Der Mann, der alles sah

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Ich war stolz gewesen, die glamouröse Jennifer Moreau am Arm zu haben, mit ihrem exotischen französischen Familiennamen, dem himmelblauen Vintage-Hosenanzug und den dazu passenden Wildleder-Plateaustiefeln. Ich hatte Fat Matt und seine armselige Frau mit den zwei jungen Söhnen beobachtet, die in der Kirchenbank vor mir saßen, als wären sie die Royals der Familie, und hatte überlegt, was ich in ihren Augen so falsch gemacht haben könnte, abgesehen davon, dass ich eine Perlenkette trug.

Ich war offenbar ein weniger wichtiges Familienmitglied: unverheiratet, ohne Kinder, in die zweite Reihe verwiesen. Das erinnerte mich an die tief empfundene Einsamkeit während meiner Teenagerzeit, als Matt, der damals noch nicht fett und in den Augen meines Vaters ein bolschewistischer Held war, als Elektriker zu arbeiten begann und gutes Geld verdiente, während ich Probe-Eyeliner in der Drogerie um die Ecke ausprobierte. Als ich dann zur Cambridge University kam, konnte er ein ganzes Haus neu verkabeln, während ich meine Methoden zur Verschleierung meiner Unwissenheit perfektionierte (tiefblaue Augen helfen dabei) und das Beste daraus zu machen versuchte, dass ich als Kind der Arbeiterklasse unter den feinen Pinkeln für Aufregung sorgte wie die Katze im Taubenschlag.

Matt sprach liebevoll-würdigende Worte für unseren Vater. Als ich an der Reihe war, konnte ich, als Familienmitglied mit der höchsten Bildung, nur sagen: »Goodbye, Dad.«

Mein Bruder stimmte jedoch meiner Idee zu, dass ich einen Teil der Asche unseres kommunistischen Vaters mit mir nahm, um sie in der DDR zu begraben. Schließlich hatte er daran geglaubt.

Ich betrachtete die hohen edwardianischen Villen, die die Hamilton Terrace zu beiden Seiten säumten, während ich die lange, breite Straße hinunterhinkte und mich immer noch zu erinnern versuchte, woher Jennifer von der Dose Ananas wusste, die zu besorgen mir Walter Müller aufgetragen hatte. Hatte sie seinen Brief an mich gelesen? Stasi-Spitzel wurden als Ohren und Augen bezeichnet, Horch und Guck. Es konnte so wirken, als wären meine Augen gegenüber Jennifers Kunst verschlossen, meine Ohren taub, aber in Wirklichkeit bereitete ich fieberhaft meine Reise nach Ostdeutschland vor und bemühte mich um die behördliche Zugangserlaubnis für die Archive, die ich für meine Forschung brauchte. Die Genehmigung dafür hatte ich bekommen, weil ich versprochen hatte, mich in einem Artikel einfühlsam über das reale Alltagsleben in der DDR zu äußern. Statt auf die üblichen Kalter-Krieg-Stereotype würde ich das Augenmerk auf Bildung, Gesundheitsvorsorge und Wohnungen für alle Bürger legen. Das alles hatte ich mit meinem Vater vor seinem Tod besprochen.

»Wenn du jemals gegen einen Faschisten hättest kämpfen müssen, würdest du auch eine Mauer hochziehen, um sie draußen zu halten.«

Als ich ihn daran erinnerte, dass die Mauer errichtet worden war, um die Menschen drinnen, nicht draußen, zu halten, sagte er mir, ich sei die Marie Antoinette der Familie und die Perlenkette wäre keine Hilfe.

»Leg sie ab, Sohn.«

Seiner Ansicht nach waren Meinungs- und Reisefreiheit nicht so wichtig wie die Beseitigung von Ungleichheiten und die Arbeit für das Wohl der Allgemeinheit, aber er konnte ja auch jederzeit mit der Fähre nach Frankreich fahren, wenn er wollte, und keiner würde ihn von einem Wachturm in Dover aus erschießen. Er drückte beide Augen zu, als sowjetische Panzer 1968 durch Prag rollten, weil er offensichtlich dachte, wir wären mit Stalin verwandt.

