Weihnachtsgeschichten fürs Herz Teil II

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Weihnachtsgeschichten fürs Herz Teil II
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Impressum:

Copyright: © 2019 Denise Devillard

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN: 978-3-746768-72-4

Weihnachtsgeschichten

fürs Herz

Teil 2

von

Denise Devillard

Inhalt:

1  Der Weihnachtshase

2  Der bockige Engel

3  Der stille Hirte

Der Weihnachtshase

„Aber ich will nicht!“, rief Paul entrüstet und lief in sein Zimmer. Seine Mutter schüttelte nur den Kopf. Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, darauf zu bestehen. Wenn Paul nicht das tun wollte, was sie von ihm wollte, bockte er jedes Mal so lange, bis sie schließlich aufgab. Sie hatte ihn aufgefordert, das Geschirr nach dem Abendessen in die Küche zu tragen. Ein klein wenig Mithilfe im Haushalt würde ihm nicht schaden. Paul war neun Jahre alt und etwas schwierig. Er war oft sehr stur und uneinsichtig, wenn seine Eltern nicht das wollten, was er wollte. Paul hatte definitiv seinen eigenen Kopf und das war schon immer so. Schon als ganz kleines Kind schrie er, bis er ganz rot vor Zorn war, wenn ihm etwas nicht passte.

Paul schlug seine Zimmertür mit aller Kraft hinter sich zu. Er war sauer. Er war doch ein Junge, warum also sollte er wie ein Mädchen im Haushalt helfen? Das sah er absolut nicht ein. Wenn er seinem Vater helfen sollte, etwas zu reparieren, oder wenn er am Auto herumschraubte, ja da half er gerne. Aber Haushalt? Nein danke, das konnte er nicht haben. Und überhaupt hatte er wirklich was Besseres zu tun als solch öden Kram. Paul setzte sich wieder an sein Computerspiel und war total darauf fixiert, als sein Vater ins Zimmer trat. „Was war denn das schon wieder, Paul?“, fragte er mit finsterer Miene. „Kannst du denn nicht wenigstens ab und zu deiner Mutter helfen? Das sind doch keine schweren Aufgaben, die sie dir gibt! Ich erwarte von dir, dass du das nächste Mal ein wenig mehr Motivation an den Tag legst, wenn man dir sagt, dass du bei etwas helfen sollst!“ Paul sah kaum von seinem Spiel auf, obwohl er ihm aufmerksam zugehört hatte. Er nickte nur stumm. Das reichte seinem Vater schon und er verließ erleichtert Pauls Zimmer. Er hasste es eigentlich, seinen Sohn zu rügen. Viel lieber würde er gerne mehr Zeit mit ihm verbringen, als nur an den Wochenenden, an denen er zu Hause war. Seine Arbeit in einer großen Werbefirma, die über 300 km entfernt lag, forderte seine ganze Kraft während der Woche. Und wenn er dann nach Hause kam, war er meist müde und abgekämpft. Er verdiente gut. Deshalb hatte er die Arbeit damals auch angenommen, aber für seine Familie blieb viel zu wenig Zeit. Das Geld war nun einmal wichtiger und er musste tun, was erforderlich war, um seine Familie gut versorgen zu können. So manche Feiertage blieben jedoch dabei auf der Strecke. Nicht selten musste er auch das Wochenende in der Firma verbringen, wenn wieder einmal ein Projekt dies erforderlich machte. In seiner Branche war man sehr schnell weg vom Fenster und wurde sofort durch einen anderen ersetzt, wenn man nicht die nötige Einsatzbereitschaft zeigte. Für Martin war es dennoch eine einfache Rechnung, mehr Arbeit, mehr Geld. So einfach war das. Da brauchte man nicht lange zu überlegen, was wichtiger war. Und seine Frau Anna war ja zu Hause bei seinem Sohn und kümmerte sich gut um ihn. Da er so gut verdiente, musste sie nicht arbeiten und konnte sich den ganzen Tag ihrem Kind und dem Haushalt widmen.

