Der Mann, der alles sah

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Der Mann, der alles sah
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Deborah Levy

Der Mann, der alles sah

Roman

Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke

Kampa

Poetische Gedanken sind nicht wie wurzellose Orchideen in einem Treibhaus gewachsen und bei der Konfrontation mit heutigen Traumata verblasst.

Karel Teige, Der Schießstand (1946)

Menschen fotografieren heißt ihnen Gewalt antun, indem man sie so sieht, wie sie selbst sich niemals sehen, indem man etwas von ihnen erfährt, was sie selbst nie erfahren; es verwandelt Menschen in Objekte, die man symbolisch besitzen kann.

Susan Sontag, »In Platos Höhle«, aus Über Fotografie (1977, übers. v. Gertrud Baruch)

Die Sache ist die, Saul Adler: Als ich dreiundzwanzig war, gefiel es mir, wie du mich berührt hast, aber wenn der Nachmittag heranglitt und du aus mir herausgeglitten bist, hast du dich schon nach einer anderen umgeschaut. Nein, die Sache ist die, Jennifer Moreau: Ich habe dich jede Nacht und jeden Tag geliebt, aber dir hat meine Liebe Angst gemacht, und auch mir hat meine Liebe Angst gemacht. Nein, sagte sie, mir hat dein Neid Angst gemacht, der größer war als deine Liebe. Achtung, Saul Adler. Achtung! Schau nach links und nach rechts, geh über die Straße auf die andere Seite.

1 Abbey Road, London, September 1988

Ich habe daran gedacht, dass Jennifer Moreau mir einmal gesagt hat, ich dürfe ihre Schönheit niemals beschreiben, weder ihr noch einem anderen gegenüber. Als ich sie danach fragte, warum ich auf diese Weise zum Schweigen verdammt wurde, sagte sie: »Weil du nur alte Worte hast, um mich zu beschreiben.« Das beschäftigte mich, als ich den schwarz-weißen Zebrastreifen betrat, vor dem alle Fahrzeuge anhalten müssen, damit die Fußgänger die Straße überqueren können. Ein Auto kam auf mich zu, hielt aber nicht an. Ich musste zurückspringen und fiel auf die Hüfte, wobei ich mich mit den Händen abstützte. Das Auto blieb stehen, und ein Mann ließ das Fenster herunter. Er war in den Sechzigern, silbernes Haar, dunkle Augen, dünne Lippen. Er erkundigte sich, ob es mir gut ginge. Als ich nicht antwortete, stieg er aus.

»Verzeihung«, sagte er. »Sie sind auf den Zebrastreifen gelaufen, ich bin vom Gas runter und wollte anhalten, aber dann haben Sie es sich anders überlegt und sind zum Straßenrand zurückgekehrt.« Seine Lider zuckten in den Augenwinkeln. »Und dann sind Sie unvermittelt auf den Zebrastreifen getaumelt.«

Ich lächelte über seine minutiöse Darstellung des Geschehens, offensichtlich zu seinen Gunsten. Verstohlen musterte er sein Auto, um zu prüfen, ob es beschädigt worden war. Der Außenspiegel war zersplittert. Seine dünnen Lippen teilten sich, er seufzte sorgenvoll und murmelte etwas in der Art, dass er den Spiegel aus Mailand habe kommen lassen.

Ich war die ganze Nacht aufgeblieben und hatte einen Vortrag über die Psychologie männlicher Tyrannen geschrieben. Begonnen hatte ich ihn mit einer Angewohnheit Stalins, der Frauen über den Esstisch hinweg Brot zuschnipste, wenn er mit ihnen flirtete. Meine Notizen, ungefähr fünf Seiten, waren aus meiner ledernen Umhängetasche gefallen, und peinlicherweise auch ein Päckchen Kondome. Ich begann sie aufzulesen. Ein kleines, flaches, rechteckiges Ding lag auf der Straße. Ich bemerkte, dass der Fahrer auf meine Fingerknöchel sah, als ich ihm das Ding reichte, das sich warm anfühlte und in meiner Hand zu vibrieren schien. Mir gehörte es nicht, daher nahm ich an, dass es ihm gehörte. Blut tropfte zwischen meinen Fingern hindurch. Meine Handflächen waren aufgeschunden, und da war eine Schnittwunde auf dem Knöchel der linken Hand. Ich saugte daran, während er mich, deutlich besorgt, beobachtete.

