzenden Jackentasche quillt, massiv angeschlagen ist.

Selbst mit der geschliffensten Rhetorik gelingt es ihnen kaum noch, ihr tückisches Spiel zu verbergen.

Während ich im Hafen von Rapperswil, beim Warten auf den Startschuss zum Klassentransport, den Bug meines Privatkreuzers poliere, reisst mich das Klingeln des Handys aus meinen Grübeleien. Das Display zeigt die Nummer meines Bruders Urs, der sich beruflich im engen Umfeld des Schweizer Fern­sehens bewegt.

«Soeben wurde in London eine Swissair-Maschine am Wegflug gehindert», lässt er mich wissen. «Das gleiche Schicksal dürfte auch anderen Flugzeugen widerfahren, offenbar kann die Swissair den Sprit nicht mehr bezahlen.»

Ich bin erstaunt. Von blockierten Flugzeugen war gestern an der Pressekonferenz nie die Rede. Die Schilderung meines Bruders sowie seine düstere Prognose versetzen – trotz niederen Wellengangs – mein berufliches Selbstverständnis ins Wanken.

«Meine Airline, am Rande des Abgrunds!»

Was geht wohl in diesem Moment in den Schaltzentralen am Balsberg ab? Ich stelle mir vor, wie sich «Supermario» und sein Team mit letzter Energie gegen die Übermacht der Gegner stemmen. Zu stemmen versuchen! Doch wie lange würden die Mittel noch ausreichen? Mich beschleicht ein dumpfes Gefühl. Es scheint, als drehe jemand dem angeschlagenen Vogel langsam den lebenswichtigen Sauerstoff zu. Und ich werde den Eindruck nicht los, als hätte bereits jemand die Grube geschaufelt, in der man den Riesenvogel nach seinen letzten Zuckungen vergraben und endgültig aus dieser Welt schaffen möchte.

Nachdem ich sämtliche Schüler am Ziel abgesetzt habe, fahre ich zügig nach Hause und setze mich sogleich vor den Fernseher. Im Verlauf der folgenden Stunden zappe ich mich durch die Berichterstattung auf allen möglichen Schweizer Kanälen. Die Aussagen sind wirr, lückenhaft, widersprüchlich. Staunend und ungläubig nehme ich zur Kenntnis, was sich an diesem Nachmittag in Kloten abspielt. Plötzlich wird mir das Ganze zu viel. Ich springe vom Sofa, suche die Nummer des Generalimporteurs einer bekannten deutschen Automarke und greife zum Telefon. Ob sie sich vorstellen könnten, einen 44-jährigen Piloten, flexibel, interessiert und vielseitig einsetzbar, in ihrem Betrieb zu beschäftigen?, frage ich. Den Namen meines Arbeitgebers lasse ich bewusst weg, obwohl dies kaum nötig gewesen wäre. Die Dame antwortet so freundlich wie spontan: «Das können wir uns grundsätzlich schon, allerdings nicht zum gleichen Salär, wie Sie das gewohnt sind.»

Ich spüre zunehmende Machtlosigkeit. Wieder vor dem Fernseher, realisiere ich nach und nach, wie das Kartenhaus unweigerlich in sich zusammenfällt. An Details kann ich mich nicht mehr erinnern, ich habe sie wohl verdrängt. Irgendwann folgt der Todesstoss: Aus finanziellen Gründen ist die Swissair nicht mehr in der Lage, ihre Flüge durchzuführen … Das war’s dann wohl. Schluss. Aus. Ende der Durchsage.

 

Narrenfreiheit – kollektive Unzufriedenheit

Dem Grounding folgen turbulente Zeiten. Zwischen stillen Protestaktionen mit Gleichgesinnten, am Flughafen und vor den grossen Bankenhäusern der Stadt Zürich, suche ich, gemeinsam mit meiner Frau Franziska, nach beruflichen Alternativen. Als Vater von drei Kindern mag ich nicht bloss hoffen und warten.