Als er zurück in die Küche kam, wo seine Frau gerade das Geschirr in den Geschirrspüler räumte, hatte er schon wieder abgehakt, was vorgefallen war. Martin hasste es, den bösen Vater zu mimen, wenn er zu Hause war. Er hatte ein schlechtes Gewissen gegenüber seinem Sohn, weil er fast nie Zeit für ihn hatte. Deshalb nahm er es ihm auch nicht sonderlich übel, wenn er nicht ganz so brav war, wie man es von ihm erwartete. Für ihn war dass das Übel, das er in Kauf nehmen musste, als Ausgleich für seine ständige Abwesenheit. Aber er konnte ja nicht überall gleichzeitig sein und seine Frau würde das schon machen, da war er ganz sicher. Paul würde sich schon daran gewöhnen und sich bestimmt mit der Zeit auch etwas bessern. Das hoffte er zumindest.

„Hast du mit ihm gesprochen?“, fragte Anna. „Ja, habe ich Schatz. Er hat versprochen, sich zu bessern.“ Dann drehte er sich um und ging in sein Arbeitszimmer. Anna kannte ihren Mann zu gut. Sie konnte sich deshalb bildlich vorstellen, wie dieses Gespräch gelaufen war. Und sie wusste auch, dass es bei Paul nichts Dauerhaftes bewirkte, auch wenn ihr Mann es versuchte. Doch ebenso wusste sie, dass er es nicht gerne und nur ihr zuliebe tat. Alles blieb immer an ihr hängen. Wenn Martin nicht da war, musste sie sich alleine mit allem abkämpfen. Und das war oft nicht leicht. Sie hätte gerne auf das viele Geld verzichtet und sich vielleicht auch eine Halbtagsarbeit gesucht, wenn ihr Mann dann wieder öfter zu Hause wäre. Aber davon hielt Martin gar nichts. Er war der Meinung, dass es nun Mal die Aufgabe des Mannes ist, seine Familie zu versorgen. Das so manches darunter litt, nahm er dafür in Kauf.

Anna seufzte und sah zum Küchenfenster hinaus. Es hatte geschneit letzte Nacht und eine sanfte weiße Decke bedeckte die Straße und das weite Feld, das sich ihr vom Fenster aus entgegenstreckte. „Nur noch eine Woche bis Weihnachten“, dachte sie. Dann waren wieder Ferien und Paul den ganzen Tag zu Hause. Sie mochte das nicht besonders, da er meist immer nur vor seinem Computer saß und zockte. Er war kaum dazu zu bewegen, etwas anderes zu tun.

Anna mochte die Weihnachtszeit nicht besonders. Diese Zeit war immer mit sehr viel Stress und Arbeit verbunden. So war sie jedes Jahr aufs Neue erleichtert, wenn sie wieder vorbei war. Zumal sich ihrer Meinung nach der Aufwand gar nicht lohnte, wenn sie schlussendlich mit Paul dann alleine vor dem geschmückten Christbaum saß. Drei Mal schon war es so, dass Martin nicht einmal an Weihnachten nach Hause gekommen war. Sie war jedes Mal stinksauer gewesen, ließ es sich aber nicht anmerken und sagte kein Wort zu Martin, weil sie wusste, unter welch großem Druck er stand. Ihr war auch bewusst, dass er ein schlechtes Gewissen deswegen hatte, aber er konnte es nicht ändern. Was hätte es also gebracht, ihm deshalb Vorwürfe zu machen? Es hätte nichts daran verändert. Dieses Jahr hatte Martin versprochen, Weihnachten mit der Familie zu verbringen. Ob er das halten konnte? Anna bezweifelte das. In letzter Zeit wurde seine Arbeit immer mehr. Auch an den Wochenenden saß er oft lange in seinem Arbeitszimmer und war schwer beschäftigt.