»Kann ich Sie irgendwohin mitnehmen?«

»Es geht mir gut.«

Er bot mir an, mich zu einer Apotheke zu fahren, damit »die Wunde versorgt« werden könne, wie er es ausdrückte. Als ich den Kopf schüttelte, streckte er die Hand aus und berührte mein Haar, was eigenartig tröstlich war. Er fragte mich nach meinem Namen.

»Saul Adler. Sehen Sie, es ist nur ein Kratzer. Ich habe dünne Haut. Ich blute immer stark, es hat nichts zu bedeuten.«

Er hielt den linken Arm auf seltsame Weise und stützte ihn mit dem rechten. Ich sammelte die Kondome auf und schob sie in meine Jacketttasche. Ein Wind kam auf. Das unter den Bäumen zu kleinen Haufen zusammengekehrte Laub wehte über die Straße. Der Fahrer erzählte mir, dass es wegen einer Demonstration an diesem Tag in London eine Umleitung gegeben habe und er sich gefragt habe, ob die Abbey Road gesperrt sei. Die Umleitung sei nicht deutlich genug ausgeschildert gewesen. Er verstehe nicht, warum er sich habe verwirren lassen, weil er oft hier entlangkomme, um ganz in der Nähe im Lord’s Kricket zu gucken. Während er sprach, schaute er auf das rechteckige Ding in seiner Hand.

Das Ding sprach. Es gab definitiv eine Stimme im Inneren, die Stimme eines Mannes, und er sagte etwas Zorniges und Beleidigendes. Wir gaben beide vor, seine Worte nicht zu hören.

Verpiss dich ich hasse dich komm nicht nach Hause.

»Wie alt sind Sie, Soorl? Können Sie mir sagen, wo Sie wohnen?«

Ich glaube, der Fast-Zusammenstoß hatte den Fahrer wirklich erschreckt.

Als ich ihm mitteilte, ich sei achtundzwanzig, glaubte er mir nicht und erkundigte sich noch einmal nach meinem Alter. Er war so vornehm, dass er meinen Namen aussprach, als steckte ein Kiesel zwischen Gaumen und Unterlippe. Sein silbernes Haar war nach hinten frisiert, mit einem Stylingprodukt, das es glänzen ließ.

Im Gegenzug fragte ich ihn nach seinem Namen.

»Wolfgang«, sagte er sehr schnell, als wollte er verhindern, dass ich ihn mir einprägte.

»Wie Mozart«, sagte ich, und dann, ähnlich einem Kind, das dem Vater zeigt, wo es sich verletzt hat, als es von der Schaukel fiel, zeigte ich auf die Schnittwunde auf meinem Knöchel und sagte noch einmal, dass es mir gut gehe. Wegen seines besorgten Tons war ich inzwischen fast den Tränen nahe. Ich wollte, dass er wegfuhr und mich allein ließ. Vielleicht hatten die Tränen etwas mit dem kürzlichen Tod meines Vaters zu tun, obwohl mein Vater nicht so gepflegt oder freundlich gewesen war wie Wolfgang mit dem glänzenden Silberhaar. Um seine Abfahrt zu beschleunigen, erklärte ich ihm, dass meine Freundin jede Minute eintreffen müsse, er brauche also nicht zu warten. Sie werde nämlich ein Foto von mir machen, wie ich auf den Zebrastreifen trete, ganz nach dem Vorbild des Fotos auf dem Beatles-Album.

»Um welches Album handelt es sich, Soorl?«

»Es heißt Abbey Road. Das kennt doch jeder. Wo sind Sie denn gewesen, Wolfgang?«

Er lachte, sah aber traurig aus. Vielleicht wegen der beleidigenden Worte, die aus dem Inneren des vibrierenden Dings in seiner Hand gekommen waren.

»Und wie alt ist Ihre Freundin?«

»Dreiundzwanzig. Übrigens war Abbey Road das letzte Album der Beatles, das sie gemeinsam in den EMI-Studios aufgenommen haben, die gleich da drüben sind.« Ich zeigte auf ein großes weißes Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

»Natürlich, das weiß ich«, sagte er traurig. »Die sind fast so berühmt wie der Buckingham-Palast.« Er ging zurück zu seinem Auto und murmelte: »Passen Sie auf sich auf, Soorl. Sie haben Glück mit einer so jungen Freundin. Was machen Sie übrigens beruflich?«

Ich fing an, mich über seine Kommentare und Fragen zu ärgern – auch darüber, wie er seufzte, als trüge er das Gewicht der Welt auf den Schultern seines beigen Kaschmirmantels. Ich beschloss, nicht zu offenbaren, dass ich Historiker und mein Forschungsgebiet das kommunistische Osteuropa war.

