Blindflug Abu Dhabi

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Kein Aprilscherz! Und keine «Versteckte Kamera». Es scheint den Kollegen ernst zu sein. Alkoholkontrollen werden bei Etihad zwar regelmässig durchgeführt, doch bin ich bis anhin stets verschont geblieben.

Müde und lustlos macht sich die Besatzung nach der Landung gemeinsam auf den Weg zur Passkontrolle und anschliessend zum Gepäckband, wo wir unsere Koffer in Empfang nehmen. Als wir den Zoll passieren wollen, fallen mir die ungewöhnlich vielen Beamten auf. Offenbar kein Zufall, denn rasch wird klar, dass die uniformierten Damen und Herren auf uns warten. Wir werden alle in einen Nebenraum geführt und aufgefordert, unsere Gepäckstücke zu öffnen. Bei der folgenden Inspektion wühlen und schnüffeln die Zöllner und Zöllnerinnen, als stünde ihre Berufslizenz auf dem Spiel: Jeweils ein Beamter pro Crew Member durchsucht minutiös jedes einzelne Wäschestück (sauber oder ungewaschen), öffnet sämtliche Reissverschlüsse, Kosmetika und Shampooflaschen. Wühlt in Einkaufstaschen, leert Necessaires und blättert in Büchern und Zeitschriften. Neugierige Nasen riechen an Teebeuteln, Ovopackungen und allfällig noch vorhandenen Fertig-Nudelsuppen. Die vielen emsig suchenden Zollbeamten wirken wie aufgeregte Kinder, die am Dreikönigstag im Brötchenteig nach der versteckten Königsfigur suchen. Jedes Besatzungsmitglied muss die rund viertelstündige individuelle Prozedur über sich ergehen lassen. Ich nehme mein Handy und rufe die Kollegen vom Operations Control Center an, um den Grund dieser Aufwartung zu erfahren. Eine befriedigende Auskunft bleibt aus.

Plötzlich erkenne ich im Getümmel zwei Kabinenchefs und einen Vertreter der hauseigenen Sicherheitsabteilung. Ihre Erklärung, dass aufgrund vorliegender Informationen gezielt nach verbotenen Substanzen gesucht würde, lässt uns nicht unbedingt aufatmen. Nun verstehen wir auch die Aufforderung zum Alkoholtest. Die Unruhe in der Besatzung wächst von Minute zu Minute. Die Gesichter verraten Anspannung, verängstigte Blicke machen die Runde.

Wenig später wird der Verdacht zur Gewissheit. Unser beim Pick-up in New York vermisster Kollege verfügt scheinbar nicht über eine blütenweisse Weste. In einer Socke in seinem Gepäck wird eine geringe Menge Marihuana gefunden. Die Falle schnappt unerbittlich zu. Mir ist noch immer nicht klar, über welche Kanäle die Informationen nach Abu Dhabi gelangt sind. Ich werde es auch nie erfahren. Auf jeden Fall, so gestehen mir die Sicherheitsverantwortlichen der Airline nach der Überprüfung, wären sie über den Ausflug des Stewards nach Denver im Bilde gewesen. Da hat der grosse Bruder aber ganz akkurat observiert.

Nach kurzen, heftigen Diskussionen wird der Überführte vor unseren Augen aus dem Raum geführt. Die Alkoholkontrolle wird uns erlassen, die Beamten haben gefunden, was sie suchten.

Ich bleibe, bis auch das letzte Besatzungsmitglied kontrolliert worden ist. Ich will wissen, was mit dem Strafbaren passiert, worauf ich von einem Offizier schulterzuckend zur Antwort erhalte, dass der Täter für vier Jahre ins Gefängnis wandere und bereits morgen seine Strafe antreten müsse. Das Gesetz spricht in diesem Fall eine unmissverständliche Sprache. Ausnahmslos. Wir alle wissen darum, und dennoch erschreckt mich dieses Erlebnis. Mir tut der junge Mann leid, obwohl mir bewusst ist, dass sein Verhalten dumm und naiv war. Doch die Regeln sind klar. Pardon darf in diesem Fall niemand erwarten.

Von Bangladesch nach Berlin

Am Donnerstag früh, beim Morgengrauen, landen wir in Dhaka. Der Flug war kurz, dauerte nicht einmal vier Stunden. Der Flugplan notierte eine durchschnittliche Rückenwindkomponente von 83 Knoten. Die Monsunregen am Gangesdelta haben sich unlängst verzogen und sind den hartnäckigen Morgennebeln gewichen. Wer glaubt, nur die Zürcher Unterländer hätten die Nebelsuppe auszulöffeln, irrt. Auch in der Hauptstadt von Bangladesh ziehen um diese Jahreszeit jeden Morgen feine Nebelschwaden auf. Allerdings nicht so dicht, wie wir es in der Schweiz gewohnt sind.