Irgendwann landet ein Video der Schweizer Schule in Singapur auf unserem Küchentisch. Auch in Singapur fliegen Schweizer Piloten. Doch die Begeisterung der Familie, insbesondere die der Kinder, hält sich in Grenzen.

Der Pilotenverband AEROPERS indes organisiert regelmäs­sig Versammlungen, zu denen auch Partnerinnen und Ehefrauen eingeladen sind. Solidarität ist gefragt wie nie zuvor. Materielle Ängste und Zukunftssorgen plagen sämtliche Swiss­air-Angestellten in hohem Masse. Wir hoffen auf den Rettungsring von Wirtschaft und Politik, allein, es fehlen Mut und Entschlossenheit zum Wurf. Aus heutiger Sicht betrachtet, mutet das damalige Ringen um Finanzhilfe geradezu lächerlich an. Die nationale Airline, die mit ihrem hervorragenden interna­tionalen Renommee ein exklusives Netz schweizerischer Tugenden um unseren Globus gesponnen hat, lässt man qualvoll zugrunde gehen. Ein allfälliger Reputationsverlust spielt keine Rolle.

Viele verlassen das sinkende Schiff, nicht alle tun dies freiwillig. Die Erleichterung der Bleibenden mischt sich mit Skepsis. Der viel beschworene Phönix steigt aus der Asche, räkelt sich im grellen Sonnenlicht, um alsbald schon in einen bedrohlichen Sturzflug überzugehen. Die Führung der neuen Airline agiert unsicher. Es fehlt ihr zweifellos an Erfahrung. Die vormaligen Manager der Crossair stapfen unvermittelt in grösseren Schuhen durch die Hallen des Zürcher Flughafens. Allerdings ohne dass ihre Füsse entsprechend gewachsen wären. Keine politische Instanz gebietet dem weiterhin raschen Abfluss wertvoller Geldmittel Einhalt.

Aus der heutigen Perspektive erstaunt mich allerdings weit mehr, dass niemand aus dieser Geschichte gelernt hat. Denn keine zehn Jahre später sind es die Bankinstitute selber, die am Abgrund stehen. Aus den Königen sind Bettler geworden – ein Stoff, bei dem die Gebrüder Grimm vor Wonne in die Hände geklatscht hätten! Doch den Banken wird, anders als seinerzeit der serbelnden Swissair, grosszügig unter die Arme gegriffen. Mehr noch, die Manager grosser Geldinstitute geniessen weiterhin Narrenfreiheit. Man lässt sie widerspruchslos gewähren. Ungeachtet der Tatsache, dass in diesen Fällen massiv höhere Rettungskredite als bei der Swissair zugesprochen wurden.

Jene Banker, die sich im Herbst 2001 über Ethik und Fairness hinwegsetzten und anschliessend – ohne mit der Wimper zu zucken – vor laufender Kamera andere brandmarkten, verrichten ihre Geschäfte auch heute noch ungestraft. Zwar deutet sich in politischen Kreisen zunehmender Missmut über die unangetastete Narrenfreiheit in dieser Branche an, doch die Veranlassung, dem munteren Treiben Einhalt zu gebieten, fehlt schlichtweg.

All animals are equal, but some animals are more equal than others.

Dass die Swiss in ihren ersten beiden Jahren überlebt, ist keine Selbstverständlichkeit. Noch weniger, dass sie sich, kaum auf eigenen Beinen stehend, zu einer bedeutungsvollen Stütze im Rahmen des Lufthansa Konglomerats mausert.

Viele sind nach dem Zusammenbruch der Swissair dankbar, weiter in der Fliegerei beschäftigt zu bleiben. Ich bin einer von ihnen! Dankbar, meinen Arbeitsplatz im Cockpit behalten zu können. Doch die Identifikation mit dem neuen Arbeitgeber ist nicht vorhanden. Die Swiss ist Arbeitgeber, die Swissair war Berufung.

