Marie II

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„Ja, alles in Ordnung,“ beruhigte ich sie. „Magst du noch was trinken?“

„Ich hab‘ mir schon eine Flasche Apfelschorle genommen.“

Die Landschaft wurde zunehmend hügeliger. In den kleinen Ortschaften, die wir durchfuhren, drängten sie die Fachwerkhäuser am Straßenrand.

„Wie lange noch?“ stellte Marie die typische Frage von Kindern während einer Autofahrt.

„Ich denke wir werden so in einer Stunde da sein.“

„Magst du mal schauen, ob du einen anderen Sender im Autoradio findest?“ lenkte ich sie ab.

Sie nickte. „Wie geht das?“

Ich erklärte ihr die Sendersuchfunktion. Marie war lange nicht zufrieden mit dem was sie hörte.

*

Es ist schon so eine Sache mit den Vorahnungen. Plötzlich sind sie da, und egal wie rational man versucht sie zu ignorieren, sie lassen einem einfach nicht los. Natürlich war es eine außergewöhnliche Situation, auf der Flucht in eine ungewisse Zukunft zu sein. Mein mulmiges Gefühl verstärkte sich je näher wird dem Ferienhaus kamen. Längst hatten wir die letzte Ortschaft hinter uns gelassen. Ich versuchte den Gedanken zu verdrängen, dass uns eine Hundertschaft von Polizisten in Empfang nehmen würde. Übertreibungen gehören zu meinen leichtesten Übungen.

Schließlich waren wir am Ziel. Von der schmalen Straße zweigte ein Kiesweg ab zu einem schmucken Häuschen, das fast ganz hinter Bäumen versteckt war. Ein Zaum säumte das Grundstück ein. Es machte mich stutzig, dass das Tor offenstand. Ich hielt vor der Garage. Aus der Handtasche nahm ich den Schlüssel, den mir Herr Winterberg gegeben hatte. Gemeinsam schritten wir auf die Eingangstür zu. Jetzt raste mein Puls, denn die Tür stand einen Spalt offen. Sofort erkannte ich die Einbruchsspuren am Schloss. Ich nahm Marie am Arm und zog sie einen Schritt zurück.

„Einbrecher!“ stieß ich hervor. „Wenn die noch im Haus sind...“

Unschlüssig verharrte ich eine Weile. Dann nahm ich aber doch meinen Mut zusammen und öffnete die Tür weiter. Mein Verdacht bestätigte sich. Überall lagen Gegenstände herum. Durch eine weitere offene Tür konnten wir in den Wohnraum sehen: Herausgerissene Schubladen und umgestürzte Möbel waren eindeutige Hinweise auf das, was hier geschehen war.

Den Gedanken ins Haus zu gehen, gab ich wieder auf. Hier konnten wir nicht bleiben.

Normalerweise hätten wir die Polizei verständigen müssen. Aber unsere Lage ließ das nicht ratsam erscheinen. Ein anonymer Anruf? Aber wo sollten wir bleiben, weiter fliehen?

Ich nahm das Handy, das ich von Herrn Winterberg bekommen hatte und wählte seine Nummer.

Er meldete sich sofort. Hastig schilderte ich die Situation, die wir vorgefunden hatten.

„Hm, dass ist allerdings große Sch ... großer Mist!“ ließ er sich vernehmen.

Ich erklärte ihm, dass wir die Polizei nicht verständigen würden.

„Das werde ich übernehmen. Mir fällt schon was ein, woher ich das weiß. Es gibt eine Familie im nächsten Ort, die normalerweise ab und zu mal nach dem Haus schaut, aber die ist im Urlaub.“

„Wo sollen wir jetzt hin?“ fragte ich ein wenig hilflos.

Zu meinem Erstaunen hatte er sofort einen Plan. „In Flachsberg, das ist der nächste Ort, durch den müssten Sie gefahren sein, gibt es eine Pension. Dort haben wir gelegentlich Gäste untergebracht, wenn wir nicht genügend Platz im Ferienhaus hatten. Die Besitzerin kennt mich. Sagen Sie ganz einfach, dass ich Sie schicke, dann stellt sie keine dummen Fragen. Ich werde sie gleich anrufen und ihr Kommen avisieren!“

„Vielen Dank, Herr Winterberg,“ sagte ich. „Wie heißt die Pension?“

„Margots Restaurant und Pension, an der Dorfstraße. Die Nummer weiß ich nicht auswendig, aber Sie können es gar nicht verfehlen. Es ist gleich das nächste Haus nach der Kirche, auf der rechten Seite.“

Er fügte hinzu: „Mein Sohn wird ohnehin morgen zum Ferienhaus fahren, dann kann er sich um alles kümmern. Ich werde ihm sagen, dass er sie in der Pension aufsuchen soll. Bitte gehen Sie vorher nicht zum Haus zurück.“

Er räusperte sich. „Ich habe meinem Sohn über ihre ‚Fälle’ berichtet. Er wird Ihre Verteidigung übernehmen und sich auch der Klage gegen den Beschluss des Familiengerichts annehmen. Mit ihm können Sie dann auch die weiteren Schritte besprechen.“

„Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Winterberg!“ beendete ich das Gespräch.