Bei unserer Landung um sieben Uhr beträgt die Temperatur lediglich 13 Grad und es herrscht eine Sichtweite von 1200 Metern. Das erlaubt immerhin einen Anflug. Das Instrumentenlandesystem auf dem Zia International Airport verlangt eine minimale Sicht von 800 Metern. Viel Reserve bleibt also nicht, umso mehr, als dass wir gegen die aufgehende Sonne anfliegen und unangenehm geblendet werden.

Erst unmittelbar vor dem Aufsetzen tauchen wir ins Grau des tief liegenden Wolkenteppichs. Der Nebel schluckt das grelle Licht. Als wir kurz darauf die Landepiste sichten, weicht die Spannung im Cockpit einer spürbaren Erleichterung.

Willkommen in Dhaka, welcome to Bangladesh.

Beim Verlassen der Piste rollen wir an einem unmittelbar am «Taxiway» liegenden kleinen Weiher vorbei, in dem Einheimische ihre Morgentoilette verrichten. Noch gibt es hier keine Stacheldrahtzäune oder Mauern, die den Flughafen gegen aussen abschirmen.

Die Fahrt mit zwei Kleinbussen durch den Morgenverkehr ins Hotel ist wahrhaftig ein Erlebnis. Als zivilisierter Europäer kann man sich derartige Strassenverhältnisse kaum vorstellen. Die Autos drängen – Karosserie an Karosserie – Richtung Stadt. Ein Kampf um jeden Zentimeter auf Biegen und Brechen. Die klapprigen Busse sind vollgepfercht, teilweise hängen die zuletzt eingestiegenen Gäste förmlich im offenen Türrahmen. Kleider und Haare flattern im Fahrtwind. Besonders mutig scheinen die Fahr- und Motorradfahrer. Sie schlängeln sich durch die Masse der wartenden und hupenden Autos, in der Hoffnung, lange Stauzeiten zu umgehen. Die Qualität der Fahrzeuge ist bedenklich. Jeder Prüfexperte eines kantonalen Strassenverkehrsamtes wäre bei diesem Anblick paralysiert – mögliche Langzeitschäden nicht auszuschliessen! Unsere Hotelanlage zu verlassen und in die Stadt zu fahren wäre schlichtweg verantwortungslos. Die politische Situation ist derzeit äusserst heikel. Sogar unser Flight Attendant aus Dhaka warnt die Besatzung und bittet mich auf dem Hinflug persönlich, der Crew von Ausflügen irgendwelcher Art abzuraten. Im Januar sind Wahlen und täglich kommt es in den Strassen und auf öffentlichen Plätzen zu neuen Ausschreitungen und Kundgebungen. Gestern beispielsweise wurde das Auto eines Politikers in Brand gesetzt, vor wenigen Wochen kam es gar zu Schiessereien mit Toten. Ebenfalls wurde erst kürzlich ein Etihad Flight Attendant im Taxi von drei Männern überfallen, geschlagen und ausgeraubt.

Schade, ich erinnere mich an meinen letzten Dhaka-Aufenthalt vor einigen Wochen. Zu fünft schnappten wir uns an jenem Abend ein Taxi und fuhren in die Stadt. Der Gang durch die Strassen war ein Kampf. Zahlreiche Bettler und Kinder zerrten an den Kleidern und liessen uns kaum in Ruhe einen Schritt gehen. Mit grossen Augen wurden wir gemustert. An jeder Strassenecke roch es anders. Neue, ungewohnte Düfte; Sude, Dämpfe von Reis, Fisch und gebratenen Heuschrecken sowie scharfen Gewürzen liessen unsere Nasen auf wundersame Entdeckungsreise gehen.

Diesmal halte ich mich an die Empfehlungen und verbringe die drei Tage im Hotel. Das Radisson, eine wunderschöne, gepflegte Anlage, sozusagen eine Luxusinsel inmitten des wogenden Lärms einer Sechsmillionen-Stadt von totaler Armut, bietet dem Gast allerlei Annehmlichkeiten. Gegensätze, wie sie Flugbesatzungen und Reisende immer wieder antreffen. In dem kleinen Hotelladen im Untergeschoss werden DVD-Kopien verkauft, das Stück für 90 Thaka, oder umgerechnet rund zwei Franken! Die Auswahl ist riesig, die Qualität bemerkenswert.