Anna ließ nachdenklich den Teller in ihrer Hand sinken und lenkte ihren Blick auf das verschneite Feld. Es grenzte an ein nahes Waldstück, von dem sie noch die Baumwipfel sehen konnte vom Küchenfenster aus. Manchmal hörte sie abends den Ruf eines Uhus, wenn es ganz still war. Und ab und an ließ sich sogar am späten Nachmittag ein Reh blicken, das zum Äsen aufs Feld kam. Anna hatte sich ihr Leben mit Martin wahrlich anders vorgestellt. Sie liebte ihn ja, aber sie war einfach zu viel alleine. Stets versuchte sie, Martins Abwesenheit auszugleichen bei Paul, aber gleichzeitig wusste sie, dass es ihr nie wirklich gelang. Paul hing sehr an seinem Vater. Er sah zu ihm auf und gehorchte ihm noch mehr als ihr, obwohl er fast nie da war.

Ein leiser wehmütiger Seufzer entfuhr ihr. „Alles könnte so harmonisch sein, wenn Martin nur…“ Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte sich nicht in Träumereien verlieren. Die Realität sah anders aus. Sie musste sich mit den Tatsachen arrangieren. Es nutzte nichts, sich etwas zu wünschen, was Martin nicht erfüllen konnte. „Da müsste wahrlich ein Wunder geschehen“, entfuhr es ihr leise.

Sie resignierte und fand sich innerlich schon damit ab, auch diese Weihnachten wieder mit Paul alleine zu verbringen. Sie wollte versuchen, dem Kind zuliebe das Beste daraus zu machen.

Am nächsten Morgen, als Anna erwachte, war alles ganz still. Martin neben ihr schlief noch, also zog sie sich leise an und ging in die Küche. Es war Sonntag und noch sehr früh am Morgen, sodass die ganze Nachbarschaft noch zu schlafen schien. Kein Geräusch war zu hören. Anna stand gerne früh auf. Sie liebte diesen Moment, wenn alles um sie herum noch schlief. Es war die einzige Zeit am Tag, die sie nur für sich hatte und bei einer Tasse Kaffee genießen konnte. Sie saß dann immer ganz still am Küchentisch, der vor dem Fenster stand, und richtete ihren Blick auf das weite Feld. An diesem Morgen sah sie den treibenden Schneeflocken zu, die am Fenster scheinbar schwerelos vorbeischwebten. Dieser Anblick hatte einfach etwas Magisches, dem sie bis heute nicht entfliehen konnte. Schon als kleines Kind hatte sie stundenlang den Schneeflocken zugesehen. Es hatte sie an einige der Märchen erinnert, die ihre Mutter immer vorgelesen hatte. Der Kaffee, den sie in aller Ruhe trank, wärmte nicht nur ihren Magen, sondern auch ihr Herz. Es war nicht viel, was sie für sich selbst beanspruchte. Aber dieser war jener Moment des Tages, den sie mit niemandem teilen wollte. Er gehörte nur ihr ganz allein. Sie brauchte das einfach, um die Hektik der Tage gut zu überstehen. Es war oft nicht leicht, alles unter einen Hut zu bringen und die Verantwortung für alles weitgehend alleine zu tragen. Und es war nicht möglich, Martin wegen jeder Kleinigkeit um Rat zu fragen. Das hätte ihn zu sehr belastet, deshalb entschied sie alleine, was getan werden musste. Nur bei größeren Entscheidungen beriet sie mit ihm, wenn er dann zu Hause war. Doch es war auch oft so, dass Martin sich einfach auf ihre Weisheit verließ, und sagte: „Ach, Schatz, entscheide du das, ich weiß, dass du die richtige Entscheidung treffen wirst.“ Dann lächelte er stets, strich ihr ihre Strähne aus dem Gesicht und küsste sie liebevoll. Das war nicht selten das Einzige, was er dazu beitrug, wenn sie mit ihm etwas ausführlich besprechen wollte. Auf diese Art musste er sich nicht mit Dingen auseinandersetzen, die ihm nicht wichtig erschienen. Seine Arbeit war schon kräfteraubend genug und forderte seine ganze Aufmerksamkeit. Deshalb überließ er es lieber seiner Frau, sich um alle anderen Belange zu kümmern.