Es war eine Erleichterung, das animalische Aufheulen seines Motors zu hören, als ich wieder auf den Fußweg trat.

Wenn man bedenkt, dass er es war, der mich beinah umgefahren hatte, war er vielleicht eher derjenige, der besser aufpassen sollte. Ich winkte ihm, doch er winkte nicht zurück. Und was meine junge Freundin angeht, so war ich bloß fünf Jahre älter als Jennifer, was sollte da seine Bemerkung? Und warum wollte er ihr Alter wissen? Oder was ich »beruflich mache«?

Egal. Ich blickte auf die Notizen in meiner Hand (die immer noch blutete), wo ich aufgeschrieben hatte, dass Stalins Vater Alkoholiker gewesen war und seine Familie misshandelt hatte. Stalins Mutter hatte ihren Sohn Josef in einer griechisch-orthodoxen Priesterschule angemeldet, um ihn vor dem Zorn seines Vaters zu schützen, nachdem er versucht hatte, sie zu erwürgen. Ich konnte meine eigene Handschrift kaum lesen, doch ich hatte eine Passage unterstrichen, die davon handelte, dass Stalin Menschen immer wieder sowohl für ihre bewussten als auch ihre unbewussten Sünden bestrafte – wie zum Beispiel Gedankenverbrechen gegen die Partei.

Meine linke Hüfte tat jetzt weh.

Passen Sie auf sich auf, Soorl. Danke für den Rat, Wolfgang.

Zurück zu meinen Notizen, die jetzt mit Blut von meinem Knöchel beschmiert waren. Josef Stalin (ich hatte das spätnachts geschrieben) bereitete es stets Vergnügen, jemanden zu bestrafen. Er tyrannisierte sogar den eigenen Sohn – mit solcher Grausamkeit, dass der sich zu erschießen versuchte. Stalins Frau erschoss sich auch selbst, erfolgreicher als ihr Sohn, der im Gegensatz zu seiner Mutter am Leben blieb, um von seinem Vater immer wieder tyrannisiert zu werden. Mein eigener verstorbener Vater ist nicht gerade ein Tyrann gewesen. Diese Aufgabe überließ er meinem Bruder Matthew, der immer ein wenig Grausamkeit in petto hatte. Wie Stalin hatte Matthew es auf die eigenen Familienmitglieder abgesehen oder sorgte dafür, ihr Leben so erbärmlich zu machen, dass sie sich schließlich selbst Schaden zufügten.

Ich saß auf der Mauer vor den EMI-Studios und wartete auf Jennifer. In drei Tagen würde ich nach Ostdeutschland reisen, in die DDR, um an der Humboldt-Universität über die kulturelle Opposition gegen den aufsteigenden Faschismus in den 1930er Jahren zu forschen. Obwohl ich ziemlich fließend Deutsch sprach, hatte man mir einen Dolmetscher zugewiesen. Er hieß Walter Müller. Ich sollte zwei Wochen bei seiner Mutter und Schwester wohnen, die mir ein Zimmer in ihrer Mietwohnung in Ostberlin in der Nähe der Universität angeboten hatten. Walter Müller war ein Grund dafür, dass ich auf dem Zebrastreifen fast überfahren worden wäre. Er hatte mir geschrieben und mitgeteilt, dass seine Schwester, die Katrin hieß – aber die Familie nannte sie Luna –, ein großer Beatles-Fan sei. Seit den 1970ern durften Alben sowohl der Beatles als auch von Bob Dylan in der DDR erscheinen, anders als in den 1950ern und -60ern, als Popmusik von der herrschenden Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands als kulturelle Waffe zur Korrumpierung der Jugend angesehen worden war. Funktionäre waren verpflichtet, alle Texte zu prüfen, bevor die Alben veröffentlicht werden konnten.

 

Yeah yeah yeah. Was konnte das wohl bedeuten? Was wurde dort bejaht?