Trotz dieses Videoangebots spiele ich jeden Tag mindestens eine Stunde Tennis. Der 25-jährige Tennislehrer ist aktueller Doppel-Champion des Landes. Wie immer man diesen Titel werten mag, ich bin auf jeden Fall chancenlos gegen ihn. Dabei stehe ich in Abu Dhabi mindestens drei bis viermal wöchentlich auf dem Tenniscourt unseres Compounds. Wolfgang Lachmair und Peter Lembach, zwei deutsche Ärzte und Freunde der ers­ten Abu Dhabi-Stunde, deren Kinder mit unseren Sprösslingen die Klassenzimmer teilen, erweisen sich als ideale Spielpartner. Nicht nur wegen ihrer unregelmässigen Arbeitszeiten.

Nach dem Tennis geht’s zur Massage. Für mindestens eine Stunde, bevor ich mich mit der Crew um sieben Uhr zum Abendessen am Buffet treffe. Zu unserer Runde zählt heute Copi Paul aus den Philippinen, vormals im Cockpit von Philippine Airlines-Maschinen tätig, Karina, unsere Cabin Managerin aus Indien, die früher für Kuwait Airways geflogen ist und Meriem, eine Hostess aus Algerien, die es direkt von der Uni zu Etihad gespült hat. Vier Sprachen, vier Kulturen an einem Tisch – ­Tagalog, Hindi, Französich-Arabisch und Deutsch. Dennoch verstehen und unterhalten wir uns bestens. So erlebe ich in diesen ersten Monaten Etihad immer wieder. Ein multikultureller Arbeitsalltag in ständig wechselnden sprachlichen und ethnischen Variationen! Ein Leben, das mir, Franziska und den Kindern mit jeder Woche besser gefällt und unser Dasein in jeglicher Hinsicht bereichert. Wäre da nicht die fühlbare Distanz der Emiratis, die uns bisweilen etwas nachdenklich stimmt. Zu gerne würden wir einen Blick hinter «die Mauern» dieser stets geheimnisvoll, nach aussen hin scheuen Menschen werfen und Kontakte knüpfen. Aber wer weiss, vielleicht benötigen sie einfach etwas mehr Zeit und Vertrauen als wir Europäer.

Heute fliegen wir zurück, landen in Abu Dhabi bereits eine halbe Stunde zu früh, um 16.25 Uhr. Viel Zeit zum Ausruhen bleibt mir jedoch nicht. Heimfahren, duschen, umziehen, dann geht’s gleich weiter ins Emirates Palace Hotel.

Zusammen mit einigen Deutschen, alle Eltern von Klassenkameraden unserer Kinder, besuchen Franziska und ich im Auditorium ein Konzert des Berliner Sinfonie-Orchesters. Das Hotel und die Gartenanlage erstrahlen in märchenhaftem Licht, dessen Farben in kurzen Abständen von Blau über Gelb in ein sanftes Rot wechseln. Tatsächlich versprüht jeder Winkel dieses Hotelpalasts eine Aura von Tausendundeiner Nacht. Zweifellos eine gebührende Bühne für die aus Deutschland angereisten Ins­trumentalisten.

 

Die heutige Veranstaltung steht im Rahmen der Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag der Vereinigten Arabischen Emirate. Gastgeber ist diesmal die Deutsche Botschaft. Wohl in der Absicht, die interkulturellen Beziehungen zu intensivieren. Auch wir intensivieren, nämlich in erster Linie, soziale Kontakte mit unseren nördlichen Nachbarn. Die Karten haben wir von einem deutschen Elternpaar erhalten, ein offizieller Verkauf fand nicht statt. So gesehen solidarisiere ich mich mit meinen Swiss-Kollegen, deren Bande zum Mutterhaus mit Kranichsymbol ebenfalls immer enger werden.

Die unerträgliche Schwere der Arroganz

Da ahnt man nichts Böses, bringt am ersten Tag der angebrochenen Arbeitswoche die Kinder zur Schule, erledigt einige Besorgungen und fährt danach, trotz dichten Morgenverkehrs, bes­tens gelaunt zurück ins Haus am Stadtrand. Unterwegs kommt einem der Gedanke, man könnte vielleicht wieder einmal das Postfach leeren.