 

Anna wusste das. Sie kannte ihn nur zu gut. Deshalb wusste sie auch, dass es keinen Sinn hatte, in so einem Fall noch länger mit ihm darüber zu sprechen. Auch wenn sie selbst darüber nicht sehr glücklich war. Ihrer Meinung nach sollten sie über alles reden und gemeinsam entscheiden. Nicht nur sie alleine. Aber das war Martin nun Mal einfach zu viel. So war er eben. Und das würde sich wohl auch niemals ändern.

Das Schneetreiben war stärker geworden. Anna konnte vom Fenster aus kaum noch den Wald sehen, der an das Feld grenze. Als sie plötzlich etwas in der Ferne vorbeihuschen sah, erregte das ihre Aufmerksamkeit so sehr, dass sie ihre Gedanken abrupt unterbrach und den Blick auf die Stelle gerichtet hielt, wo sie es bemerkt hatte. Was war das? Anna stand von ihrem Stuhl auf und versuchte, durch das dichte Schneetreiben hindurch etwas zu erkennen. Da sie jedoch kaum noch etwas sehen konnte, beschloss sie, nachzusehen, was das war. Irgendetwas zog sie förmlich dort hinaus. Sie schlüpfte hastig in ihren Daunenmantel, Fellstiefel, zog sich eine dicke rote Mütze über den Kopf und schloss leise die Haustüre hinter sich. Dann stapfte sie, durch den inzwischen gut einen halben Meter hohen Schnee, über das Feld in Richtung der Stelle, die sie vermutete. Anna musste sich die Hand vor Augen halten, weil sie fast nichts mehr sehen konnte. Der Wind trieb ihr den kalten Schnee ins Gesicht, sodass sie große Mühe hatte, die Richtung zu halten. Doch nachdem sie einige Zeit herumgelaufen war, sah sie plötzlich etwas im Schnee. Sie konnte es kaum erkennen, dieses regungslose Fellknäuel, das ihr mit ängstlichen Äuglein entgegenblickte. Erst als sie sich bückte, erkannte sie, dass es ein kleiner weißer Hase war, der da zitternd vor Angst im Schnee lag. Anna tastete ihn ganz behutsam ab und bemerkte, dass einer seiner Hinterläufe verletzt war. Also versuchte sie, ihn zu beruhigen, indem sie ihn vorsichtig streichelte. Dann hob sie ihn hoch und trug ihn durch das dichte Schneetreiben nach Hause. Sie spürte sein immenses Zittern noch durch ihre dicke Jacke hindurch. Als sie das Haus erreicht hatten, musste sie ihn dann auf einen Arm nehmen, um an den Schlüssel in ihrer Jackentasche zu kommen. Das Fellbündel zuckte sofort wieder zusammen und bibberte noch mehr. „Hab keine Angst, ich tu dir doch nichts, ich will dir doch nur helfen“, sagte sie zu ihm mit leiser Stimme.

