Seewölfe Paket 13

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2.

Der fremde Segler war nur noch sehr schwer durchs Spektiv zu erkennen. Hasard hatte sich mit Dan O’Flynn in den Vormars hinaufbegeben, um einen besseren Ausblick zu haben, doch die fallenden Schatten der Dunkelheit verwischten die Konturen des Dreimasters, der Kurs auf sie zu nehmen schien, zu einem unwirklichen, schemenhaften Etwas.

Einige Einzelheiten waren Hasard, Dan und Bill – der im Großmars hockte und unausgesetzt zu dem Schiff hinüberspähte – aber trotzdem noch aufgefallen.

„Seinen Aufbauten nach zu urteilen ist er kein Europäer“, sagte der Seewolf. „Kein Spanier, kein Portugiese, auch kein Italiener oder Grieche.“

„Sir!“ schrie Bill gegen das zunehmende Heulen des Windes an. „Ich halte ihn für einen Levantiner!“

„Ein Kauffahrer, nicht wahr?“ rief Hasard zurück.

„Ja, ganz bestimmt! Kein Kriegsschiff! Ich habe nur wenige Stückpforten gesehen!“

„Er könnte ein Syrer sein. Vielleicht kommt er auch aus Tripoli“, sagte Dan O’Flynn.

„Gut möglich“, meinte Hasard. „Oder aber von Zypern oder aus der südlichen Türkei. Für uns ist das nicht von Bedeutung. Ich schätze, er will nach Kreta oder nach Athen, um dort seine Ladung zu löschen und neue zu übernehmen.“

„Er scheint schweres Gut an Bord zu haben, denn er liegt ziemlich tief im Wasser.“

„Ja. Angreifen wird er uns auf keinen Fall.“

„Und wir?“ fragte Dan.

Hasard wandte ihm sein Gesicht zu. „Hat er uns was getan? Haben wir einen Grund, ihm auf den Leib zu rücken? Wir sind doch keine lausigen Piraten, die über jeden herfallen, der ihnen über den Weg läuft.“

„Natürlich nicht“, sagte Dan. „Das meine ich auch nicht. Es wäre nur gut, ihm ein paar nützliche Ratschläge zu geben. Wir wissen, welche Gefahren auf Kreta und in Richtung Sizilien lauern. Wir könnten ihn warnen.“

Hasard lächelte. „Entschuldige, daß ich deine Absicht verkannt habe. Aber er kennt sich in diesen Gewässern bestimmt besser aus als wir. Es dürfte nicht seine erste Fahrt hierher sein.“

„Er weiß die Gefahren zu meiden?“

„Wenn er ein Levantiner ist, dürfte er gerissen genug sein.“

Nun lachte auch Dan. „Allerdings. Aber was geschieht, wenn er Lord Henry begegnet?“

„Du bist also davon überzeugt, daß Henry uns immer noch folgt?“

„Du etwa nicht?“

„Na, ich weiß nicht. Don Gennaro Masaniello hält ihn bestimmt noch eine Weile in Neapel fest. Vergiß nicht, daß er mit Henry ein Hühnchen zu rupfen hat.“

„Wegen der erlittenen Niederlage? Bestimmt. Aber Henry weiß seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, das hat er uns zur Genüge bewiesen. Scoby und seine anderen Spießgesellen sind auch raffinierte Hunde, die sind bestimmt längst wieder mit ihrer ‚Cruel Jane‘ aus Neapel verschwunden und suchen uns, um sich an uns zu rächen.“

Hasard schob sein Spektiv zusammen und steckte es weg. „Und wenn schon. Henry irrt sich, wenn er sich einbildet, er könne uns doch noch schlagen und uns den Schatz der Medici wieder abjagen. Was den Levantiner betrifft, können wir von mir aus versuchen, auf Rufweite an ihn heranzugehen, um ihn vor Henry zu warnen.“

„Ja.“

„Bei dieser See ist das aber kein leichtes Manöver“, sagte Hasard. „Na, schön, meinetwegen, versuchen wir’s.“

Wenig später befanden Dan und er sich wieder an Deck. Hasard gab die erforderlichen Anweisungen. Die „Isabella“ ging etwas höher an den Südostwind und steuerte direkt auf das fremde Schiff zu, dessen Umrisse mit der Dunkelheit verschmolzen.