»Die Sowjetunion ist der Pate der DDR. Die Familie muss sich umeinander kümmern und ihre Mitglieder vor reaktionären Feinden schützen.«

Yeah yeah yeah.

So wie Matt sich um seinen Bruder kümmerte, als die Jungs mich im Oberdeck des Busses an meinem Schlips zu erhängen versuchten. Meinem Vater missfiel, was Jennifer als meine »erhabene Schönheit« beschrieben hatte; aus irgendeinem Grund erregte sie bei ihm Anstoß. Und was es noch schlimmer machte, ich war körperlich schwächer als mein Bruder und trug manchmal einen orangefarbenen Seidenschlips, wenn ich mit meinem Vater ins Pub ging. Einmal hörte ich, wie er ein halbes Bitter für sich und »ein Glas Roten für die Tunte« bestellte. Der Barmann fragte meinen Vater, ob ihm Merlot recht sei, und gab mir das halbe Bitter. Als Kompromiss ließ ich die Wimperntusche weg, wenn ich zu seinen Ansprachen bei den Versammlungen der Kommunistischen Partei ging, und tauschte den orangefarbenen Seidenschlips gegen eine grüne Kappe aus Schlangenlederimitat. Wenn er in meinen frühen Teenagerjahren schlechte Laune hatte (oft), schrie er Matt in Stalin’scher Manier zu: »Hau ihn, hau ihn«, und Matt als sein Komplize boxte mich dann zu Boden. Nach dem Tod unserer Mutter war Matt dann ein ernsthafter Schläger. Er schlug einmal so zu, dass mir die Lippe aufplatzte und ich zwei tiefschwarze Augen hatte, die offenbar akzeptabler waren als meine tiefblauen Augen. Es war, als wären die Panzer meines Vaters für immer im Wohnzimmer unseres Hauses in Bethnal Green geparkt, bereit, mit ihren drohenden Kanonenrohren über meinen unwürdigen dreizehnjährigen Körper hinwegzurollen.

Goodbye, Dad. Was sollte ich auf seiner Trauerfeier sonst sagen?

Viel.

Der Unterschied zwischen meinem Vater und mir, abgesehen von meiner Bildung und den hohen Wangenknochen, war, dass ich daran glaubte, man müsse die Menschen überzeugen und nicht zwingen. Aber jetzt, wo er tot war und nicht mehr Kontra geben konnte, vermisste ich seine feste Überzeugung.

Bis zum Zebrastreifen waren es noch ungefähr sieben Minuten.

Ich musste immer mal wieder stehen bleiben, um zu Atem zu kommen. Jennifers Stimme klang in mir nach. Was ist denn nun wirklich passiert, Saul?

Ich beschloss, mir eine Notiz zu machen, damit ich die Dose Ananas nicht vergaß. Ich würde sie in Großbuchstaben schreiben und mit meinem »Zeus, der Gott der Götter«-Magneten an den Kühlschrank heften, sobald ich nach Hause kam. Als Gegengeschenk, hatte Walter Müller geschrieben, würde er mir ein Glas saure Gurken geben, das Kleinod des Ostens, eingemacht mit Fenchel und Thymian, Zucker und Essig. Ich fragte mich, ob ihm bewusst war, dass die Stasi ganz sicher seine Briefe las. Wenn Stasi-Spitzel als Augen und Ohren bekannt waren, dann schien es so, dass Jennifer mich entsorgt hatte, weil meine Ohren nicht zuhörten und meine Augen geschlossen waren, wenn es um ihre Kunst ging, und wenn ich es mir recht überlegte, und das tat ich, während ich schneller ausschritt, fiel mir nichts ein, was sie mir über ihr laufendes Projekt erzählt hätte, außer dass ich ihre Muse sei. Ich stellte auch fest, dass ich trotz der Mühe, die ich mir mit dem Aufheben der Kondome nach dem Unfall gegeben hatte, sie tatsächlich nicht benutzt hatte. Sie steckten ungeöffnet in der Tasche meines zerrissenen weißen Jacketts.