Es war Jennifers Idee gewesen, ein Foto von mir beim Überqueren des Zebrastreifens auf der Abbey Road für Luna zu machen. Vor einer Woche hatte sie mich gebeten, ihr das ganze Konzept der DDR zu erklären, aber ich wurde abgelenkt. Wir hatten damals in der Küche ihrer Wohnung Erdnüsse karamellisiert, und ich hatte den Zucker anbrennen lassen. Das Rezept war ziemlich kompliziert, und es wies uns an, die Erdnüsse zum kochenden Zuckersirup hinzuzufügen und sie dann in der Herdröhre zu rösten. Jennifer verstand nicht, wie die Menschen eines ganzen Landes hinter einer Mauer eingesperrt werden konnten und nicht ausreisen durften. Während ich mich darüber verbreitete, wie es dazu gekommen sei, dass Deutschland ideologisch und real in zwei Länder geteilt worden war, die durch eine Mauer getrennt waren, kommunistisch im Osten, kapitalistisch im Westen, und wie die kommunistische Regierung die Mauer den »antifaschistischen Schutzwall« nannte, schlüpften ihre Finger unter den Bund meiner Jeans. Ich ließ den Zucker anbrennen, und Jennifer hörte mir nicht richtig zu. Wir hatten beide das Interesse an der Deutschen Demokratischen Republik verloren.

Ich sah sie mit einer kleinen Aluminium-Trittleiter auf dem Arm auf mich zukommen. Sie hatte die sowjetische Pilotenkappe auf dem Kopf, die ich ihr auf dem Flohmarkt in der Portobello Road gekauft hatte. Ich küsste sie und erzählte ihr in aller Kürze, was passiert war. Jennifer bereitete eine Ausstellung ihrer Fotografien in der Kunsthochschule vor, hatte sich aber den Nachmittag freigenommen, um »das Foto zu schießen«, wie sie es ausdrückte. An ihrem Ledergürtel war eine Kamera befestigt; eine weitere hing ihr um den Hals. Ich schilderte ihr nicht die Details des Fast-Zusammenstoßes, doch sie bemerkte die Schnittwunde auf meinem Knöchel. »Du hast dünne Haut«, sagte sie. Ich erkundigte mich, warum sie eine Trittleiter mitgebracht hatte. Sie erzählte mir, so sei das Originalfoto von den Beatles auf dem Zebrastreifen der Abbey Road im August 1969 um 11 Uhr 30 entstanden. Der Fotograf, Iain MacMillan, hatte die Leiter neben dem Zebrastreifen aufgestellt, und ein Polizist war dafür bezahlt worden, den Verkehr zu lenken. MacMillan bekam zehn Minuten, um das Foto zu machen. Da ich jedoch in keiner Weise berühmt war, konnten wir die Polizei nicht mal um fünf Minuten bitten und mussten daher schnell arbeiten.

»Ich glaube, es gibt eine Umleitung, und die Abbey Road ist für heute gesperrt.«

Während ich noch sprach, flitzten drei Autos vorbei, gefolgt von einem freien schwarzen Taxi, einem Motorrad, zwei Fahrrädern und einem mit Holzbrettern beladenen Laster.

»Yeah, Saul, sie ist definitiv gesperrt«, sagte sie, während sie an ihrer Kamera herumhantierte. »Ich schätze, du siehst eher wie Mick Ronson aus als wie einer von den Beatles, selbst wenn deine Haare schwarz sind und die von Mick blond.«

Es stimmte, dass meine Haare, die schulterlang waren, von Jennifer vor zwei Tagen im Stil von Bowies Leadgitarristen geschnitten worden waren. Insgeheim war sie stolz auf mein Rockstar-Aussehen, und sie liebte meinen Körper mehr, als ich ihn liebte, was mich sie lieben ließ.

Als die Straße frei war, stellte sie die Leiter an genau der Stelle auf, wo Wolfgang sein Auto hätte anhalten sollen. Während sie hinaufstieg und ihre Kamera bereit machte, schrie sie Anweisungen: »Steck die Hände in die Jackentaschen! Blick nach unten! Blick geradeaus! Okay, lauf jetzt los! Größere Schritte! Los!« Zwei Autos warteten, doch sie hob die Hand, um sie dort zu halten, während sie eine neue Filmrolle einlegte. Als die Autos zu hupen anfingen, verbeugte sie sich oben auf ihrer Leiter großspurig vor ihnen.

2

Um Jennifer für ihre Zeit zu danken, kaufte ich im Fischgeschäft sechs Austern und eine Flasche trockenen Weißwein. Die nächsten Stunden verbrachten wir in ihrem Bett, während ihre Mitbewohnerinnen, Saanvi und Claudia, nicht da waren. Es war eine winzige, dunkle Souterrainwohnung, aber ihnen allen gefiel es dort, und sie schienen gut miteinander auszukommen. Claudia war Veganerin und weichte in der Küche ständig irgendwelche Algen in einer Schüssel mit Wasser ein.