„Komm Marie, lass uns zu der Pension fahren! Hier können wir nichts mehr tun.“

Sie nickte. „Ja, zusammen schaffen wir das!“

*

Nach kurzer Fahrt fanden wir die Pension. Es parkten eine ganze Menge Autos neben dem Eingang. Hoffentlich bekommen wir noch ein Zimmer, dachte ich.

Wir gingen in die Wirtsstube. Hinter dem Tresen polierte eine kräftig gebaute Frau Gläser. Ich stellte mich vor.

„Weiß schon Bescheid, Herr Winterberg hat mich angerufen,“ sagte sie und reichte mir die Hand.

„Margot Fuchs,“ stellte sie sich vor. „Da haben sie aber Glück, es ist nur noch ein Zimmer frei.“

Sie nahm einen Schlüssel von der Wand. „Kommen Sie!“

Wir gingen durch einen Flur zur Treppe ins Obergeschoss. Sie sperrte das Zimmer 24 auf und bat uns einzutreten. Ein großer Raum mit rustikalen Möbeln empfing uns.

„Hier ist es sehr ruhig,“ betonte sie, „besser als auf der Straßenseite.“ Sie öffnete eine Schiebetür. „Hier ist der Balkon.“

Sie setzte den Rundgang fort und zeigte uns das Badezimmer.

„Vielen Dank“ sagte ich.

Die Inhaberin lächelte uns an. „Wenn Sie was brauchen einfach Margot fragen. Ich bin im Lokal. Und Sie können auch unten essen, wenn Sie mögen!“ fügte sie hinzu. „Ich wünsche einen schönen Aufenthalt!“

Was Beziehungen ausmachen. Keinerlei Fragen, kein Annmeldungsformular...

„Ich werde meinen Koffer aus dem Auto holen,“ sagte ich zu Marie. „Willst du deinen Umschlag auch ...“

Sie unterbrach mich. „Ja, auf jeden Fall, der ist sehr wichtig für mich.“

Als wir zurück im Zimmer waren, begutachteten wir die Betten und das Bad. Es lagen zwei Beutel mit den notwendigsten Hygieneartikeln bereit.

„Morgen werden wir uns was zum Anziehen besorgen,“ meinte ich. „Wollen wir nachher hier essen, Marie?“

„Ja, können wir. Ich hab‘ zwar keinen Hunger ...“

„Der kommt schon! Ich denke Margot kocht bestimmt gut.“

*

Kurz nach sieben gingen wir nach unten. Das Lokal war schon sehr gut gefüllt, aber wir fanden noch einen freien Tisch. Die Wirtin brachte uns gleich zwei Speisekarten.

„Was möchten Sie trinken?“ fragte sie.

„Eine Cola, bitte,“ sagte Marie.

„Und für mich ein Pils,“ bestellte ich.

„Kommt sofort!“ strahlte sie uns an. Unwillkürlich musste ich an eine Episode während meiner Dienstzeit denken. Gelegentlich ging ich mit ein paar Kolleginnen zum Mittagessen in ein Lokal ganz in der Nähe der Schule. Längst waren alle Bestellungen serviert worden, nur mein Pils fehlte immer noch. Als die Kellnerin wieder in der Nähe war, fragte ich sie: ‚Wo bleibt denn mein Pils, das ich vor zwei Jahren bestellt habe?’ Kurze Zeit später kam sie zurück und knallte das Bier auf den Tisch. ‚Hier ist das Pils, das sie vor zwei Jahren bestellt haben’. Später fand ich heraus, dass die Bedienung die Mutter eines Schülers von mir war.

Heute musste ich nicht so lange warten. Die Getränke kamen trotz der vielen Gäste sehr schnell.

Wir bestellten unser Essen.

„Ist hier frei?“ Ein Paar stellte sich hinter die beiden anderen Stühle des Vierertischs. Noch bevor ich mein ‚ja bitte’ ganz ausgesprochen hatte, nahm eine resolute Dame Platz. „Setz dich doch,“ forderte sie ihren zurückhaltenden Begleiter auf. Gerne wäre ich mit Marie alleine geblieben, aber die restlichen Tische waren alle besetzt.