Es war seltsam tröstlich, zum Zebrastreifen auf der Abbey Road zurückzukehren. Es gab keinen Verkehr, also war es wahrscheinlich, dass die Straße schließlich doch gesperrt worden war.

Mir fiel ein, dass ich, als ich zum ersten Mal auf diesen Übergang getreten war, eine Freundin hatte und nicht hinkte. Als ich auf der Mauer vor den EMI-Studios saß, erinnerte ich mich an die Art, wie der Mann, der mich beinahe umgefahren hatte, mein Haar berührte, als würde er eine Statue oder etwas ohne Herzschlag berühren.

Während ich darüber nachdachte, kam eine Frau auf mich zu und wedelte mit einer nicht angezündeten Zigarette in ihrer Hand. Sie trug ein blaues Kleid und fragte mich nach Feuer. Ihre kurzen blonden Haare waren so hell, dass sie fast silbern wirkten. Ihre Augen waren vom hellsten Grün, wie ein am Strand angespültes Stück Glas. Ich langte in meine Tasche und fand den metallenen Zippo-Anzünder, den ich immer bei mir hatte, eine windsichere, altmodische, plumpe Version des vom amerikanischen Militär im Zweiten Weltkrieg – und später in Vietnam – benutzten Feuerzeugs. Sie packte meine Hand mit dem Feuerzeug und betrachtete die eingravierten Initialen. Ich erklärte, dass es meinem Vater gehört habe, als er noch geraucht hatte, während er sein monatliches Bad nahm. Er sei vor Kurzem gestorben, und ich würde einen kleinen Teil seiner Asche in einer Streichholzschachtel mitnehmen, um sie in Ostberlin zu begraben. Mir zitterten die Hände, während ich sprach. Ich bat sie, sich eine Weile neben mich zu setzen, was sie tat. So hockten wir auf der Mauer vor den EMI-Studios, und unsere Schultern berührten sich. Ich hörte, wie sie ein- und ausatmete. Rauch kam aus ihren Nasenlöchern, wie bei dem Drachen, der auf Jennifers Kimono gestickt war. Sie fragte mich, ob ich ein ängstlicher Mensch sei.

»Nö.«

»Dann nervös?«

Zeilen aus einem Gedicht, von dem ich nicht wusste, dass ich es kannte, kamen mir in den Sinn. Ich zitierte sie laut, für die Frau, die ihre Zigarette rauchte.

»Wir sind die Toten. Vor wenigen Tagen noch

Lebten wir, fühlten den Morgen und sahen den leuchtenden Sonnenuntergang,

Liebten und wurden geliebt …«

Sie nickte, als verhielte ich mich normal, was nicht der Fall war.

»Es stammt von John McCrae«, sagte ich. »Er war ein kanadischer Arzt, doch im Ersten Weltkrieg verpflichtete er sich als Artillerist.«

Ich wandte ihr mein Gesicht zu, und sie wandte sich mir zu, während der Wind die Plastiktüte eines Supermarkts um unsere Füße blies.

»Das ist merkwürdig«, sagte sie und stieß sie weg. »Ist Wal-Mart nicht amerikanisch?«

Wir küssten uns auf der Mauer wie Teenager, ihre Zunge war tief in meinem Mund, mein Knie zwängte sich zwischen ihre Schenkel. Als wir uns schließlich trennten, erkundigte sie sich nach meinem Parfüm. »Ylang-Ylang«, sagte ich, während sie mir ihre Telefonnummer auf die zitternde Handfläche schrieb. Als sie davonging, las ich die Worte auf dem Rücken ihres blauen Kleides. Es war eine Uniform. Ich stellte fest, dass sie Krankenschwester war und dass in dem Song »Penny Lane« eine Krankenschwester vorkommt, die Mohnblumen von einem Tablett verkauft.