Gedacht, getan. Mit einem Stapel Briefumschläge unter dem Arm treffe ich wenig später im Al Qurm Compound ein. Zwischen Rechnungen und Einladungen zu Geburtstagsfeiern, bei denen längst das Altglas entsorgt worden ist (die Postwege sind nicht immer die schnellsten), sichte ich die neue Ausgabe der SkyNews.ch. Flüchtig blättere ich das farbige Luftfahrtmagazin durch und bleibe an einem Interview mit Moritz Suter hängen, der, in seiner Funktion als Verwaltungsratspräsident der Hello AG, offenbar nach wie vor mediales Interesse auslöst. Niemand kann mir verübeln, dass ich seine Aussagen nicht bis ins letzte Detail studiere, das Kapitel ist eigentlich abgehakt. Auf dem abgebildeten Foto lächelt der Befragte verschmitzt im karierten Hemd und mit der obligaten Zigarre in der Hand.

Ich überfliege die Fragen und bleibe an einem Kasten hängen, in dem sich Suter zu gewissen Stichwörtern äussert. Eines dieser Stichwörter lautet – wie könnte es anders sein – Swiss. Und wie ich Suters Äusserung lese, kommen mir doch beinahe der Morgenkaffee und sämtliche Glühweingläser des Chlausabends vom Vortag hoch. Seine Antwort lautet nämlich: «… wurde am 14. Februar 1975 unter dem Namen Business Flyers Basel AG gegründet, änderte am 24. November 1978 ihren Namen in Crossair und im März 2002 in Swiss Interna­tional Air Lines. Ich hoffe, sie wird erfolgreich weiter­existieren.»

Sind es Verblendung, Irrwahn oder Naivität, die den Guten zu dieser Aussage bringen?! Solches Getue könnte mir im fernen Abu Dhabi eigentlich egal sein, wäre da nicht eine weitere Passage des Gesprächs, die mich zusätzlich beunruhigt. Auf die Frage nämlich, ob er, Moritz Suter, sich noch in anderen ­aviatischen Feldern als der Hello AG bewege, erwähnt er diverse Verwaltungsratsmandate. Unter anderem die interessante Start-up Gesellschaft RAK Airways in Ras Al Khaimah, für die er unter dem Präsidenten Scheich Omar Bin Saqr Al-Qasimi als Vizepräsident amte.

Auch die Golfregion scheint demzufolge nicht vor ­Suters weitreichenden Beziehungen sicher zu sein. Mir wird er langsam unheimlich, dieser omnipräsente und selbstverliebte ­Airlinemagnat von Basel. Da sollte sich der besagte Scheich ernsthaft in Acht nehmen. Sein Emirat trat erst als siebtes und letztes den UAE bei. Das war im Jahr 1972. Es kann an dieser Stelle nicht ausgeschlossen werden, dass in den Geschichtsbüchern schon bald zu lesen sein wird, dass die Ursprünge von Ras Al Khaimah in der Schweiz lägen, wo am 14. Februar 1975 die Business Flyers Basel AG gegründet wurde. Von einem gewissen Scheich Moritz Bin Suter al Merian.

Jahressprünge und Weihnachtstief, Dezember 2006

«Guten Abend meine Damen und Herren, hier spricht Ihr ­Kapitän. Mein Name ist Dieter Eppler und es ist mir ein grosses Vergnügen, Sie heute Abend zu diesem historischen Flug an Bord begrüssen zu dürfen. Wir werden zwar nicht die Schallmauer durchbrechen, dafür aber – mit unserem Start in New York am 31. Dezember 2006 und der Landung in Abu Dhabi am 1. Januar 2007 – im wörtlichen Sinne zwischen den Jahren reisen. Ich hoffe, dass uns dieser Flug nicht nur sicher und pünktlich an unser geografisches Ziel, sondern ebenso in ein erfolgreiches und gesundes neues Jahr führen wird!»

Mit diesen Worten begrüsse ich am Abend des 31. Dezember unsere neununddreissig Passagiere des Fluges EY 504 vom New Yorker John F. Kennedy-Flughafen nach Abu Dhabi. Eigentlich hätten es zweiundneunzig sein sollen, doch uns wird mitgeteilt, dass die fehlenden Gäste im silvesterlichen Verkehrschaos von Manhattan stecken würden.