Als wir uns in voller Montur auf ihrem Bett küssten, rutschte ihr immer wieder die Pilotenkappe über die Augen, was mich richtig scharf machte. Ab und zu blitzten in meinem Kopf blaue Lichter auf, doch davon sagte ich Jennifer nichts, die mit meiner Perlenkette spielte, die ich immer um den Hals trug. Als ich schließlich meine weiße Hose auszog, bemerkte sie, dass ich auf dem rechten Oberschenkel einen großen Bluterguss hatte und beide Knie aufgeschürft waren und bluteten.

»Was ist denn nun wirklich passiert, Saul?«

Ich erzählte ihr genauer, wie ich kurz vor ihrem Eintreffen beinah überfahren worden wäre und wie verlegen ich gewesen sei, als ich das Päckchen Kondome aufhob. Sie lachte, schlürfte dann eine Auster und warf die Schale auf den Boden.

»Wir sollten in diesen Austern nach Perlen suchen«, sagte sie. »Vielleicht könnten wir dir noch eine Kette machen?«

Sie wollte wissen, warum ich so erpicht darauf war, nach Ostdeutschland zu fahren, wo seine Bürger doch hinter dieser Mauer feststeckten und die Stasi jeden bespitzelte. Vielleicht war es ja nicht sicher, dorthin zu fahren. Warum führte ich meine Forschung nicht in Westberlin durch, sodass sie mich besuchen konnte und wir in Konzerte gehen und billiges Bier trinken konnten?

Ich bin mir nicht sicher, ob Jennifer wirklich überzeugt davon war, dass ich Wissenschaftler und kein Rockstar war.

»Deine Augen sind so blau«, sagte sie, kletterte auf mich und saß rittlings auf meinen Hüften. »Es ist ganz ungewöhnlich, so tiefschwarze Haare und noch tiefblauere Augen zu haben. Du bist viel hübscher als ich. Ich möchte deinen Schwanz die ganze Zeit in mir haben. Alle in der DDR haben Angst, stimmt’s? Ich begreife immer noch nicht, wie man die Menschen eines ganzen Landes hinter einer Mauer einsperren und sie nicht ausreisen lassen kann.«

Ich roch das süße Ylang-Ylang-Öl, das sie sich immer ins Haar kämmte, bevor sie in die winzige Sauna ging, die zur Souterrainwohnung in der Hamilton Terrace gehörte. Manchmal kam ich abends nach der Arbeit hierher und hörte, wie sie sich mit Claudia und Saanvi in der Sauna unterhielt, während ich am Küchentisch die Essays meiner Studenten benotete. Wenn Jennifer dann endlich aus der Sauna auftauchte, manchmal eine Stunde später, nackt und mit ihrer selbst gemixten Ylang-Ylang-Lotion eingeölt, folterte sie mich oft, indem sie sich zurückhielt und Kamillentee aufbrühte, ein Knäckebrot butterte und sich erst dann auf mich stürzte. Ein hinreißenderes Raubtier hätte ich mir nicht wünschen können, das mich von einem Essay wegzog, in dem mein schlechtester Student zum Schluss eines der berühmtesten Zitate der Welt dem falschen Autor zugeschrieben hatte.

»Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.«

Ich strich Leo Trotzki durch und schrieb Karl Marx hin.

Ich wusste, dass mein Körper Jennifer antörnte, doch ich bekam den Eindruck (während sie meine Finger zu den Stellen führte, deren Berührung sie am meisten erregte), dass sie nicht auf die gleiche Weise an meinem Geist interessiert war. Sie fing an, mir zu erzählen, dass Künstler wie Claude Cahun und Cindy Sherman ihr mehr bedeuteten als Stalin und Erich Honecker (»Nein«, sagte sie, »hier, hier«, und ich spürte, wie sie kam). Danach lag sie neben mir (während ich ihre Finger zu den Stellen leitete, die mich am meisten beglückten), und sie erklärte, dass sie Sylvia Plath Karl Marx vorziehe, obwohl ihr die Zeile im Kommunistischen Manifest gefiel, wo vom Gespenst die Rede ist, das in Europa umgeht. »Ich meine« – sie flüsterte jetzt –, »üblicherweise geht ein Gespenst in einem Haus oder einem Schloss um, aber Marx’ Gespenst ging in einem ganzen Kontinent um. Vielleicht stand das Gespenst ja unter dem Trevi-Brunnen in Rom, um sich von der Plackerei des Herumgeisterns abzukühlen, oder es kaufte irgendeinen Protz in den Versace-Geschäften in Mailand oder besuchte ein Konzert von Nico?« Ob ich wisse, dass Nico mit richtigem Namen Christa geheißen habe (das wollte ich eben jetzt nicht wissen) und dass Nico/Christa, die in Köln geboren sei, ihr Leben lang vom Geräusch der im Krieg fallenden Bomben heimgesucht worden war? Ich wollte auch nicht wissen (und Jennifer hielt mit ihrer Berührung in einem erotisch heißen Moment inne, um zu diesem Gedanken zu kommen), dass in jedem Foto, das sie in der Dunkelkammer entwickelte, ein Gespenst steckte, und ich konnte mich nicht an die Szene im Film Der Himmel über Berlin (den wir vor Kurzem zusammen gesehen hatten) erinnern, in der einer der Engel sagt, er möchte »in die Geschichte der Welt eintreten«, doch jetzt, sagte sie, wünsche sie sich, dass ich das Gespenst in ihr sei.