 

3

Als ich zu Hause ankam, nahm ich das Telefon und beauftragte einen Blumenhändler vor Ort, einen Strauß Sonnenblumen in die Hamilton Terrace zu schicken. Ich wollte, dass Jennifer sie am Tag ihrer Abschlussausstellung an der Universität erhielt. »Wir haben nur Rosen« – die Floristin klang ungehalten, als existierten in ihrer Welt keine anderen Blumen. Sie schien sogar beleidigt, als sie sich anhören musste, dass Sonnenblumen, obwohl sie im August ihre Hauptblütezeit haben, im September noch allgemein erhältlich sind. Seltsam, mit einer Floristin zu sprechen, die Angst vor Blumen hat. Als ich ihr sagte, dass genau dann, wenn Sonnenblumen voll erblühten, andere Blumenarten allmählich ans Ende ihrer Blütezeit kämen, zum Beispiel Mohnblumen, hörte sie sich an, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.

»Wir haben gelbe Rosen, weiße Rosen, rote Rosen, gestreifte Rosen aus China und Burma. Darf’s etwas davon sein? Wir haben im Moment eine Menge weiße Rosen vorrätig.«

Weiße Rosen. »Die Weiße Rose.« Das war der Name einer Widerstandsgruppe im Nazideutschland der frühen 1940er Jahre, die sich in München gebildet hatte. Für meine Studenten übersetzte ich ein Flugblatt, das führende Mitglieder der »Weißen Rose« im Februar 1943 verfasst hatten.

HJ, SA und SS haben uns in den fruchtbarsten Bildungsjahren unseres Lebens zu uniformieren, zu revolutionieren, zu narkotisieren versucht.

Vielleicht sollte ich zwölf weiße Rosen für Jennifer bestellen? Schließlich war sie in den fruchtbarsten Bildungsjahren ihres Lebens.

Nein, es mussten Sonnenblumen sein. Das waren die einzigen Blumen, die sie gern in einer Vase sah, vor allem wegen ihrer dunklen Mitte, die sie offenbar an eine Sonnenfinsternis erinnerte, obwohl ich nicht sicher war, dass sie eine solche jemals erlebt hatte.

Ich rief einen anderen Blumenhändler an, auch er hatte keine Sonnenblumen vorrätig. Beim dritten Versuch hatte ich Glück und bekam Sonnenblumen. Diesmal war der Blumenhändler ein Mann. Er erzählte mir, dass er aus Zypern komme und Mike heiße. Als er mich fragte, welche Botschaft ich auf die Karte schreiben wolle, klang meine Stimme seltsam zittrig und hoch. Ich bemerkte es nicht.

»Liebste Jennifer, toi, toi, toi für die Ausstellung, von dem unaufmerksamen Mann, der Dich liebt.«

Der Blumenhändler mit Namen Mike räusperte sich. »Entschuldigung, könnten Sie bitte englisch sprechen?«

Ich begriff nicht, was er meinte. Ich wiederholte die Botschaft, lieferte dazu meinen Namen und die Angaben zur Kreditkarte. Diesmal war meine Stimme weniger schwach. Es entstand eine Pause, dann sagte Mike: »Ich spreche kein Deutsch. Ich glaube jedenfalls, dass es Deutsch ist, aber was Sie auch sagen, denken Sie dran, wir haben den Krieg gewonnen.«

Ich konnte ihn lachen hören, als ich die Botschaft noch einmal wiederholte. Während er lachte, merkte ich, dass ich meine Botschaft in Englisch dachte, sie aber laut auf Deutsch aussprach, deshalb wechselte ich zu Englisch: »Sweet Jennifer, good luck for the show, from the careless man who loves you.« Nachdem ich bestätigt hatte, dass careless zusammengeschrieben wurde – anders als bei care less, wenn einem etwas egal ist –, war alles in trockenen Tüchern. Mike sagte, er habe mir gern geholfen, und sein richtiger Name sei nicht Mike. Und wenn er noch dazu gewusst hätte, dass ich Fremdsprachen beherrsche, hätte er mir seinen vollen Namen genannt. »Passen Sie jedenfalls auf sich auf, Saul.«