Die Wirtin brachte auch den beiden Neuankömmlingen die Karte.

„Was darf es denn zu trinken sein?“ fragte sie. Die Frau bestellte für sich und ihren Begleiter.

„Bröseke“ stellte sich die Tischnachbarin vor.

Sie deutete auf den Mann neben ihr: „Mein früherer Verlobter! Ha ha ha.“

„Auf Urlaub hier?“ begann sie die Konversation.

Ich hatte zwar überhaupt keine Lust auf ein Gespräch. Außerdem wollte ich nicht zu viel Informationen unter die Leute streuen.

„Nein, wir sind auf der Durchreise,“ sog ich mir aus den Fingern.

„Wohin denn?“ fragte sie neugierig.

„Nach Nettetal,“ erfand ich, in der Hoffnung, dass sie nicht weiter bohren würde. Aber ich hatte mich getäuscht.

„Das kenne ich nicht,“ ließ sie verlauten. „Wo ist das denn?“

„Westlich von Düsseldorf,“ erklärte ich ihr.

„Düsseldorf – da wohnt mein Schwager.“ Sie stupste ihren stummen Begleiter an. „Der Rudi wohnt doch dort?“

Der Angesprochene nickte nur. Anscheinend waren die Gesprächsrollen unter den beiden klar aufgeteilt.

„Schade, dass Sie nicht hierbleiben. Ist eine sehr schöne Gegend, wir waren schon öfter hier,“ setzte sie ihren Redeschwall fort.

„Morgen soll ja schönes Wetter sein, da wollen wir zur Wasserkuppe. Waren Sie da schon mal?“

„Nein,“ log ich. Ich wollte ihr möglichst keine Gesprächsanreize geben.

„Dann müssten Sie meinen Bruder kennen, der war da auch noch nicht!“ prustete sie los und lachte lauthals über ihren Witz.

„Die Wasserkuppe ist ein Berg, das Elberado der Segelflieger,“ belehrte sie uns.

„Eldorado“ verbesserte ich.

Für einen Moment war wohltuende Stille. Aber sie hatte sich schnell wieder gefangen.

„Ja, immer mit den Fremdwörtern, ich habe nur Hauptschule!“ fuhr sie beherzt fort.

 

Die Wirtin brachte unser Essen und wünschte einen guten Appetit.

„Lassen Sie es sich schmecken!“ fuhr Frau Bröseke fort. Die Hoffnung, dass sie uns wenigstens beim Essen mit ihrem Gequassel verschonen würde, stellte sich als Irrtum heraus.

„Du hast Ferien?“ wandte sie sich an Marie.

„Ja, habe ich,“ antwortete sie überlegt.

„Woher kommen Sie denn?“ forschte die Bröseke weiter. Ich tat so als wenn ich mich verschluckt hätte. Diese kurze Pause reichte aus, dass die Fragestellerin gleich weiter redete ohne eine Antwort abzuwarten.

„Wir kommen aus Kleinfinsterhausen. Kennen Sie das?“ setzte sie die Unterhaltung fort.

„Nein, bedaure,“ sagte ich zwischen zwei Bissen. Es hatte aber keinen Zweck, dass ich mir mit der Antwort bewusst Zeit ließ.

„Wissen Sie wo Stuttgart liegt?“ fragte sie lauernd.

Ich nickte.

„Da ist es nicht, ha ha ha!“ Wieder brach sie in schallendes Gelächter aus. Einige Gäste drehten schon die Köpfe in unsere Richtung, aber das störte die Quasseltante überhaupt nicht.

„Wir wohnen neben den Knippels. Die Frau Knippel ist auch eine ganz Lustige. Die ist aber weggezogen, weiß nicht wohin.“

Der Ehemann verzog das Gesicht, blieb aber still.

„Wissen Sie wie die sich immer vorstellt?“

Sie wartete keine Antwort ab, sondern verkündete lauthals. „Knippel, großes K, kleine Nippel!“

Sie lachte wie ein volles Kino. Ich vermied es, ihr zu sagen, dass ich besagte Dame vor kurzem bei meiner Hausärztin kennen gelernt hatte. Die Welt ist klein, dachte ich.

Margot brachte das Essen für die Brösekes. Das hinderte die Frau allerdings überhaupt nicht weiter für Unterhaltung zu sorgen. Ich hasse es, wenn Menschen mit vollem Mund reden.

Ich versuchte mit Marie ein Gespräch zu beginnen. „Schmeckt es dir?“

„Ja, danke,“ antwortete sie.