Wir hatten ziemlich heftigen Sex, und danach hatte ich wirklich Schmerzen. Es war klar, dass mit meiner Hüfte, die gar keinen Bluterguss erkennen ließ, etwas nicht in Ordnung war.

Wir vertrödelten die Zeit, leerten die Flasche Wein und unterhielten uns. Nach einer Weile fragte mich Jennifer, was ich mir am meisten wünschen würde im Leben.

»Ich würde gern meine Mutter wiedersehen.«

Die Antwort war nicht allzu sexy, aber ich wusste, sie würde Jennifers Interesse wecken.

»Dann solltest du sie vielleicht besuchen.«

»Du weißt doch, dass sie tot ist.«

»Geh zum Haus deiner Familie in Bethnal Green und sag mir, was passiert.«

Sie hatte ein Stück Zeichenkohle gefunden und balancierte ein Blatt Papier auf ihren nackten Oberschenkeln.

»Ich sehe Kopfsteinpflaster und eine gotische Universität«, sagte ich.

Ihre Hand bewegte sich nicht über das Blatt.

»Ich dachte, du würdest zeichnen?«

»Na, es gibt keine gotische Universität in Bethnal Green. Ich würde lieber deine Mutter zeichnen als ein Gebäude. Vermisst du sie mehr als deinen Vater?«

Hatte man sich auf jemanden wie Jennifer Moreau eingelassen, bedeutete das Schwerstarbeit. Wir hörten die Wohnungstür zuschlagen.

»Das wird Claudia sein.« Jennifer legte meine Hand auf die Mitte des Papiers und zeichnete mit dem Stück Kohle um meine Finger herum. Ihr Schlafzimmer lag neben der Küche, und wir konnten hören, wie Claudia den Wasserkessel füllte.

Ich lag auf dem Rücken und sah einen Strauß blühender Nesseln in der Zimmerecke auf Jennifers grünem mexikanischem Schreibtisch (aus Stinkholz oder etwas mit finsterem Namen), dazu ihren Pass und einen Stapel Schwarz-Weiß-Fotos. Ich wollte Jennifer sagen, dass ich sie liebe, doch ich dachte, es könnte sie abschrecken.

Plötzlich öffnete sich quietschend die Schlafzimmertür. Claudia, die über Nacht immer Algen einweichte, war nackt, weil sie in die Sauna gehen wollte, und hatte ein pinkfarbenes Handtuch um den Kopf gewickelt. Sie gähnte, langsam, heftig, wohlig, als langweile sie die Welt unendlich, den einen Arm hatte sie über dem Kopf ausgestreckt, während die linke Hand auf ihrem flachen, gebräunten Bauch ruhte.

Ich fragte Jennifer Moreau, ob sie mich heiraten wolle. In diesem Augenblick kam es mir vor, als hätte ich gerade ein Atom gespalten. Sie beugte sich vor und folgte meinem Blick.

»Weißt du, Saul, ich glaube, es ist aus zwischen uns. Wir sollten Schluss machen, aber ich werde dir jedenfalls die Abbey-Road-Fotos schicken. Lass es dir gut gehen in Ostberlin. Hoffentlich klappt es mit deinem Visum.«

 

Sie legte sich neben mich auf das Kissen und zog sich die Pilotenkappe übers Gesicht, damit sie mich nicht ansehen musste.

Ich stieg aus dem Bett, leicht betrunken, und schloss die unzuverlässige Schlafzimmertür, wobei ich über die leere Weinflasche stolperte, die wir auf die zerkratzten Dielen geworfen hatten.