Die Schweizer Luftfahrt hat im Verlauf der vergangenen Dekade zahlreiche persönliche Schicksale gefordert. Sie hat aber, so abgedroschen dies klingen mag, auch unendlich viele bis anhin verschlossene Türen geöffnet. Ehemalige Swissair-Angestellte sind ausgeflogen in alle Welt. Sie haben die Branche gewechselt, innovative Herausforderungen angepackt, neue Karrieren lanciert. Mit unterschiedlichem Erfolg. Doch wer erkennt, dass kollektive Unzufriedenheit jeglichem Erfolgserlebnis abträglich ist, wird früher oder später handeln. Muss handeln. Mit einem kleinen Risiko zu scheitern, und einer beträchtlichen Chance zu gewinnen.

Und genau aus diesem Grund habe ich mich im Sommer 2005, knapp vier Jahre nach dem Grounding, dazu bewegen lassen, ein interessantes Angebot aus den Vereinigten Arabischen Emiraten näher zu prüfen. Die aufstrebende «Etihad Airways» hat noch keine zwei Jahre auf dem Buckel. Die Rahmenbedingungen klingen vielversprechend, derweil die Swiss – man höre und staune – mit einer befristeten Rückkehroption für das beruhigende Auffangnetz sorgt.

Franziska macht aus ihrer Begeisterung für ein mehrjähriges Wüstenabenteuer kein Hehl. In mir dagegen wehrt sich etwas. Ich fühle mich hin- und hergerissen. Angetan vom Reiz des Neuen, Unbekannten, gleichzeitig bestrebt, unsere materielle und soziale Sicherheit nicht zu gefährden. Die Wahl zwischen der Integriertheit im vertrauten Umfeld und der Oberflächlichkeit des Expatlebens, zwischen Swiss und Etihad, kurz – zwischen Heimat und Neuland – fällt mir alles andere als leicht.

Die nächsten Tage und Wochen steigern sich unwillkürlich zum Wettlauf der Zeit und der Emotionen. Nicht wenige Male arten die unzähligen Diskussionsrunden am Familientisch in hitzige Wortgefechte, mitunter in Tränen des Protests aus. Franziska scheint entschlossen, doch weder die Kinder noch ich tun sich leicht. Tim, der Älteste, sieht seine Eishockeykarriere wortwörtlich im Sand verlaufen, Linda will auf keinen Fall aufs Unihockey verzichten und Nina, die Jüngste, möchte unseren Hund Cicchi nach Abu Dhabi mitnehmen. Hinzu kommt, dass auch Geschwister, Eltern und Freunde unsere Pläne skeptisch kommentieren. Wir stehen vor einer Entscheidung, deren Konsequenzen schwer einzuschätzen sind. Schweiz oder Vereinigte Arabische Emirate? Alltagstrott oder Abenteuer? Berge oder Wüste?

Ich fühle mich so unentschlossen wie selten zuvor.

Sieben Monate später, Mai 2006

Mein Koffer liegt offen auf dem Boden des Schlafzimmers. In seinem Innern willkürlich zusammengewürfelte T-Shirts, Pullover und Jeans. Am Samstag fliege ich nach Abu Dhabi. Nicht als arbeitendes Mitglied einer Besatzung, auch nicht für eine Ferienreise. Diese Mission könnte etwas länger dauern. Wir wandern aus in die Arabische Wüste. Für unbestimmte Zeit. Wir, das sind die Eltern Dieter und Franziska sowie die Kinder Tim, Linda und Nina. Letztere werden jedoch erst in drei Monaten in die Vereinigten Arabischen Emirate nachfolgen.