Sofort klinkte sich Frau Bröseke wieder ein.

„Das Essen ist prima hier! Ich nehm’ immer zwei Kilo zu!“ gab sie zum Besten.

Ohne Punkt und Komma setzte sie ihren Monolog fort. Ihr Mann zuckte ab und zu mit den Schultern. Ich wunderte mich wie er diesen Redefluss ertragen konnte.

Marie entschuldigte sich, sie musste auf die Toilette.

„Wie alt ist die Kleine denn?“ fragte die Tischnachbarin.

Ich zögerte. Zum Glück kam die Wirtin zu uns und erkundigte sich, ob wir noch Wünsche hätten.

„Ja, bringen Sie mir bitte noch ein Pils,“ sagte ich.

„Pils – das ist mir zu bitter,“ griff die Quasseltante das Stichwort auf. Ich trinke nur Weißbier!“

Sie deutete auf ihren Begleiter ohne ihn anzusehen.

„Mein Mann trinkt alles, Hauptsache Bier, aber oft zu viele!“ stellte sie ihn bloß.

Anscheinend reichte es Herrn Bröseke.

„Ich geh’ aufs Zimmer. Noch einen schönen Abend,“ sagte er und verabschiedete sich.

Die Hoffnung, die Gattin würde ihm folgen, erfüllte sich nicht. Auch als Marie zurückkam sprudelte Frau Bröseke munter weiter.

Es kam uns wie eine Ewigkeit vor als sie endlich einen Schluss fand.

„Ach, da drüben sitzt Frau Blechner! Ich werde ihr mal Gesellschaft leisten,“ sagte sie. „War nett mit euch zu reden!“

Sie wartete keine Reaktion von unserer Seite ab, sondern begab sich an einen anderen Tisch zu ihrem nächsten Opfer.

Marie und ich schauten uns an. Ich wusste, dass wir das Gleiche dachten.

Als die Wirtin an unseren Tisch trat, flüsterte sie: „Die ist überhaupt nicht zu bremsen, redet wie ein Wasserfall. Leider war kein anderer Tisch frei.“

Ich fragte, ob ich das Essen gleich bezahlen sollte, aber sie sagte, dass könnten wir bei der Abreise erledigen.

„Leider weiß ich nicht, wie lange wir hierbleiben werden,“ sagte ich.

„Das ist kein Problem,“ erwiderte sie.

„Frühstück gibt es ab sieben, aber sie können ruhig ausschlafen, das Büffet ist bis halb zehn geöffnet,“ fügte sie hinzu.

Wir bedankten uns und gingen hinauf auf unser Zimmer.

*

Wir waren immer noch ganz betäubt von der Quasselei. Ich hatte immer geglaubt, ich würde viel reden, aber das, was wir eben erlebt hatten, sprengte alle Rahmen.

Marie schien ganz ähnlich zu denken. „Die hat einem ja unter den Tisch gequatscht,“ meinte sie.

So allmählich fanden wir wieder zurück in unsere augenblickliche Lage. Ich überlegte ob ich Herrn Winterberg noch mal anrufen sollte. Aber eigentlich hatten wir alles besprochen.

„Wie lange bleiben wir jetzt hier?“ fragte Marie.

„Das werden wir hoffentlich morgen wissen, wenn der Sohn von Herrn Winterberg kommt. Dann sehen wir weiter,“ meinte ich.

„Aber der wird uns doch nicht verraten, oder?“

Ich war mir zwar auch nicht ganz sicher, aber ich sagte mit Bestimmtheit: „Nein, der vertritt ja unsere Interessen.“

Mit Maries Zustimmung schaltete ich den Fernseher ein. Zufrieden stellte ich fest, dass keinerlei Fahndungen nach uns gesendet wurden.

Unseren Plan, alle 50 US-Bundesstaaten aufzuschreiben, setzten wir nicht in die Tat um. Marie griff aber das Thema noch mal auf.

„Meinst du, wir können zusammen nach Amerika reisen, Diana?“

„Ja, das meine ich,“ antwortete ich und fügte hinzu: „Dann lerne fleißig Englisch!“

Sie nickte. „Wenn du mir hilfst ...“

Ich musste lachen. „Dann bist du ja jetzt motiviert! Frau Nebenski wird sich freuen.“

Marie wurde nachdenklich. „Ich weiß ja noch gar nicht wo ich in die Schule gehen werde. Und ob ich zu Frau Oberwald zurück kann.“

Ich spürte wie alle ihre Ängste wieder Besitz von ihr ergriffen.