»Dein weißer Anzug liegt auf dem Stuhl«, sagte sie. »Kannst du dich rasch anziehen? Ich muss in die College-Dunkelkammer, ehe sie heute Abend abgeschlossen wird.«

Ich hatte den Anzug im Laurence Corner gekauft, dem Laden für Armee-Überbestände in der Euston Road. Dort hatten die Beatles in den 1960ern ihre Sergeant-Pepper-Jacken gefunden. Ich glaube, mein weißer Anzug war einmal eine Marine-Uniform, was gut passte, da mein Heiratsantrag auf den Meeresgrund gesunken war. Ich war zwischen den leeren Austernschalen mit ihren gezackten scharfen Kanten gestrandet und konnte Jennifer Moreau auf meinen Fingern und Lippen schmecken. Als ich mich neben sie auf das Bett hockte und sie fragte, warum sie plötzlich so zornig auf mich war, schien sie es nicht zu wissen oder zu verstehen oder sich darüber Gedanken zu machen. Sie war ruhig und ziemlich unterkühlt, dachte ich, als hätte sie schon eine ganze Weile darüber nachgedacht.

»Abgesehen von allem anderen hast du mich nicht ein einziges Mal nach meiner Kunst gefragt.«

»Was soll das heißen?« Ich schrie inzwischen. »Dort ist deine Kunst, sie ist an deinen Wänden, dort und dort.« Ich zeigte auf zwei an die Wände ihres Zimmers geklebte Collagen. Eine davon war eine vergrößerte Schwarz-Weiß-Fotografie meines Profils, die über dem Bett hing wie eine religiöse Ikone. Sie hatte den Umriss meiner Lippen mit rotem Filzstift nachgezogen und die Worte KÜSS MICH NICHT hingeschrieben.

»Die ganze Zeit sehe ich mir deine Kunst an.« Ich schrie immer noch. »Ich denke darüber und über dich nach. Ich interessiere mich dafür.«

»Nun, da du so interessiert bist, woran arbeite ich gerade?«

»Weiß ich nicht, du hast es mir nicht erzählt.«

»Du hast nicht gefragt. Also, welche Kamera benutze ich?«

Sie wusste, dass ich keinen blassen Schimmer hatte. Es war auch nicht so, als hätte Jennifer sich besonders für das kommunistische Osteuropa interessiert. Will sagen, sie hatte mich nicht um eine Lektüreliste gebeten, und ich warf ihr das nicht vor.

»O ja«, sagte ich, »du hast ein Negativ von mir gemacht und es dir auf die Schulter geklebt und dich in die Sonne gelegt, dann hast du es abgezogen und hattest so etwas wie ein Tattoo von mir auf deiner Haut.«

Sie lachte. »Es geht immer nur um dich, stimmt’s?«

In gewisser Weise stimmte das. Schließlich fotografierte Jennifer Moreau mich ständig.

Als die quietschende Schlafzimmertür erneut aufsprang, aß Claudia mit einem riesigen Löffel gebackene Bohnen in Tomatensoße direkt aus der Büchse.

»Jennifer« – ich flehte jetzt –, »es tut mir leid. Seit dem Tod meines Vaters habe ich nur versucht, irgendwie durch den Tag zu kommen.«

Wir konnten das Zischen des kochenden Wasserkessels auf der anderen Seite der Tür hören.

»Wie es der Zufall will«, sagte sie, sprang aus dem Bett und schlug die Tür wieder zu, »ist eine Kuratorin aus Amerika in mein Studio gekommen und hat zwei meiner Fotos gekauft. Und sie hat mir für die Zeit nach meinem Examen eine Künstlerresidenz auf Cape Cod in Massachusetts angeboten.«

Deshalb also lag ihr Pass auf dem Schreibtisch.

»Glückwunsch«, sagte ich niedergeschlagen.

Sie sah so begeistert und jung und gemein aus. Wir waren etwas über ein Jahr zusammen, doch mir war klar, dass ich ihr nicht gewachsen war. Als Erstes hatte Jennifer Moreau (französischer Vater, englische Mutter, geboren in Beckenham, Süd-London) mit mir ausgehandelt, dass sie meine erhabene Schönheit (wie sie es ausdrückte) rühmen konnte, wie sie wollte, meine Figur, meine »tiefblauen Augen«, doch ich durfte ihren Körper nie beschreiben oder meiner Bewunderung für ihn Ausdruck verleihen, außer durch Berührungen. Auf diese Weise wollte sie herausfinden, was ich alles für sie empfand und über sie dachte.