In diesem Moment des Aufbruchs, im Mai 2006, erhält die Packerei plötzlich einen völlig anderen Stellenwert. Die wenigen verbleibenden Freitage sollen dazu genutzt werden, die hintersten Winkel meiner Schränke und Schubladen zu entrümpeln. Die Frage nach mitnehmen oder entsorgen stellt sich bei jedem Griff in die Regale und erinnert mich an einen Versuch unseres Wirtschaftslehrers, das zweite Gossensche Gesetz anhand eines ähnlichen Kofferpack-Szenarios zu erklären. Das war vor dreissig Jahren. Mittlerweile haben sich einige Dinge geändert. Die beiden Gossenschen Gesetze allerdings sind gleich geblieben und haben mich über all die Pilotenjahre begleitet; beim Kofferpacken vor dem Flug wie auch beim Kompensieren des Feuchtigkeitsverlustes nach der Landung. Dass der erste Schluck Bier der beste ist, konnte ich mehrfach im erfolgreichen Selbstversuch erhärten.

Eigentlich will ich die letzten Tage in der Schweiz ruhig angehen, obwohl es noch so Vieles zu erledigen gilt: Administration, Briefe, Mails, Telefonate und zahlreiche Abschiedsbesuche. Der VW Lupo ist auch noch nicht verkauft. Meine Reisevorbereitungen wollen einfach nicht richtig vorwärtskommen. Ich trete an Ort. Franziska und den Kindern bleibt diesbezüglich mehr Luft, ihr Umzug ist erst im August geplant. Die Bürokratie verschlingt viel Zeit, gewisse Mühlen mahlen langsam, was übrigens in den Emiraten nicht besser sein soll. Auf meinen diversen Büro- und Ämtertouren ist oftmals Warten oder Schlangestehen angesagt; beispielsweise beim Strassenverkehrsamt oder auf der Gemeindekanzlei. Mehr als einmal stelle ich mir die Frage nach der Verhältnismässigkeit unserer Familienexpedition, sich für unbestimmte Zeit aus der Schweiz zu verabschieden. Eine fünfköpfige Familie mit ihren beruflichen und schulischen Verpflichtungen, mit vielfältigen sozialen Verknüpfungen und noch vielfältigeren individuellen Interessen, lässt sich nicht so leicht versetzen wie das junge Apfelbäumchen im Ziergarten. Doch wir haben uns zu einer helvetisch-demokratischen Entscheidung durchgerungen. Wie gesagt, nach unzähligen Disputen und heftigen Debatten im Ehebett und am Familientisch. Franziska tendiert dabei beinahe schon energisch für den Aufbruch in den Orient. Nach acht Jahren Primarschulpflege befindet sie sich in einer Phase der Neuorientierung. Sie ist offen für einen Wechsel und entwickelt sich zur treibenden Kraft, beseelt vom Wunsch, diese einmalige Chance zu packen und das Familienleben für einige Jahre ins Ausland zu verlagern. Mir aber gefällt meine Arbeit bei der Swiss nach wie vor. Die anfängliche Unzufriedenheit unter der neuen Swiss-Führung hat sich, seit der in Probleme geratene CEO Anfang 2004 abgesprungen ist, etwas gelegt. Ich sehe daher wenig Veranlassung, mein berufliches Umfeld zu ändern. Als Langstreckenpilot, Instruktor und Redaktionsleiter des Magazins unseres Pilotenverbandes AEROPERS rotiere ich in einer Dreifaltigkeit, die jegliche Langeweile im Keim erstickt. Erstaunlicherweise interessieren sich neben mir nur sehr wenige Arbeitskollegen für dieses Angebot, das allen Kapitänen unter fünfzig offensteht. Ob ich wohl einen Haken übersehen habe?

Ankunft

Am 20. Mai 2006 besteigen Toni und ich in Genf gemeinsam einen Airbus A330 der Etihad Airways. Unser Ziel ist Abu Dhabi. Mit Toni verbindet mich eine Freundschaft, die in den Anfängen unserer Swissair-Laufbahn wurzelt. Im Jahre 1979 durchliefen wir gemeinsam denselben Lehrgang an der damaligen Schweizerischen Luftverkehrsschule SLS. Zu jener Zeit herrschten paradiesische Zustände. Angehende Linienpiloten wurden nicht nur sorgfältig ausgebildet, sondern sogar entlöhnt. Heute hat sich dieses Richtmass geändert. Wer nicht selbst in den Geldbeutel greift, setzt sich gar nicht erst auf die Schulbank.