„Marie, wie hast du doch selber gesagt: Zusammen schaffen wir es!“

Sie kam zu mir in meine Arme.

„Bleib bei mir, bitte!“ flüsterte sie.

„Ich hab’ es versprochen, Marie!“

*

Nach einer unruhigen Nacht waren wir ziemlich früh auf. Kurz nach acht gingen wir in den Frühstücksraum. Dieser war fast leer, nur ein älteres Paar saß an einem Tisch in der Ecke. Die Wirtin begrüßte uns mit einem fröhlichen „Guten Morgen!“ Sie brachte eine Kanne Kaffee. Mit einem Teller bewaffnet nahmen wir uns Semmeln und verschiedene Beläge vom Büffet. Zu meiner Freude gab es Rührei mit Schinken. Marie bevorzugte eher Marmelade und Honig. Wir ließen es uns schmecken.

Zum Glück war die Bröseke nicht im Raum, das Geschnatter blieb uns erspart.

Aber wenn man an den Teufel denkt ...

„Guten Morgen!“ schallte es uns entgegen. Die Bröseke stolzierte auf unseren Tisch zu, ein paar Schritte dahinter ihr Mann.

Sie wartete keine Antwort auf ihren Gruß ab sondern fing sofort an zu palavern.

„Wir fahren jetzt zur Wasserkuppe, Wetter ist ja gut. Ihnen auch einen schönen Tag. Wann geht es denn weiter?“

Ich hatte eigentlich keine Lust ihre Frage zu beantworten.

„So in zwei Stunden denke ich.“

„Na, dann gute Fahrt! Vielleicht sieht man sich ja wieder,“ erklärte sie und wandte sich zum Gehen.

Ich nickte und drehte mich zu Marie.

„Schmeckt dir das Frühstück?“

Bevor sie antworten konnte mischte sich Frau Bröseke wieder ein.

„Das Büffet ist wirklich gut hier. Sie müssen das Müsli probieren, das ist sehr lecker!“

Herr Bröseke räusperte sich dezent.

„Ja ja, ich komm ja schon! Muss mich doch mit den netten Leuten unterhalten!“

„Auf Wiedersehen!“ rief sie viel zu laut und ging endlich nach draußen.

Marie und ich sahen uns kopfschüttelnd an. Wir genossen die Stille und setzten unser Frühstück fort.

Frau Fuchs erkundigte sich, ob alles zur Zufriedenheit sei. Wir lobten das reichhaltige Angebot.

„Wir fahren jetzt zum Einkaufen. Vermutlich werden wir noch eine Nacht bei Ihnen bleiben,“ sagte ich.

„Das Zimmer ist für Sie reserviert, kein Problem. Ich wünsche einen schönen Tag!“

Wir bedankten uns und gingen auf unser Zimmer.

„Dann lass uns mal losfahren, ein paar Kleider kaufen, wir haben ja nichts zum Wechseln,“ schlug ich Marie vor.

Sie nickte. „Kann ich meine Sachen in deinen Koffer tun? Ich möchte sie nicht offen rumliegen lassen, und du hast ja ein Schloss.“

„Natürlich.“

Sie verstaute ihr Tagebuch und den Umschlag von ihrer Mutter in meinem Pilotenkoffer. Ich verdrehte die Ziffern der Zahlenschlösser.

„Wohin fahren wir denn?“ fragte Marie im Auto.

„Wir probieren es in der nächsten größeren Stadt,“ antwortete ich.

„Gibt es eigentlich dieses Nettetal, von dem du gestern der Bröseke erzählt hast?“ wollte sie wissen.

„Ja, das gibt es wirklich. Ich war auch schon ein paar Mal in der Gegend. Das liegt fast an der holländischen Grenze, am Niederrhein,“ erklärte ich ihr.

„Ich weiß, westlich von Düsseldorf, hast du gestern Abend erzählt.“

Sie fügte hinzu: „Aber wir fahren nicht wirklich dahin?“

„Nein, zumindest vorläufig nicht. Das muss aber die Bröseke nicht wissen.“

Wir hatten einen größeren Ort erreicht und hielten vor einem Kaufhaus. In der Bekleidungsabteilung erstanden wir ein paar T-Shirts, Hosen, Röcke und Unterwäsche.

Anschließend besuchten wir die Schuhabteilung.

„Welche Größe hast du, Marie?“

„Meistens 38,“ antwortete sie.

„Dann hast du mich bald eingeholt, ich habe 40!“ erklärte ich.