Claudia hatte jetzt den heulenden Kessel abgeschaltet. Als ich wieder auf die Wand schaute, entdeckte ich ein auf den bröckelnden Putz geklebtes Foto von Saanvi. Die Souterrainwohnung war feucht, und eine Art Pilz kroch über die Wände von Jennifers Schlafzimmer. Auf dem Foto schwitzte Saanvi auf der Seite liegend in der Sauna. Sie las ein Buch, ihre linke Brustwarze war mit einem kleinen Goldring gepierct.

»Mach dich auf den Weg, Saul. Ich weiß nicht, warum du hier noch herumhängst.«

Jennifer zog einen Kimono mit einem auf den Rücken gestickten Drachen an und fuhr mit den Füßen in ihre Lieblingssandalen, die aus Autoreifen hergestellt waren.

Sie warf mich praktisch hinaus.

Ich fummelte eine ganze Weile am Riegel des Eingangstors herum. Nie schaffte ich es durch dieses Tor – weder rein noch raus; ich hatte beobachtet, wie Jennifer und Claudia darüber hinwegsprangen, wenn sie spät dran waren für ihre Seminare. Ihre andere Mitbewohnerin, Saanvi, hatte kein Problem mit dem Riegel, weil sie geduldig war, aber Jennifer sagte, das sei so, weil sie einen Hochschulabschluss in höherer Mathematik habe und eine Menge über unbegrenzte Zeit wisse.

Die Spätnachmittagssonne tat meinen Augen weh. Meinen tiefblauen Augen. Ich drehte mich plötzlich um, weil ich das Gefühl hatte, Jennifer beobachte mich. Und so war es. Mit einer Kamera in der Hand. In ihrem Drachenkimono und den Sandalen aus Autoreifen stand sie vor der Eingangstür, noch erhitzt vom Liebesspiel mit mir, ihre linke Hand suchte in den Taschen nach den Geleebonbons, die sie immer dort hatte. Ihre Kamera war auf mich gerichtet. Während sie summte und klickte, sagte Jennifer ziemlich theatralisch: »Mach’s gut, Saul. Du bleibst für immer meine Muse.«

Einen Augenblick dachte ich, sie würde mir ein Geleebonbon zuwerfen, wie Zirkusdompteure ihren auftretenden Tieren Leckerli zuwerfen, wenn sie durch einen brennenden Reifen gesprungen sind.

»Ich lasse dir die Abbey-Road-Fotos vor deiner Abreise zukommen. Wegen deines Vaters tut es mir leid. Hoffentlich fühlst du dich bald besser, und vergiss die Dose Ananas für deinen Dolmetscher nicht.«

Die Abbey Road war zwölf Minuten zu Fuß von der Hamilton Terrace entfernt. Irgendetwas zwang mich, zum Ort des Fast-Unfalls zurückzukehren. Ich musste langsam gehen, weil ich merkte, dass ich hinkte und mein weißes Jackett an der Schulter einen Riss hatte. Jennifer Moreau war ohne Mitleid und wusste offenbar viel über mein Leben. Woher wusste sie, dass Walter Müller mich gebeten hatte, eine Dose Ananas in die DDR mitzubringen? Ich konnte mich nicht erinnern, ob ich es ihr erzählt oder ob sie danach gefragt hatte. Es stimmte, dass sie mich vor drei Wochen zur Beerdigung meines Vaters begleitet hatte, sie wusste also von seinem Tod. Ihr eigener Vater war gestorben, als sie zwölf war, so wie ich beim Tod meiner Mutter. Wir hatten uns oft darüber unterhalten, wie es war, im selben Alter ein Elternteil verloren zu haben. Es war etwas Verbindendes zwischen uns, obwohl sie dachte, der Tod ihres Vaters hätte sie befreit, weil er ihr nie erlaubt hätte, die Kunsthochschule zu besuchen. Ich war mir nicht sicher, ob mich der Tod meiner Mutter befreit hatte. Nein, ich konnte nichts Gutes darin entdecken, außer dass ich nie an ihrer Liebe zu mir gezweifelt hatte, was ihre Abwesenheit zu einer noch größeren Katastrophe machte. Wie dem auch sei, das Begräbnis meines Vaters hatte an Jennifers eigenen frühen Verlust erinnert, und ich hatte ihr gegenüber einen Beschützerinstinkt empfunden. Mein gefühlloser Bruder Matthew, auch bekannt als Fat Matt (komplettes englisches Frühstück an sieben Tagen die Woche – drei englische Eier, drei englische Würstchen), hatte die Trauerfeier organisiert, ohne mich zurate zu ziehen.