Im Haus war es noch ganz still. Martin und Paul schienen noch zu schlafen. Also trug sie den Hasen leise in die Küche und legte ihn vorsichtig auf den Boden. Zitternd sah er sie an und bewegte sich nicht. Dann holte sie aus der Abstellkammer einen alten Korb und eine alte Decke, die sie hineinlegte. Als sie in die Küche zurückkam, lag der Hase noch immer regungslos auf demselben Platz, wo sie ihn abgelegt hatte. Sie hob ihn behutsam auf und legte ihn dann in den Korb. Dann betrachtete sie seinen Hinterlauf etwas genauer. Er zuckte sofort zusammen, als sie sein Bein berührte. Es schien, als wäre der Hase von einem Tier gebissen worden. Getrocknetes Blut klebte überall auf seinem verletzten Bein. Anna wurde sofort klar, dass er einen Tierarzt brauchte. Aber es war Sonntag. Es würde also nicht leicht werden, einen zu finden. Sie lebten in einer Kleinstadt, in der am Wochenende stets alles geschlossen war. Anna holte das Verbandszeug und wickelte einstweilen vorsichtig eine Binde um sein Bein. Dann schnappte sie sich die Zeitung und suchte nach dem nächstgelegenen Tierarzt, der auch am Wochenende Dienst hatte. Plötzlich hörte sie leise Schritte am Gang. Sie wandte sich zur Tür um, durch die gerade Paul sein verschlafenes Gesicht steckte. „Mama? Was machst du denn da?“, fragte er verwundert. „Ich habe einen verletzten Hasen gefunden, der unsere Hilfe braucht, um zu überleben“ sagte sie leise. Da war Paul plötzlich hellwach und seine Augen begannen zu leuchten. „Was? Ein Hase?! Woher hast du ihn?“ „Ich habe etwas vom Küchenfenster aus sehen können. Allerdings wusste ich da noch nicht, was es war, und ging dann auf die Suche, bis ich dieses kleine Fellbündel hier gefunden habe. Er ist am Bein verletzt und braucht unbedingt einen Tierarzt.“ Paul war ganz plötzlich auf einen Schlag wie verwandelt. Er bückte sich über das Körbchen, streichelte von da ab unablässig den kleinen weißen Hasen und war nicht mehr davon wegzubewegen. Er wich ihm keine Minute mehr von der Seite. „Willst du dich nicht mal anziehen Paul und dann frühstücken?“, fragte Anna. Paul schüttelte den Kopf. „Nein, ich bleibe bei ihm, er braucht mich jetzt“, sagte er felsenfest. Anna zuckte seufzend mit den Schultern. Wenn Paul sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es sinnlos, ihn von etwas anderem zu überzeugen. Also beschloss sie, Martin aufzuwecken, damit sie bald zu dem Tierarzt fahren konnten, den sie in der Zeitung gefunden hatte.

„Martin steh bitte auf, wir haben ein kleines Problem!“, sagte sie leise, als sie sich auf das Bett gesetzt hatte. Ihr Mann drehte sich noch verschlafen zu ihr um und sah sie fragend an. „Was?“ „Es geht um einen kleinen Hasen, der verletzt ist und den wir zu einem Tierarzt fahren müssen, sonst hat er wohl kaum eine Überlebenschance. Und Paul rührt sich nicht mehr von seiner Seite, also lass uns bitte möglichst bald dorthin fahren.“ Martin sah sie sehr verwundert an. „Woher hast du denn den?“ „Ich habe ihn auf dem Feld entdeckt.“ „Ok, ich komme gleich, aber ich will erst noch frühstücken, bevor wir uns auf den Weg machen, Schatz.“ Anna nickte und ging zurück in die Küche, wo Paul unablässig den Hasen streichelte und leise auf ihn einredete. Seine Augen waren von einem seltsamen Glanz erfüllt, den Anna noch nie bei ihm gesehen hatte. „Er heißt jetzt Mr. Christmas“, teilte ihr Paul mit bestimmter Stimme mit. Anna musste lachen. „Mr. Christmas? Warum denn das?“ „Na, weil es doch bald Weihnachten ist und er genauso zu mir kam wie das Christkind in der Geschichte, die du mir früher immer vorgelesen hast. Da hieß es doch: „…kam aus dem Wald durch den tiefen Schnee gestapft“… Anna lachte abermals. „Aber stapfen würde er wohl nicht, sondern herumhoppeln. Das kann man wohl kaum mit dem Christkind vergleichen.“ Paul schüttelte demonstrativ seinen Kopf. „Egal, er heißt jetzt Mr. Christmas! Es gibt keinen anderen Namen für ihn.“ Anna gab lachend nach und zu bedenken: „Aber es kann gut möglich sein, dass er irgendwo weggelaufen ist. Es ist kein Feldhase, sondern ein Zwerghase, der vielleicht schon von irgendjemandem vermisst wird. Das heißt auch, dass wir seine Besitzer suchen müssen, um ihn dann zurückzugeben.“ Paul sah sie entrüstet an. „Was?? Nein ich will ihn behalten! Ich gebe ihn ganz bestimmt nicht mehr her! Hätten sie besser auf ihn aufgepasst, wäre er jetzt nicht verletzt! Sie haben kein Recht, ihn mir wegzunehmen!“ Zorn blitzte in seinen Augen auf und er schnaubte entrüstet durch die Nase. Anna vermied es, ihm zu widersprechen. Sie wollte erst den Tierarzt abwarten und dann mit Martin besprechen, was zu tun war. „Gut, Paul, jetzt müssen wir erst einmal zum Tierarzt. Du solltest dich jetzt anziehen, wenn du mitfahren möchtest. Papa kommt gleich zum Frühstück und ich möchte, dass du auch noch etwas isst, bevor wir losfahren, weil es gut sein kann, dass wir etwas länger unterwegs sind. Die Straßen sind dicht verschneit und es wird viel Verkehr sein. Das heißt, es kann länger dauern, bis wir wieder zu Hause sind.“ Paul sah sie an, überlegte kurz, dann nickte er stumm. Er stand auf und ging ohne Widerrede in sein Zimmer, um sich anzuziehen, ohne dass Anna auch nur ein weiteres Wort sagen musste. Verwundert sah Anna ihm nach. Das hatte sie nicht erwartet. Woher kam diese plötzliche Wandlung? Sie hatte die üblichen ewigen Diskussionen mit ihm erwartet, aber diese Reaktion ganz bestimmt nicht.