An diesem Tag hatten zwei Menschen zu mir gesagt: »Passen Sie auf sich auf, Saul.«

Als ich die Dusche aufdrehte und mir das Blut von den Knien wusch, war ich darüber entsetzt, dass Jennifer nicht gemerkt hatte, wie sehr mein Körper beschädigt war und blutete, als wir uns liebten. Ich roch ihr Ylang-Ylang-Öl auf meiner Haut. Ylang-Ylang törnt mich so an. Danach bügelte ich weiter die Hemden, die ich für Ostdeutschland einpacken wollte. Es dauerte eine Weile, bis ich das Bügelbrett aufgestellt und mein altmodisches Bügeleisen mit Wasser gefüllt hatte. Es war entweder zu heiß oder zu kalt, doch es lenkte mich ab, wenn ich seine schwere Stahlspitze auf die Ärmel richtete, mich zu den Manschetten vorarbeitete und den Dampf hochsteigen sah. Ich knöpfte die Manschetten auf und wendete sie nach außen, damit ich um die Knöpfe herumbügeln konnte. Es war wichtig, nicht über die Knöpfe hinweg zu bügeln, weil dadurch Abdrücke entstehen. Ich brauchte eine Weile, um alle Knöpfe aufzuknöpfen. Ehrlich gesagt fühlte ich mich angesichts des Autounfalls und der Ablehnung meines allerersten Heiratsantrags, als hätte man mich verprügelt. Das hasste Stalin am meisten – von seinem Vater verprügelt zu werden. Ich hängte die Hemden auf und trat auf meinen Balkon. Eine Schar rußschwarzer, plumper Krähen hüpfte auf dem Rasen der Parliament Hill Fields herum. Eine von ihnen hob plötzlich ab und flog zu einem Vogelbad. Sie hatte etwas im Schnabel und ließ es dann in das Vogelbad fallen. Vielleicht eine Maus, was mich daran erinnerte, dass Stalin seine Tochter Swetlana liebte, wie eine Katze eine Maus liebt. Wie liebte ich Jennifer, und wie liebte sie mich? Ich war mir nicht sicher, dass sie mich überhaupt liebte. Sie war eindeutig die Katze, und ich war die Maus. Das brachte mich auf den Gedanken, dass ich zur Abwechslung versuchen sollte, die Katze zu sein, doch es fühlte sich nicht sehr erregend an.

Bisher hatte ich meine Seite des Vertrags eingehalten – nie in Worten zu beschreiben, wie erstaunlich schön sie war, weder ihr noch anderen gegenüber. Weder die Farbe ihrer Haare, Haut oder Augen noch die Form ihrer Brüste, Lippen oder Brustwarzen, noch die Länge ihrer Schenkel oder die Beschaffenheit ihrer Schamhaare, auch nicht, ob ihre Arme gebräunt waren, nicht ihren Taillenumfang oder ob sie sich unter den Armen rasierte oder die Zehennägel lackierte. Offenbar hatte ich keine neuen Worte, um sie zu beschreiben, aber wenn ich sagen wollte: »Sie ist erstaunlich schön«, dann war das in Ordnung, weil es nichts bedeutete. Weil sie sich immer über meine erhabene Schönheit ausließ, fragte ich mich, ob sie überhaupt etwas bedeutete. Für sie. Durch ihre Fotos gab sie ihr eine Bedeutung, doch sie sagte, die hätten nicht wirklich mich zum Gegenstand, die ganze Komposition sei wichtig und ich sei nur ein Teil davon. Warum hatte sie die Umrisse meiner Lippen auf dem Foto über ihrem Bett mit rotem Filzstift nachgezogen? Ich wusste, wie gern sie mich küsste, weshalb schrieb sie dann KÜSS MICH NICHT? Als glaubte sie, dass Sex mit mir sie verletzlich machen und mir zu viel Macht geben würde. Jennifer wollte mir diese Art Macht nicht geben, deshalb musste ich mich anpassen. Sie war ziemlich interessiert an einem Kommilitonen, der Otto hieß. Er hatte blaue Haare und war so alt wie sie. Selbst wenn sie glaubte, er sei dazu bestimmt, der neue berühmteste Künstler weltweit zu werden, wusste ich, dass die Haarfarbe ihres wahren Geliebten Schwarz war.