Mit Toni habe ich im Verlauf der vergangenen drei Dekaden unzählige Schul- und Hotelzimmer auf beiden Seiten des Nordatlantiks geteilt. Ein beruflicher Höhepunkt bildete im Herbst 1988 die gemeinsame Umschulung auf die Boeing B747 – den «Jumbo». Nach sieben Jahren als Copilot auf der Kurzstrecke waren wir damals reif für den Sprung auf die Langstrecke. Beim Landetraining malträtierten wir irischen Boden, kurvten in weiten Schleifen um Shannon. Zur Entspannung gab’s Ausflüge zu den Cliffs of Moher und Tee und Biskuits auf Dromoland Castle.

Der neue Arbeitsplatz auf achteinhalb Metern Cockpit-Höhe versprach spannende, exotische Destinationen. Sand zwischen den Zehen und Salzkruste auf der Haut. Theatervergnügen am Broadway oder Tikka Makkhanwala am Gangesdelta.

Toni und ich bestritten auch manch gemeinsamen privaten Höhenflug. Nach einem turbulenten Junggesellenjahr lernten wir 1984 innert weniger Monate unsere Frauen kennen. Wir walteten gegenseitig als Trauzeugen und das Glück bestätigt unsere Wahl. Den Scheidungsrichter haben wir bislang ebenso elegant umflogen wie Hunderte von Gewittertürmen auf den Luftstrassen dieser Welt. Jetzt also starten wir auch das Wüs­ten­abenteuer gemeinsam.

Dieser Toni ist es, mit dem ich am regnerischen 20. Mai vom Zürcher Unterland nach Genf fahre, um dort die Maschine Richtung Abu Dhabi zu besteigen. Die hätten wir zwar beinahe verpasst, denn Toni lässt sich auf dem Parkplatz des Flughafens für die Verabschiedung von seiner Frau Andrea ausgiebig Zeit. Am frühen Morgen noch, als ich mit feuchten Augen vor unserem Haus seinen Wagen besteige, empfängt er mich mit breitem Grinsen. Franziska und Linda sind zu meiner Verabschiedung aufgestanden und winken unter der Haustür, während Tim und Nina die Angelegenheit locker angehen und ungeniert weiterschlafen. Die Trennung fällt mir an jenem Morgen schwer. Als Toni den Wagen wendet und aufs Gaspedal tritt, ist mir, als fahren wir in einen langen dunklen Tunnel.

Dass nun offenbar auch Toni mit Abschiedsschmerz kämpft, belustigt mich. Er kämpft so sehr, dass die Zeit langsam knapp wird. Ich spiele ungeduldig mit meiner leeren Kaffeetasse im Flughafenrestaurant. Als er schliesslich hastigen Schrittes bei der Rolltreppe auftaucht, sind seine Augen mindestens so glasig wie die meinen bei der Abfahrt in Stadel. Und jetzt ist es an mir, unflätig zu grinsen. Toni dagegen bleiben die Sprüche im Hals stecken. Das Essen im Flugzeug übrigens auch, was mir unverhofft ein zusätzliches Dessert beschert.

 

Nach sechs Stunden und zehn Minuten setzt die Maschine pünktlich auf der Landepiste von Abu Dhabi auf. Als die Maschine zum Standplatz rollt, spähen wir angestrengt durchs Fens­ter. Auf dem Vorfeld scheint nicht viel los zu sein, wir nehmen nur wenige Lichter wahr. Toni und ich blicken uns wortlos an.

Als wir das Terminal betreten, eröffnet sich uns sogleich eine komplett neue Welt. Die runde Ankunftshalle verströmt mit ihrer bunt gekachelten Kuppe einen orientalischen Charme der ganz besonderen Art. Emiratis, vorwiegend Männer, in schneeweissen Kandooras, alle mit Handys «bewaffnet», schreiten gemächlich zwischen vorbeieilenden indischen und pakistanischen Fremdarbeitern durch das Gebäude. Wir begeben uns nicht direkt zur Passkontrolle, sondern machen uns auf die Suche nach jenem Schalter, an dem wir unser «Temporary Visum» fassen sollen. Der erste Anlauf misslingt, wir werden an eine andere Stelle verwiesen. Doch auch diese Dame scheint nicht im Besitz der für uns deponierten Dokumente zu sein. Wirkt alles ein bisschen unorganisiert.