„Seltsam“, dachte sie, „alles nur des kleinen Hasens wegen?“ Sie fing an, das Frühstück vorzubereiten, und warf immer wieder einen prüfenden Blick zu dem Tier im Korb, um zu sehen, ob es ihm auch gut ging. Als sie dann alle drei beim Frühstückstisch saßen, verhielt sich Paul anders als sonst. Ganz entgegen seiner sonstigen Gewohnheit sprach er kein einziges Wort. Er aß stumm sein Frühstück und beobachtete Mr. Christmas mit sorgenvollem Blick.

Danach fuhren sie los in die nächst größere Stadt, wo dieser Tierarzt aus der Zeitung seine Praxis hatte. Mr. Christmas lag in dem Korb neben Paul auf dem Rücksitz und schien teilnahmslos. Seine Augen wirkten leer und Paul spürte, dass etwas mit ihm nicht stimmte. „Papa, fahr bitte schneller, es geht ihm nicht gut!“, rief Paul ängstlich. „Ich sehe, was ich tun kann Paul, aber du siehst ja,…der Verkehr“,… gab Martin zurück. Die Straßen waren verstopft und es ging nur langsam vorwärts.

Paul betrachtete die Weihnachtsdekorationen der Häuser, die an ihnen vorbeizogen. Er überlegte, was sein Religionslehrer, Pfarrer Berger, in der Schule gesagt hatte. Wenn man seine Hilfe brauchte, musste man nur zum Vater im Himmel beten. Paul hatte noch viel zu wenig Ahnung davon. Er fragte sich, wie denn so ein kleines Kind, das doch erst an Weihnachten auf die Welt kommen sollte, ihm dabei helfen konnte. Sein Religionslehrer hatte zu ihnen gesagt, dass man den Herrn Jesus immer um alles bitten dürfte, was ihnen auf dem Herzen lag. Nie zuvor hatte er sich darüber näher Gedanken gemacht. Er mochte zwar den Religionsunterricht, weil da auch viel gezeichnet wurde, hatte aber bis dahin kein wirklich großes Interesse gezeigt. Umso mehr erstaunte Pauls Frage nun seine Eltern. „Was muss ich tun, wenn ich den lieben Gott wegen Mr. Christmas um seine Hilfe bitten will?“ Martin und Anna wechselten überrascht ihre Blicke. Auch sie waren nie besonders religiös gewesen und hatten deshalb keine Antwort für ihn parat. Anna überlegte. Was sollte sie ihm antworten? Sie hatte sich seit der Schule eigentlich nie mehr mit diesem Thema befasst. Sollte sie ihrem Sohn erzählen, woran sie selbst nicht wirklich glaubte? Würde das nicht seine offene Sicht auf die Welt sehr einschränken? Sie warf Martin einen unsicheren Blick zu. Martin war da anders. Er dachte nicht darüber nach, ob es gut oder schlecht sei, den Jungen in dem Glauben zu lassen. Er handelte einfach nur aus einem Gefühl heraus, als er sagte: „Ich werde mit dir heute beten, wenn wir zu Hause sind, Paul. Vielleicht hat der liebe Gott ja ein Einsehen und hilft dem armen Tier.“ Er warf ihm ein Lächeln durch den Rückspiegel zu und konzentrierte sich dann wieder voll auf die Straße, die vor ihnen lag. Es war für ihn unübersehbar, dass Paul dieses Tier in sein Herz geschlossen hatte. Was sollte er da anderes sagen? Er brachte es nicht übers Herz, ihm seine Hoffnung zu nehmen. Doch er ahnte, dass es auch schon zu spät sein konnte, wenn sie den Tierarzt erreichten. Wenn das geschehen sollte, würde es Paul das Herz brechen. Das wollte er unbedingt vermeiden. Er beschleunigte den Wagen und versuchte schneller voranzukommen. Paul sah auf Mr. Christmas, dessen Atem kaum noch wahrnehmbar war. Es berührte ihn zutiefst, dass es dem Tier so schlecht ging und er fasste sich ein Herz. Er faltete seine Hände, wie der Pfarrer es ihnen gezeigt hatte, und richtete in Gedanken seine Worte an den Herrn im Himmel.