Wie auch immer. Es ist 22.00 Uhr Lokalzeit in New York. In Abu Dhabi schlafen Mann und Frau bereits tief, Jahreswechsel hin oder her, am Golf ticken die Uhren mit neun Stunden Vorsprung. Und auch in der Schweiz hat das neue Jahr bereits drei Stunden auf dem Buckel. Wieder einmal gehöre ich zu den sprichwörtlich Letzten, die jedoch gemäss überlieferter Redensart irgendwann die Ersten sein werden. Und ich muss nicht einmal lange darauf warten, denn im Gegensatz zu den Strassen in und um Manhattan sind die Rollwege des John F. Kennedy-Airport an diesem Abend völlig ausgestorben. Es herrscht eine Verkehrsleere, wie ich sie in achtzehn Jahren New York-Fliegerei noch nie erlebt habe. Wir stossen den A340-500 eine Viertelstunde vor der geplanten Zeit vom Gate zurück und rollen, nachdem wir die vier Triebwerke gestartet haben, ungehindert Richtung Startbahn 13R. Flüssig liest der jamaikanisch-kanadische Copi John die Checklistenpunkte. Auf den beiden Jumpseats hinter uns haben sich Captain Suraj aus Sri Lanka und Copi Julian aus Südafrika angeschnallt. Sie werden uns nach rund fünf Stunden Flugzeit, bis kurz vor dem Einleiten des Sinkflugs, ablösen. Für den Anflug und die Landung werden John und ich wieder das Kommando übernehmen. Der gesamte Flug dauert heute nur elf Stunden und fünfzig Minuten. Die Windgötter sind uns gnädig gesinnt.

Ob es Frau Holle wohl ebenso gut meint? Meine Familie hat sich vor einigen Tagen in die Schweiz abgesetzt, um die Festtage in der Ferienwohnung im Diemtigtal zu verbringen. Der Schnee ist zwar weder in Menge noch Konsistenz herausragend, doch für einige Schlittenpartien und einen Skitag am Wiriehorn reicht es allemal. Die neu renovierte Behausung besteht ihre Feuertaufe bestens und wird ihrem Zweck als heimatliche Zufluchtsstätte bei Wüstenpausen in jeder Hinsicht gerecht.

Während Frau und Kinder ihre Ferien geniessen, bleibe ich in Abu Dhabi und schlage mir diverse Nächte um die Ohren. Höhepunkt ist eine rekordverdächtige Power-Kombination über Weihnachten: Am 21. Dezember geht’s zum Aufwärmen nach Kuwait und zurück. Knappe 24 Stunden später nach London und in der darauffolgenden Nacht wieder nach Abu Dhabi, wo wir am Morgen des Heiligabends um sieben Uhr landen. Und damit ich nicht Gefahr laufe, in eine Weihnacht-allein-zu-­Hause-Depression zu fallen, bietet mich das Crew Control bereits eine Viertelstunde nach Mitternacht für eine weitere Nachtmission, diesmal nach Colombo, auf.

Bis zum Check-in versuche ich zu schlafen oder E-Mails zu schreiben. Ich taumle zwischen zirkadianem Tief und kommunikativem Hoch, habe jedoch, wen wundert’s, am Abend beim Anziehen meiner Uniform das Gefühl, völlig neben den Schuhen zu stehen. Das mag mitunter daran liegen, dass ich den Heiligen Abend mit Kerzenlicht, alten Fotoalben und stimmigen Weihnachtsliedern – allerdings nicht von mir selbst gesungen – verbringe. Das Kerzenwachs trieft förmlich aus Radio und Fernsehen, und auch meine verzweifelten Zapp-Attacken bringen kein Entrinnen aus dem christnächtlichen Liedertaumel. So pendelt meine Stimmung zwischen Melancholie und Sentimentalität, was ich seltsamerweise zu geniessen scheine. Die Gedanken sind frei und, in Anbetracht meines Schlafmankos, auch etwas wirr. Beim einsamen Durchblättern familiärer Fotoalben scheint mir, als hätte ich einige Entwicklungsphasen unseres Nachwuchses übersprungen. Auf den Fotos lachen mir pausbäckige Kleinkindergesichter entgegen, die heute mit pubertär-trotzigem Ausdruck meine väterlichen Einwendungen kontern. Die Jahre dazwischen – sie sind so rasend schnell vorbeigezogen. Keine revolutionäre Erkenntnis, dafür aber eine unmittelbar und hautnah erlebte, welche die eine oder andere psychedelische Kratzspur hinterlässt.

Den Nachtflug nach Colombo überstehe ich ohne Probleme. Während unseres Anfluges hören wir diverse Maschinen der ­Sri Lankan Airlines, die auf der gleichen Funkfrequenz die Erlaubnis zum Triebwerkstart erbitten. Dabei fällt mir eine Stimme mit unüberhörbar schweizerischem Akzent auf. Da war doch in der letzten Ausgabe des Verbandsmagazins der Swiss-Piloten ein Bericht eines ehemaligen Swissair-Kollegen, der jetzt in Colombo lebt. Als wir zu unserem Standplatz rollen, rufe ich auf gut Glück seinen Namen in den Äther: «Marcel …? Bisch du das …?»