Der Versuchung ein Paar chice hochhackige Pumps zu erwerben widerstand ich. Stattdessen kaufte ich bequeme Clogs, Turnschuhe und Sandalen, mit einem kleine Absatz. Auch Marie deckte sich mit Turnschuhen und Sandalen ein.

Ich musste lächeln als ich an meine Schuhschränke in meinem Haus dachte. Ich hatte schon immer wesentlich mehr Damenschuhe als Herrenschuhe gehabt. Inzwischen dürfte ich wohl bestimmt an die 50 Paar besitzen.

Marie zupfte mich am Ärmel. Eine Polizistin in Uniform probierte im nächsten Gang ein Paar Schuhe an. Schlagartig wurde mir wieder bewusst, dass wir uns auf der Flucht befanden.

Wir bezahlten und verstauten die gekauften Sachen auf der Rückbank.

„Ob die uns noch suchen?“ fragte Marie, als wir losfuhren.

„Ich weiß nicht,“ wich ich aus. „Wir sind ja doch ein ganzes Stück weg.“

„Brauchen wir noch was, Marie?“ lenkte ich ab.

Sie nickte. „Fahr bitte an einer Drogerie vorbei, ich möchte was kaufen, für meine .. Regel.“

„Machen wir, dann kann ich auch ein bisschen Kosmetik besorgen,“ entgegnete ich.

Nach dem Abstecher zu einer Drogerie fuhren wir zurück zur Pension. Wir packten die Einkaufstüten aus und verstauten die Sachen in den Schränken.

Die obligatorische Frage nach dem Hunger verneinte Marie. Stattdessen schlug sie überraschend vor ein kleines Schläfchen zu halten.

*

So richtig schlafen konnte ich nicht, denn es kehrten viele Gedanken zurück, die ich nur mangelhaft verdrängt hatte. Maries Atem ging ganz gleichmäßig und ruhig; sie schlief.

Die Ereignisse von zwei Tagen liefen vor meinem geistigen Auge immer wieder ab. Ich sah den Kossewitz die Treppe hinunter stürzen und regungslos liegen bleiben. Wieder wurde mir bewusst, dass ich die Tatwaffe angefasst hatte. War er nach dem Sturz noch nicht tot gewesen? Und wer hatte ihm dann die tödlichen Verletzungen zugefügt? Es konnte doch niemand ins Haus. Oder hatte ich die Tür nicht ganz geschlossen?

Ich seufzte. Jedenfalls sprachen viele Indizien gegen mich. Und wer hatte mich angeblich gesehen? Wieder eine dubiose Zeugin ...

Ich drehte mich zu Marie. Sie lag friedlich in ihrem Bett. Aber auch sie hatte große Probleme. Es war unsicher, ob ihr jemand ihre Geschichte glauben würde, dass sich ihr neuer Vormund an ihr vergreifen wollte. Überhaupt der Vormund, das war wohl auch der Entlastungszeuge, der Kossewitz das Alibi verschafft hatte. Und der Leiter des Jugendamtes, Schmal, hing da auch irgendwie mit drin. Eine ‚ehrenwerte’ Gesellschaft. Vielleicht gehörte der Huber auch noch dazu. Ich sah das Bild vor mir, auf dem die vier nebeneinander standen. Ob es gelang Licht in das Dunkel zu bringen?

Freddie fiel mir wieder ein. Ich hatte ihn ja gebeten den PC von Kossewitz unter die Lupe zu nehmen. Sollte ich ihn einfach mal anrufen? Zum Glück hatte ich die Adressenliste von meinem Handy auf das überspielt, welches mir Herr Winterberg überlassen hatte.

 

Winterberg ... sein Sohn, der Rechtsanwalt, würde ja heute noch hierher kommen. Ob er uns helfen konnte? Und musste er die Polizei über unseren Aufenthaltsort informieren?

Auf die Dauer konnten wir nicht untertauchen, das war mir schon klar. Aber solange nicht geklärt war, wohin Marie gebracht würde, werden wir bestimmt nicht zurückkehren.

Ein wenig schlummerte ich schließlich doch ein.

*

Das Summen des Handys weckte mich auf. Ich las die Sms von Rechtsanwalt Winterberg.

‚Guten Tag Frau Wolfbach, ich habe es doch früher geschafft. Ich bin in etwa einer Stunde bei Ihnen in der Pension. Gruß B. Winterberg.’

Ich schaute auf die Zeitangabe auf dem Handy. Es war kurz vor 16 Uhr.

Marie ließ ich noch schlafen. Leise ging ich nach unten. Die Wirtin hantierte fleißig mit Gläsern und Geschirr hinter der Theke.

„Kann ich bitte einen Kaffee haben?“ fragte ich.