„Du lieber Gott, ich weiß nicht wie ich zu dir beten soll, aber ich brauche heute unbedingt deine Hilfe. Wenn es dich wirklich gibt, dann bitte hilf Mr. Christmas damit er wieder ganz gesund wird. Ich verspreche dir auch dafür, dass ich ab jetzt ganz brav sein werde und Mama und Papa mehr gehorche, wenn sie etwas zu mir sagen. Aber bitte mache ihn wieder gesund!“

Er schluchzte dabei leise und Martin und Anna wunderten sich, was plötzlich mit ihrem Sohn los war. Nie zuvor hatte er solche Fragen gestellt. Bisher hatte er nie etwas anderes im Kopf gehabt als seine Computerspiele. Er saß die meiste Zeit nur in seinem Zimmer, anstatt nach draußen zu gehen und mit den anderen Kindern zu spielen. An diesem Tag hatte er das erste Mal seinen Computer noch nicht einmal berührt, was sonst nie der Fall war.

Still saßen sie alle drei im Auto und hingen ihren Gedanken nach, bis sie schließlich eine halbe Stunde später bei der Tierarztpraxis eintrafen.

Dr. Müller, der Tierarzt, ließ sie nicht lange warten und bat sie, in den Behandlungsraum einzutreten. Anna richtete das Wort an ihn. „Guten Tag, Dr. Müller. Ich habe heute auf dem Feld diesen kleinen verletzten Hasen gefunden. Ich habe keine Ahnung, wem der gehört, ich dachte, wir bringen ihn am besten gleich zu ihnen, sonst überlebt er vielleicht nicht.“ Pauls Gesicht war sehr angespannt und er beobachtete jede Bewegung des Arztes ganz genau. Dr. Müller nickte und sagte: „Gut, dann lassen sie mal sehen, was ich tun kann.“ Er nahm das Tier ganz vorsichtig aus dem Korb und legte es auf den Behandlungstisch, um ihn zu untersuchen. Er besah seine Wunde und sagte dann mit wenig hoffnungsvollen Worten: „Er hat schon sehr viel Blut verloren. Da habe ich keine große Hoffnung, dass er es schaffen wird. Aber ich werde jetzt erst mal die Wunde versorgen und ihm ein Medikament geben. Dann sehen wir weiter.“ Anna und Martin nickten stumm. Man konnte nur noch hoffen. Dr. Müller reinigte die Wunde am Hinterlauf, nähte die Bissstelle zu, und legte dann einen Verband darum. Paul zuckte zusammen, als er Mr. Christmas mit einer Nadel die an einem Schlauch hing, stach. Es war fast so, als würde er ihn stechen. Dann lag der kleine weiße Hase völlig regungslos auf dem Tisch und man konnte ihn kaum noch atmen sehen. „Jetzt können wir nur noch abwarten“, sagte Dr. Müller. „Am besten sie lassen ihn hier bei mir! Sie können jetzt nach Hause fahren, ich rufe sie dann an, sobald ich mehr weiß. Ich werde auch noch nachsehen, ob ihn jemand als vermisst gemeldet hat.“ Pauls Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. „Aber ich will ihn nicht alleine lassen! Er braucht mich doch!“, rief er aufgeregt.