4

Ich öffnete den Briefkasten im Hausflur unseres Wohnblocks, weil ich sehen wollte, ob die Abbey-Road-Fotos angekommen waren. Sie würden mein Geschenk an Luna Müller sein, die jüngere Schwester meines Dolmetschers Walter Müller. Ich steckte den Schlüssel ins Schloss – es fühlte sich etwas locker an, als hätte jemand die Schrauben heraus- und dann hastig wieder festgedreht. Doch als ich mir die Briefkästen der anderen Mieter ansah, entdeckte ich, dass auch sie reparaturbedürftig waren. Bei allen war das Holz zerkratzt. An den meisten Messingschlössern, hergestellt in den 1930er Jahren, fehlten Schrauben. Es war schwieriger als sonst, den Schlüssel ins Loch zu manövrieren. Der Vermieter erhöhte unsere Miete jedes Jahr, tat aber nichts zur Sanierung des Gebäudes, das mehr oder weniger verfiel. Die alte Dame aus dem oberen Stock, Mrs Stechler, kam aus dem Fahrstuhl und humpelte in den Hausflur, ihre behandschuhten Hände umklammerten die stählerne Stange ihres Rollators. Sie schien zu erschrecken, als sie mich auf den Knien vorfand, die Schlösser aller Briefkästen anstarrend. Sie trug einen Pelzmantel und fing an, über ihre Arthritis zu klagen, wie das feuchte Wetter die Entzündung verschlimmere und sie noch steifer mache. »Regen ist eine schlechte Nachricht für meine Knochen«, sagte sie mit ihrer mürrischen, tiefen Stimme. Ich schaute durch die Glastüren des Hausflurs. Die Sonne schien. Das Gras in den Gemeinschaftsgärten war noch gelb von der Hitzewelle in diesem Sommer. Das Herbstlaub war nicht feucht.

»Stimmt etwas nicht, Saul?«

»Alles in Ordnung.«

»Ich wollte mich nach Ihrem Familiennamen erkundigen«, sagte sie.

»Was ist damit?«

»Auf Ihrem Briefkasten steht der Name Saul Adler.«

»Ja.«

»Adler ist ein jüdischer Name.«

»Ja, und?«

Sie wartete darauf, dass ich mehr sagte, und ich sagte mehr.

»Saul ist auch ein jüdischer Name. Einverstanden?«

Ihr Mund stand offen, als brauchte sie ein größeres Loch zum Atmen. Anscheinend war mein Name das Gespenst, das Mrs Stechler heimsuchte.

Ich erhob mich, weil es zu unterwürfig war, auf den Knien mit ihr zu reden. Nach einer Weile fragte ich sie, ob sie mir sagen könne, wo man eine Dose Ananas bekomme.

»Überall. Jedes Geschäft hat eine Dose Ananas. Sogar der Eckladen. Möchten Sie Scheiben oder Stücke? In Sirup oder Saft?«

Sie starrte mich durch ihre dicke Brille an, als wäre ich ein Dieb, der alle Briefkästen in dem Gebäude ausrauben wollte. Ich hatte einen Umschlag in meinem Briefkasten vorgefunden und wollte ihn gern öffnen, sie sollte mich aber nicht dabei beobachten. Sie teilte mir mit, dass sie ein Stück Mohnkuchen in dem neuen polnischen Geschäft kaufen wolle, und einmal unterwegs, müsse sie ein Mittel finden, das den Fleck auf ihrem schildkrötengrünen Sofa entferne. Ich dachte über Schildkröten nach und welche Art von Grün sie für das Polsterei-Geschäft repräsentierten, als sie wieder zur Klage über ihre Gelenkschmerzen und das Wetter ansetzte. Ich konnte mich an kein polnisches Geschäft in der von ihr genannten Straße erinnern. Es gab dort eine Fleischerei und einen Zeitungskiosk und einen Friseur, der hauptsächlich Rentner und Rentnerinnen wie sie bediente, aber nichts, was einem polnischen Geschäft ähnelte, wenn der bengalische Kiosk-Betreiber nicht neuerdings osteuropäische Backwaren verkaufte. Ich war abgelenkt, weil ich nun den Umschlag geöffnet hatte und auf die Schwarz-Weiß-Fotos starrte, es waren drei.