Der Orient ist gross, ein bisschen Schlamperei versinkt in seinem geräumigen Busen und stört niemanden ausser den kritteligen Europäer, sagt ein Sprichwort.

Ob dies wohl ein erster Vorgeschmack darauf ist, was uns in den Arabischen Emiraten noch erwartet? Das Bewusstsein, für drei Monate von Franziska und den Kindern getrennt zu leben, bedrückt mich schon jetzt. Ich fühle mich hin- und hergerissen. Einerseits wartet in Abu Dhabi eine neue, weitgehend unbekannte Firma auf mich, mehr noch aber beschäftigt mich die Tatsache, dass ich meine Familie während der anstehenden Vorbereitungen für die Auswanderung nicht unterstützen kann. Immerhin gilt es, ein Haus zu räumen, in dem sich Erinnerungen der vergangenen neunzehn Jahre angesammelt haben. Zukünftig wird der 330 Jahre alte Riegelbau von einer vier­köpfigen WG bewohnt. Neues Leben in alten Räumen. In wenigen Wochen wird ein Laster vorfahren, in den ein Grossteil unserer Möbel, Kleider, Bücher und diverse persönliche Habseligkeiten für die Überführung nach Abu Dhabi verladen werden.

Für Ferien und Kurzbesuche in der Schweiz haben wir uns ein kleines, gemütliches «Nest» eingerichtet: Eine Dachwohnung im Diemtigtal, die wir erst vor wenigen Monaten gekauft und aufgefrischt haben. Mit der engagierten Hilfe von ­Franziskas Vater, der in unzähligen Stunden Laminatböden, Gipswände und Küchenelemente montierte, wurden die Räume unseren Bedürfnissen angepasst. Mit dem Ziel, möglichst viel Platz für jene Utensilien zu schaffen, die wir in der Heimat zurücklassen.

Dynamische Expansion, gemächlicher Schulbetrieb

Bereits am Tag nach unserer Ankunft in Abu Dhabi beginnt der Einführungskurs für Etihad-Piloten. Morgens um acht ist die erste Theoriestunde angesagt. Doch das von Etihad organisierte Taxi erscheint mit viel Verspätung, sodass sich der Start unseres Unterrichts um nahezu zwei Stunden verzögert. Dies scheint jedoch – ausser uns Schweizern – kaum jemand zu kümmern.

Eifrig füllen wir den ganzen Tag Formulare aus, tragen Daten zusammen und erstellen persönliche Flugstundenstatistiken. Unsere Gruppe besteht aus drei Schweizern (für einmal sind wir in der Überzahl), einem Zyprer, einem Engländer und zwei Jordaniern. Am Nachmittag erfolgt bereits die Anprobe der Uniform, wobei sich der Schneider nicht zu schade ist, ins Hotel zu kommen, um unsere internationalen Körpermasse individuell aufzunehmen.

Der «Change of Operator»-Kurs soll uns für die lokalen und operationellen Vorgaben des neuen Arbeitgebers trimmen. Auf dem Stundenplan findet sich eine Vielzahl von Fächern. Wir werfen einen Blick in die Etihad-Bordapotheke, befassen uns mit gefährlichen Transportgütern, diversen Flugzeugsystemen, lokaler Fluggesetzgebung oder erfahren mehr über die Safety-Abteilung. Ausserdem besprechen wir zusammen mit neuen Flight Attendants Notfallverfahren und erhalten Anleitungen zur effizienten Crew-Kommunikation. Kein leichtes Unterfangen, bei einer Vielfalt von über hundert Nationen, die Etihad derzeit beschäftigt.