„Aber sicher. Nur mit Milch, hab ich mir gemerkt.“

An einem Tisch in der Nähe der Theke nahm ich Platz. Kurz darauf kam die Wirtin mit meinem Kaffee.

„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“ frage sie.

„Natürlich!“ erwiderte ich.

Sie hatte auch eine Tasse Kaffee für sich mitgebracht. Wir tranken schweigend.

„In einer Stunde wird Herr Winterberg hier vorbeikommen,“ informierte ich sie schließlich.

„Das weiß ich schon, er hat mir das auch mitgeteilt. Sie können sich in dem Nebenraum ungestört unterhalten.“

„Vielen Dank, das ist sehr nett,“ sprach ich.

Marie kam mit leichtem Vorwurf im Gesicht zu uns.

„Da bist du!“ sagte sie erleichtert.

„Komm, setzt dich doch zu uns,“ lud ich sie ein. „Magst du auch was trinken?“

„Ja gerne, ein Limo bitte.“

Es war Marie anzumerken, dass sie ihre Ängste noch lange nicht überwunden hatte. Fast machte ich mir Vorwürfe sie oben im Zimmer allein gelassen zu haben.

Die Wirtin brachte ihr das Getränk. Ich berichtete Marie, dass der Rechtsanwalt bald zu uns kommen würde. Sie nickte nur.

Frau Fuchs erhob sich. „Ich sage Ihnen Bescheid wenn Herr Winterberg angekommen ist. Sie können sich ja solange auf die Terrasse setzen.“

Wir stimmten ihrem Vorschlag zu und gingen in den Garten. Niemand sonst hielt sich dort auf.

„Was will der Rechtsanwalt?“ fragte Marie.

„Er wird Claudia vertreten. Ich hoffe, er hat beim Familiengericht Erfolg.“

Ich vermied es, auf meinen ‚Fall’ einzugehen.

„Wird er uns an die Bullen verpfeifen?“ setzte sie nach.

Erstaunt über die für sie ungewohnte Ausdrucksweise versuchte ich sie zu beruhigen.

„Nein, das wird er nicht,“ sagte ich. Ich hoffte, dass meine Aussage auch zutraf. Ob er dazu verpflichtet war die Behörden über unseren Aufenthaltsort zu informieren hatte ich mich auch schon gefragt.

*

„Herr Winterberg ist jetzt da,“ verkündete die Wirtin.

Ein schlanker Mann in einem dunklen Anzug trat an unseren Tisch und reichte erst mir, dann Marie die Hand. Er stellte sich vor.

„Das ist meine Assistentin, Frau Holler.“ Er deutete auf seine Begleiterin, eine junge Frau in einem taubenblauen Kostüm.

Ich nannte meinen Namen. „Sehr erfreut.“

„Gehen wir doch in das Nebenzimmer, das Frau Fuchs vorbereitet hat,“ schlug er vor.

Wir nahmen an einem Tisch Platz. Der Rechtsanwalt legte eine Mappe vor sich und öffnete sie.

„Es tut mit leid, dass es mit dem Ferienhaus nicht geklappt hat. Aber Sie sind ja hier auch gut untergebracht,“ begann er. „Ich lasse gerade das Schloss an der Eingangstür erneuern. Sie können heute Abend dort einziehen. Frau Holler und ich werden auch im Ferienhaus übernachten.“

Als hätte er meine Frage erwartet fügte er hinzu: „Den Einbruch habe ich nicht der Polizei gemeldet. Es ist offensichtlich nichts gestohlen worden.“

Noch mehr erleichtert waren wir, als er mit deutlichem Nachdruck in der Stimme hinzufügte: „Natürlich werde ich niemanden über Ihrem Aufenthaltsort informieren.“

„Danke,“ sagte ich.

Er räusperte sich. „So, nun zu den beiden Fällen. Ich vertrete Frau Oberwald, den Vormund von Marie – leider den suspendierten Vormund. Immerhin haben wir schon erreicht, dass per einstweiliger Verfügung die Vormundschaft des... “ er warf einen Blick in die Akten. „...des Herrn Peter Schmidt ausgesetzt wurde. Das Sorgerecht wird vorrübergehend dem Jugendamt übertragen, genau der Frau Zumbers.“

Ich drückte Maries Hand. Sie lächelte.

„Muss ich dann nicht wieder in dieses Heim?“ fragte sie.