 

Anna und Martin sahen sich bedeutungsvoll an und deren Blick entging Dr. Müller nicht. Er kannte solche Reaktionen und versuchte Paul, dann zu überzeugen, dass es so das Beste für das Tier war. „Hör mal mein Junge!“, sagte er zu ihm, „der kleine Hase wurde sehr schwer verletzt und es besteht keine große Chance, dass er es überlebt. Aber ich werde mein Bestes dafür tun, solange er hier ist. Und sollte es ihm besser gehen, werde ich euch sofort anrufen, damit ihr ihn abholen kommen könnt. Versprochen.“

Paul starrte den Tierarzt an, als ob er einen Geist gesehen hätte. Er hatte doch zu Gott gebetet! Warum half er ihm denn nicht? Er wollte Mr. Christmas auf keinen Fall wieder hergeben. Und er hoffte so sehr, dass er wieder gesund werden würde. Tränen rannen über seine Wangen, als sie die Arztpraxis verließen und sich auf den Rückweg machten. Er sagte die ganze Fahrt über kein einziges Wort mehr. Er hatte nur noch eine ganz kleine Hoffnung, dass ihn Dr. Müller vielleicht doch noch irgendwie gesund machen konnte.

Martin und Anna stiegen aus dem Wagen, als sie zu Hause angekommen waren. Paul wollte erst gar nicht aussteigen. „Komm schon Paul, es wird sicher noch ein wenig dauern, bis Dr. Müller anruft, so schnell geht das nicht“, versuchte Martin seinen Sohn zu überzeugen. „Erinnere dich als du krank warst, das hat auch einige Tage gedauert, bis du dich wieder erholt hattest. Und so lange kannst du ja nicht im Wagen warten.“ Paul sah ihn wortlos an, überlegte kurz und stieg dann doch aus. Er verzog sich anschließend in sein Zimmer und legte sich auf sein Bett. Da starrte er dann stundenlang auf die Decke und verweigerte alles, was sie ihm vorschlugen. Er wollte nur eines, Mr. Christmas!

Es war bereits Abend geworden, als Martin Pauls Zimmer betrat. Er setzte sich zu Paul aufs Bett und überlegte, wie er ihn überzeugen konnte, zum Abendessen zu kommen. Paul wandte sich ihm zu und Martin sah den traurigen Ausdruck in seinen Augen. Er überlegte sich vorher ganz genau, was er ihm dann sagte: „Weißt du Paul, im Leben ist nicht immer alles so wie wir uns das wünschen würden. Es gibt auch Situationen, die uns sehr traurig machen und die wir nicht ändern können. Aber es liegt an uns selbst, was wir daraus machen, ob wir uns der Wut und dem Zorn hingeben oder versuchen das Beste daraus zu machen. Es bringt uns nicht weiter, wenn wir uns davon so beeinflussen lassen, dass es uns innerlich auffrisst. Viel besser ist es, wenn wir für uns den besten Weg finden, um damit besser umgehen zu können.“ Paul sah ihn etwas verwundert an. Er verstand wohl nicht wirklich, was sein Vater ihm sagen wollte. Martin überlegte kurz, dann fuhr er fort. „Sieh mal, dieser kleine Hase ist schwer verletzt worden und hat sehr viel Blut verloren. Auch der Tierarzt kann bei so einem kleinen Tier nicht viel tun. Es liegt nicht in unseren Händen, ob er es schafft, zu überleben. Aber ich habe dir heute schon gesagt, dass ich mit dir gerne darum beten werde, wenn du das noch möchtest. Vielleicht kann ihm ja der liebe Gott helfen und ihn wieder ganz gesund machen.“ Paul sah ihn an und sagte: „Ja, das will ich.“ Martin nickte. „Gut, dann komm, setz dich her zu mir, wir wollen gemeinsam ein Gebet für ihn sprechen.“

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