Ein Instruktor erläutert lokale Sitten und Bräuche, weist uns an, beim Betreten eines arabischen Hauses die Schuhe auszuziehen: «Wenn ihr auf einer Matratze Platz nehmt, achtet darauf, niemals eure Fusssohlen zu zeigen. Dies wird als äusserst unhöflich erachtet. Gleiches gilt, wenn ihr die Beine übereinanderschlagt und die Sohle gegen einen Araber oder eine Araberin richtet.»

Toni und ich werfen uns abwechselnd amüsierte Blicke zu. Mittlerweile achte ich jedoch selbst ausserhalb der Emirate auf meine Sitzposition. Und ich bemühe mich, meinen Mitmenschen andere Körperteile als die Füsse entgegenzustrecken. Wie schnell man doch fremde Sitten und Bräuche annimmt!

Die Lektionen finden in einem Schulhaus statt, das erst kürzlich bezogen wurde. Der Bau ist so temporär wie neu. An einem modernen, imposanten Komplex wird bereits mit Hochdruck gearbeitet. Er dürfte in etwa einem Jahr, zusammen mit einem grosszügigen Hauptsitz, bezugsbereit sein.

Die Ausbildungsrate ist beeindruckend. Pro Woche starten drei Kurse für Flight Attendants zu je fünfzehn Kandidatinnen oder Kandidaten, die auf der ganzen Welt rekrutiert werden. Die improvisierte Kantine platzt aus allen Nähten, in den Gängen wird rege zirkuliert und diskutiert. Ein Sprachengewirr sondergleichen. Arabisch und Englisch dominieren. Im Moment arbeiten in der Kabine sage und schreibe achtundachtzig Nationali­täten, bei den Cockpitbesatzungen sind es «lediglich» vierzig. Hier ist jeder und jede einheimisch und fremd zugleich. Etihad beschäftigt derzeit rund tausendfünfhundert Flight Attendants – in einem Jahr werden es doppelt so viele sein.

Aufbruchstimmung an allen Ecken und Enden. Die Firma expandiert rasant, die Ziele sind hochgesteckt, die Mitarbeiter motiviert. Nach dreissig Monaten umfasst das Streckennetz der jungen Airline bereits ebenso viele Destinationen. Eine stolze Leistung!

Unser Schulbetrieb hingegen plätschert eher gemächlich dahin. Anders als in der Schweiz sind Jeans und T-Shirt verpönt. Krawatte ist Pflicht, ebenso wie die Bundfaltenhose – selbst bei 40 Grad Hitze und einer Luftfeuchtigkeit von 98 Prozent.

Ich bin beeindruckt von den vermittelten Kurs-Inhalten. Und überrascht über die Tatsache, wie seriös und strukturiert die junge Fluggesellschaft einzelne Ausbildungsbereiche angeht. Fünfundzwanzig Jahre Fliegerei bei derselben Firma mögen mich mitunter verblendet haben. Hier nun realisiere ich gleich in mehrfacher Hinsicht, dass oftmals verschiedene Wege nach Rom führen.

Heiss, heisser – aber nicht über 50 Grad

Die Tage vergehen wie im Flug. Es ist erstaunlich, wie schnell man sich an den Charakter einer neuen Umgebung gewöhnt. Unsere erste Bleibe, das erst vor drei Monaten eröffnete Vision Hotel, liegt an zentraler Lage in unmittelbarer Nähe der «Corniche». Eine Bezeichnung, mit der viele arabische Städte mit Meeresanschluss ihre Küstenmeile benennen. Die breit angelegte, grün gesäumte Strasse trennt die ersten Hochhauszeilen vom Ufer des Arabischen Golfes. Abu Dhabi trägt seinen Reichtum völlig selbstverständlich zur Schau. Insbesondere vor den internationalen Hotels zeugen hochglanzpolierte Luxusautos von üppigem Wohlstand. Einmaligkeit ist die Regel, Bescheidenheit ein Fremdwort.