Nach kurzem Schweigen erklingt ein erstauntes: «Ja … Hallo … wär isch da …?» Ich nenne meinen Namen und er scheint bass erstaunt. Sofort wechseln wir auf dem zweiten Funkgerät auf eine andere Frequenz und palavern kurz in astreinem Schweizerdeutsch weiter. Die Zeit reicht gerade mal, um festzustellen, dass ein Treffen am heutigen Tag nicht drinliegt. Dann erhält Marcel die Erlaubnis zum Triebwerkstart. Bevor wir das Gespräch abbrechen, gebe ich ihm noch rasch meine Handynummer durch. Gleich wird seine Maschine vom Traktor zurückgestossen. Und ab geht’s für ihn Richtung Thiruvananthapuram.

Zwei Stunden später erwarten mich in unserem Hotel weitere Landsleute. Babs und Corinne, zwei befreundete Ärztinnen, sind heute Morgen aus der Schweiz kommend in Colombo gelandet. Regelmässig verschicke ich meinen Einsatzplan an Freunde und Verwandte. Die beiden haben festgestellt, dass sich unsere Wege zufälligerweise auf der Insel im Indischen Ozean kreuzen. Die gemeinsame Plauderrunde im Cinnamon Grand, unserem Crew­hotel im Zentrum von Colombo, haben wir kurz vor ihrer Abreise vereinbart. Der Nachmittagskaffee und die Einmaligkeit dieses Zusammentreffens in feucht-tropischer Umgebung lassen uns, trotz mehrheitlich schlafloser Nacht, stundenlang lachen und diskutieren.

Am Abend sendet mir der Kollege vom Vormittag ein SMS. Die Welt ist klein, die Schweiz noch viel kleiner, dennoch kommt es immer wieder zu überraschenden Begegnungen mit Landsleuten. Irgendwann, irgendwo auf diesem Planeten.

Zwei Nachtflüge innert vier Tagen, zuerst Richtung West, anschliessend gegen die aufgehende Sonne. In Abu Dhabi haut es mich für einen Tag förmlich aus den Socken. Zur Einsamkeit gesellen sich während 24 Stunden Durchfall, Übelkeit und Fieber. Das erste Weihnachtsfest in der Wüste; ich habe es mir wahrlich etwas anders vorgestellt.

Orkan Kyrill, Januar 2007

Just einen Tag vor meinem 50. Geburtstag sitze ich in einem Hotelzimmer in Frankfurt. Am Abend wäre unser Rückflug angesagt, doch Orkan Kyrill will mir offenbar einen Strich durch die Rechnung machen. Seit dem frühen Morgen berichten sämtliche deutschen Fernsehanstalten in Sondersendungen über die zu erwartenden Sturmwinde und Schäden. Die Bahn hat den Betrieb eingestellt. Ob wir es schaffen werden, den Flug Richtung Abu Dhabi anzutreten? Die Frage beschäftigt mich den ganzen Tag über, schliesslich freue ich mich auf meine Geburtstagsfeier im intimen Familienkreis. Ohne grossen Klimbim, so wie es eben meinem bescheidenen Naturell entspricht.

Das Glück scheint mir hold, Orkan Kyrill hat die Stadt am Main noch nicht in vollem Masse erfasst. Mit lediglich fünfundvierzig Minuten Verspätung wird unser A340-500 vom Standplatz E6 zurückgestossen. Während wir im Pulk der startbereiten Maschinen auf unsere Freigabe warten, wird das Flugzeug bereits von heftigen Böen hin und her gerüttelt. Der Tower meldet Windspitzen bis 45 Knoten, was rund 80 km/h entspricht.

Eines ist sicher: Dieser Start gehört zu den eindrücklicheren in meiner Karriere. Kaum sind wir in der Luft, wird der Rumpf wie von Geisterhand gepackt, kräftig durchgerüttelt. Es ist, als würde das Flugzeug gegen eine Wand gehämmert. Die Schläge sind hart und heftig, die Instrumente tanzen einen wilden Reigen. Kaum haben wir 7000 Fuss passiert, lässt die Intensität nach. Dies, obwohl die Winde noch immer mit 100 Knoten blasen. Eine ganze Weile lang ist es, als würden wir uns über eine Strasse mit Schlaglöchern fortbewegen. Stärkere Turbulenzen habe ich erst einmal erlebt: Vor siebzehn Jahren, als Copi auf dem Jumbo bei einem Flug zwischen Bombay und Bangkok. Immer wieder meldete sich damals der Autopilot ab. Der Flugzeugrumpf wand sich wie von schweren Krämpfen geschüttelt. Es fiel schwer, die Hand zum gewünschten Knopf oder Hebel zu führen. Schliesslich sahen wir uns im Reiseflug während rund zehn Minuten gezwungen, das Flugzeug von Hand zu pilotieren.