„Nein, auf keinen Fall. Ich habe mit Frau Zumbers vereinbart, dass du zustimmen musst, wenn du irgendwo untergebracht werden sollst. Das ist zwar erst ab dem 14. Lebensjahr vorgesehen, aber...“

„Das wissen wir,“ unterbrach ich ihn. „Kann Marie wieder zurück zu Frau Oberwald?“

Er wiegte den Kopf. „Im Moment noch nicht. Das Familiengericht prüft zurzeit den Fall. Ich habe in der nächsten Woche dort einen Termin.“

Er wandte sich an Marie. „Deine Aufnahmen von dem Gespräch mit Herrn Schmidt waren sehr hilfreich. Deshalb wurde die einstweilige Verfügung so schnell ausgesprochen.“

Er lehnte sich zurück. „Du könntest also mit uns zurück fahren, Marie, es besteht keine Gefahr mehr für dich.“

Mit der Reaktion von Marie hatte er nicht gerechnet. Sie sprang auf, ihr Stuhl kippte nach hinten um.

„Nein!“ schrie sie gellend. „Das habe ich jetzt schon so oft gehört! ‚Du bist sicher.’ Und dann kam wieder so ein Scheusal ...“

Ich stand auf und nahm sie in den Arm.

Sie schluchzte: „Ich will bei dir bleiben! Ich geh mit niemandem mit!“

Der Anwalt hatte seine Fassung wiedergefunden. Er versuchte, Marie zu beruhigen.

„Gut, gut, dann bleibst du hier, bei Frau Wolfbach.“

Marie antwortete nicht, sondern drückte sich fester an mich. Nur sehr langsam wurde ihr Atem ruhiger.

Das Handy des Anwalts klingelte. Er hob ab. Nach einem kurzen Gespräch verkündete er: „Das Schloss ist ausgetauscht, wir können in das Ferienhaus. Ich schlage vor, dass wir schon mal vorausfahren, bitte kommen Sie dann nach. Sie wissen ja wo das ist.“

Er und seine Begleiterin erhoben sich. „Bis gleich!“

Marie drückte sich wieder ganz fest an mich als die beiden gegangen waren.

„Bitte lass mich nicht allein, nie wieder!“ flehte sie.

„Ich bleibe bei dir, Marie!“

Wir packten unsere wenigen Sachen ins Auto und verabschiedeten uns von Frau Fuchs.

„Bitte schreiben Sie eine Rechnung, ich überweise Ihnen dann den Betrag, wenn es ihnen recht ist.“

Sie winkte ab. „Ist alles schon erledigt. Ich hab‘ das mit Herrn Winterberg abgerechnet.“

Ich wollte etwas erwidern, aber sie fügte hinzu: „Ich hoffe es hat euch bei mir gefallen! Und wenn ihr mal wieder in die Gegend kommt ... ihr seid immer herzlich willkommen.“

„Vielen Dank für Alles!“ sagte ich.

Als wir gerade ins Auto einstiegen, entgingen wir nur knapp den Brösekes. Die Quasseltante winkte uns hektisch hinterher. Erleichtert fuhren wir los.

*

„Sollen wir wirklich dahin fahren, Diana?“ fragte mich Marie.

Ich überlegte einen Moment. Welche Wahl hatten wir? Die Flucht fortsetzen? Ich hatte das Gefühl dem Rechtsanwalt vertrauen zu können.

„Ich denke schon,“ antwortete ich bedächtig. „Der Anwalt vertritt unsere Interessen. Und ich glaube in dem Ferienhaus sind wir sicherer als wenn wir jeden Tag in einem anderen Ort wären.“

Marie nickte. „Ich werde dich nicht verlassen, das habe ich versprochen, und das werde ich auch halten,“ fügte ich hinzu.

Wir erreichten das Ferienhaus. Ein Auto, anscheinend das des Rechtsanwalts, stand unter dem Carport neben der offenen Garage. Ich fuhr hinein und stellte den Motor ab. Herr Winterberg kam aus dem Haus und öffnete die Fahrertür.

„Es ist wohl besser Sie parken in der Garage,“ sagte er. Wir nahmen die wenigen Gepäckstücke und gingen ins Haus.

Von der Unordnung, die wir beim ersten Besuch angetroffen hatten, war nichts mehr zu sehen. Im offenen Kamin prasselte ein wohliges Feuer. Auf dem Tisch standen Gläser und Teller. Frau Holler begrüßte uns und bat uns mit nach oben zu kommen.

„Das hier ist Ihr Zimmer,“ informierte sie uns. Der Raum mit leicht schrägen Holzwänden gefiel mir auf Anhieb. Die breiten Betten mit bunten Bezügen und das übrige Mobiliar sahen sehr einladend aus. Wir verstauten unsere wenigen Habseligkeiten in den riesigen Bauernschränken.

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