Dort lief ich barfuß auf dem Zebrastreifen, in meinem weißen Anzug mit den Schlaghosen, die Hände in den Taschen des weißen Jacketts. Es war eine Notiz von Jennifer dabei:

Übrigens ist nicht John Lennon barfuß gelaufen. Das war Paul. JL hatte weiße Schuhe an. Ist mir gelungen, Dich wie auf dem Original mitten im Schritt zu erwischen, dank meiner verlässlichen Trittleiter.

Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass ich die Schuhe ausgezogen hatte, aber es stimmte, ich war barfuß auf dem Foto. Als ich aufblickte, entdeckte ich, dass Mrs Stechler ihren Rollator im Hausflur zurückgelassen und hinter dem Pförtnerplatz verstaut hatte. Durch die Glastüren sah ich sie in ihrem Pelzmantel, wie sie flotten Schrittes in Richtung Bushaltestelle ging. War nicht die Rede davon gewesen, dass die Arthritis sie behindere?

Ich legte die Fotos in meinen Briefkasten zurück, schloss ihn ab und lief zu meinem nächsten Supermarkt, um die Dose Ananas für Walter Müller zu kaufen. Was würde Jennifer heute machen? Wahrscheinlich kümmerte sie sich um ihr Flugticket nach Amerika. Natürlich wäre sie in der Dunkelkammer des College und bereitete ihre Abschlussausstellung vor, und später, viel später, würde sie mit Saanvi und Claudia in der Sauna faulenzen, Gespräche über die Unendlichkeit führen und darüber, wie ein manisch-depressiver Mathematiker namens Georg Cantor eine Möglichkeit entdeckt hatte, unendliche Zahlen zu notieren. Inzwischen versuchte ich herauszufinden, ob ich Dosenananas in Ringen oder Stücken, in Sirup oder Saft kaufen sollte. Am Ende kaufte ich zwei Bananen, ein Baguette, ein Steak und lungerte schließlich vor der Käsetheke herum. Allmählich verspürte ich ein wenig Sympathie für die Floristin, die nur Rosen verkaufte. Wenn es unendlich viele Rosen zur Auswahl gab, dann traf auf Käse dasselbe zu. Shropshire Blue, Stilton, Farmhouse Cheddar, Lancashire, Red Leicester, Gouda, Emmentaler.

 

Ich bat den Verkäufer, mir eine große Ecke schmelzenden Brie abzuschneiden. Es tropfte von seinem Messer. Er hatte sanfte Hände.

Der Himmel war genauso grau wie der Gehsteig. Es hatte angefangen zu regnen. Ein Mann in einem afrikanischen Gewand kämpfte mit einem kaputten Schirm, während der Regen über seine Sandalen spritzte. Ich begab mich für ein Glas Tee und ein Baklava-Gebäck in ein türkisches Café. Das Gebäck war klebrig von Honig. Ich bat um eine Serviette, doch die mich bedienende Frau schien meine Bitte nicht zu hören. Sie ging zu einem kleinen Mädchen, vielleicht sieben Jahre alt, das an einem Nachbartisch ein Buch las, und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Ich dachte, sie bäte das Kind, mir eine Serviette zu bringen, doch sie ordnete eines der roten Bänder im Zopf ihrer Tochter.

»Die Sache ist die, Saul Adler: Du bist nicht immer der Mittelpunkt.«

Die Sache ist die, Jennifer Moreau: Du hast mich zum Mittelpunkt gemacht.