 

Nicht so heute. Im Verlauf des Steigflugs lassen die Turbulenzen weiter nach, um wenig später völlig zu verschwinden. Der Rest bleibt Routine. Bis auf eine kleine Überraschung! Kurz nach Mitternacht erscheint plötzlich Talida, die Cabin Managerin aus Rumänien. Auf ihrer Hand wiegt sie ein Tablett, auf dem drei Champagnergläser und ein kleiner Kuchen mit einer Kerze stehen. Der Schaumwein entpuppt sich als Sprite, was sämtliche flugmedizinischen und juristischen Vorbehalte verpuffen lässt, und ein Anstossen auf meinen Fünfzigsten auch auf 39’000 Fuss Höhe erlaubt.

In Abu Dhabi sind die Kinder gar etwas aufgeregt und unruhig, als wir abends, kurz nach neunzehn Uhr, mit für mich unbekanntem Ziel losfahren. Eigentlich hätte ich es ahnen müssen. Nach einigen Haken und absichtlich ausgelassenen Abzweigungen stehen wir unvermittelt vor dem Lembach’schen Anwesen. Ich soll doch mal klingeln, meint Franziska schmunzelnd, während die Kinder hüstelnd an Fotoapparaten und Filmkameras herumnesteln. Die Tür öffnet sich – und im Halbkreis haben sie sich alle adrett postiert. Auf ihren Gesichtern ein breites Grinsen. Unsere deutschen Freunde, die Lembachs und Lachmairs, die Füchse und all deren Kinder und Hunde, bis hin zu den ungezähmten Halbwüchsigen. Das Klavier beginnt zu spielen und dann singen sie, ein Champagnerglas hebend (diesmal mit richtigem Schampus!) aus vollen Kehlen (nicht wörtlich zu nehmen): «Sein Airbus fliegt 1010, schwupps um die Schallmauer ist’s geschehn – das macht Spass, hoch das Glas!»

Und sie rekapitulieren in wenigen Strophen die entscheidenden Stationen meiner letzten fünfzig Jahre: unzählige New York-Flüge, der Verkauf des Porsches zur Schaffung von Liquidi­tätsreserven für die Hochzeitsfeier, meine Vorliebe für Hamburger sowie die Mär von den «Schlange stehenden» Hostessen. (Hier weicht der Liedtext leicht von der Realität ab. Die Hostessen standen nicht Schlange – vielmehr pflegten sie meine Türen einzurennen. Was dazu führte, dass ich mich fortan einer adretten «Dame am Boden» zuwandte, der ich bis heute treu geblieben bin!)

Dabei haben mich alle seit Monaten glauben gemacht, sie wären just zu dieser Zeit im Oman auf einer Erlebnisreise. Es fehlt nur noch, dass plötzlich Andrea und Toni, die ferienhalber in der Schweiz weilen, (wobei ich mir da plötzlich nicht mehr so sicher bin), aus irgendeiner Ecke angetanzt kommen. Was letztlich aber nicht der Fall ist.

Selamat Datang

Für einmal handelt es sich hier nicht um eine arabische Floskel. Selamat Datang ist malaiisch und heisst herzlich Willkommen. Wieder einmal hat es mich an eine Destination mit Neuland-Charakter verschlagen: Kuala Lumpur, die Hauptstadt von Malaysia.

Der Flug dauert heute Nacht 6.35 Stunden. Wir starten pünktlich, kurz nach 03.00 Uhr.

Die Route bringt uns zuerst über das Arabische Meer Richtung Mumbai. Anschliessend überqueren wir den Indischen Subkontinent, passieren die Stadt Chennai und steuern über dem Zentralindischen Becken die Inselgruppe der ­Nikkobaren an. Über der Nordspitze Indonesiens türmen sich mächtige Gewitterwolken. Unser geplanter Flugweg führt glücklicherweise durch eine freie Gasse, wodurch wir nicht genötigt werden, grosse Umwege zu fliegen. Über Funk können wir allerdings mitverfolgen, wie andere Kollegen durch die gewaltigen Stürme zu erheblichen Kursänderungen gezwungen werden.

Der Anflug gestaltet sich ebenso problemlos wie die bisherige Reise. Mit Radar Vectors werden wir auf den Leitstrahl der Piste 32R geführt, und um 13.30 Uhr Ortszeit setzen wir auf malayischem Boden auf. Der Kuala Lumpur International Sepang Airport ist nicht nur topmodern, sondern auch äusserst grosszügig dimensioniert. Die Flughafenbahn bringt uns vom Satelliten zum Main Terminal. Eine eindrückliche Dachkonstruktion lenkt den Blick des Besuchers unvermittelt nach oben. Unser Crewbus ist nicht weniger geräumig und mit einer anregenden Drachen-Blümchen-Tapete ausstaffiert. Wir sind nach dieser durchwachten Nacht alle froh, für die lange Fahrt in die Stadt über komfortable Sitze und genügend Beinfreiheit zu verfügen. Am Stadtrand geraten wir in ein kurzes, heftiges Gewitter mit üppigen Regengüssen. Die zahlreichen Motorradfahrer zeigen sich jedoch wenig beeindruckt ob der ergiebigen Wassermassen. Im Gegenteil! Ihre waghalsige Kurventechnik, Seite an Seite im dichten Pulk, lässt mich mehrfach schaudern. Dabei wird jeder Zentimeter der Strasse genutzt. Für mich als Zentraleuropäer ein angsteinflössendes Bild.

Um 15.30 Uhr erreichen wir unser Hotel im Zentrum der Stadt. So träge wir uns aus dem Bus kämpfen, so rasch verfliegt die Müdigkeit beim Betreten der Eingangshalle. Uns empfängt fernöstliche Freundlichkeit in einem Ambiente, wie ich es selten erlebt habe. Die Architektur erinnert mich ans luxuriöse Penninsula Hotel in Hong Kong, und die Inneneinrichtung lässt vermuten, dass der Star-Architekt Philippe Starck seine Hände im Spiel hatte. In der Lounge der ersten Etage werden zur Schlüsselverteilung kühle Softdrinks und Erfrischungstücher gereicht. Die Zimmer sind durchgestylt und mit Flatscreen-Fernsehgeräten versehen. Ich blicke direkt auf die Petronas Towers, die mit stolzen 452 Metern die übrigen Dächer der Stadt überragen. Obwohl ich müde bin, ist mir nicht nach Bett zumute. Stattdessen erkundige ich mich bei der Rezeption des Health-Clubs nach Möglichkeiten für eine Massage. «Sie können in einer halben Stunde kommen, wenn Ihnen das recht ist», tönt es mit unverkennbar asiatischem Akzent aus der Hörermuschel.

Wenig später bin ich im flauschigen Bademantel unterwegs in den 23. Stock. Was mich hier empfängt, raubt mir gleich noch einmal den Atem. Ein Pool, umgeben von riesigen Fenstern, vor denen breite Kissen zum Relaxen einladen. Dazu ein atemberaubender Rundblick auf Kuala Lumpur. Hinter einer ausladenden Theke mixen malayische Barkeeper ihre bunten Vitaminsäfte aus Limetten, Papaya, Kokosnuss, Mango, Lichi, Rambutan und anderen exotischen Früchten. Einfach phantastisch.

Nach Massage und Dusche fühle ich mich wieder fit. So frisch und kraftvoll wie ein 50-Jähriger in dieser Situation eben sein kann.

Um 18.00 Uhr treffe ich mich in der Lobby mit vier rumänischen Flight Attendants. Jorge, unser kolumbianischer Copi, der weder den traditionellen «Cumbia»-Tanz beherrscht noch ein virtuoser Perkussionist ist, macht auf schlapp und wird uns am nächsten Tag gestehen, dass er ganz einfach verschlafen hat. So stürze ich mich allein mit transsilvanischen Mächten ins Getümmel der malaiischen Metropole und hoffe, von den Blutgelüsten Draculas Erben verschont zu bleiben.

Albtraum

Zurzeit erfreue ich mich an meinen ersten richtigen Ferien, die mir Etihad Airways gewährt. Neunzehn Tage frei! Und das gleichzeitig mit den Kindern, die ebenfalls Schulferien geniessen. Länger schlafen, auswärts Essen, Ausflüge, und, und, und …

Heute schleiche ich mich kurz vor neun aus dem Bett, leise, um die noch schlafende Familie nicht zu wecken. Ich gehe in die Küche und drücke wie jeden Morgen auf den Startknopf der Kaffeemaschine. Ein Glas Wasser, dann ein Blick vor die Haustür, wo der Zeitungsbote die Gulf News deponiert. Ich greife das dicke Bündel und setze mich wenig später mit der ersten Tasse Kaffee an den Esstisch. Alle schlafen, Linda hat auswärts genächtigt. Nur die angenehme Stimme des Moderators von Radio Two begleitet mich bei der Zeitungslektüre. Noch bleibt mir eine Stunde, bis Peter Lembach zu unserer verabredeten Tennis-Schlacht eintrudeln wird.

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