Hasard tat alles, um nahe genug an den Levantiner heranzusteuern, doch zu einer Verständigung reichte es nicht. Plötzlich war der fremde Dreimaster vollends verschwunden und wurde zu einem Geisterschiff, das lautlos ins Nichts entglitt.

„Er hat Angst vor uns!“ rief Hasard seinen Männern auf dem tanzenden Hauptdeck zu. „Wahrscheinlich hat er rasch anluven lassen, um uns zu entgehen!“

„Soll er!“ schrie Carberry. „Wir haben es gut mit ihm gemeint, aber absaufen und verrecken wird er wohl nicht! Bei dem Gewicht, das er geladen hat, wird er wohl nach Karpathos verholen!“

„Das nehme ich auch an“, sagte der Seewolf. „Fangt jetzt mit dem Verschalken der Luken und Schotten an! Spannt die Manntaue! Haltet die Sturmsegel bereit, wir müssen sie gleich setzen!“

„Schon dabei, Sir!“ rief Ben Brighton zurück.

„Bill!“ schrie Hasard. „Räum den Großmars!“

„Aye, Sir!“ tönte es von oben zurück. Bill kletterte über die Segeltuchverkleidung der Plattform und begann abzuentern.

„Wieder auf Kurs Nordost gehen!“ befahl der Seewolf.

„Schrickt weg Brassen und Schoten!“ brüllte der Profos.

„Pete, Kurs Nordosten!“ rief Ben Brighton zum Ruderhaus hinauf. „Zwei Strich Backbord!“

„Zwei Strich Backbord, aye, Sir!“ rief Pete Ballie, der Rudergänger, zurück. Er drehte am Ruderrad.

„Kurs Nordost liegt an!“ tönte kurz darauf Bens Stimme über Deck.

Beim Spannen der Manntaue packte der Seewolf selbst mit zu. Besorgt verfolgte er das Zunehmen von Windstärke und Seegang. In der Ferne zuckte ein Blitz. Leises Donnergrollen rollte von Südosten heran.

Das wird eine heitere Nacht, dachte er, rasch nach Rhodos, sonst kriegen wir noch kräftig die Jacke voll.

Selim hob den Kopf. „Was ist das?“ fragte er. „Ich höre Geräusche. Sie kommen vom Ufer.“

„Musik“, sagte einer der Männer zu seiner Rechten. „Jemand spielt auf einem Instrument.“

„Wahnsinn! Doch nicht bei diesem Wetter.“

„Da bewegt sich was“, raunte sein Kumpan ihm zu. „Da steht ein Mann und beobachtet uns.“

Selim fuhr sich mit der Hand über den Schnauzbart. „Seltsam. Ich dachte, dieser Teil der Insel sei unbewohnt. Es gibt nur wenige winzige Dörfer auf Rhodos, armselige Bauern- und Fischersiedlungen, wo wir kaum etwas erbeuten können. Aber hier? Hier kann doch keiner leben.“

Er hatte diese Bucht in der Tat nur als Ziel gewählt, weil er das Vorbeiziehen des Sturmes abwarten wollte. Die Bucht war ein vorzüglicher Ankerplatz, ein natürlicher Hafen, geräumig genug zum Manövrieren und durch Felsen gegen das Wüten der See ziemlich gut abgeschirmt.

Die Anker waren ausgerauscht, die Schiffe – eine Schebecke und eine Ghanja – schwojten an ihren Trossen. Allmählich ließ das Tanzen der Decks etwas nach, man hatte jetzt einen sicheren Stand auf den Planken.

„Ein Boot abfieren“, befahl Selim. „Ich will selbst nachsehen, was es mit dem Kerl auf sich hat.“

„Vielleicht ist er ein Einsiedler“, sagte ein glatzköpfiger Pirat, dessen Name Osman lautete. „Harmlos scheint er zu sein, sonst hätte er sich nicht durch seine Musik verraten.“

Selim sah aus schmalen Augen zum Ufer, wo die fremde Gestalt nur undeutlich zu erkennen war und jetzt fast unterging in der zunehmenden Dunkelheit. Aber – täuschte er sich, oder winkte der Mann ihnen wirklich zu?

„Es gibt zwei Möglichkeiten“, sagte Selim. „Entweder ist er verrückt, oder aber es ist ein Trick, um uns in eine Falle zu locken. Haltet euch auf jeden Fall an den Geschützen bereit. Fünf Männer begleiten mich: Osman, Ali, Firuz und noch zwei andere, die ihr selbst aussuchen könnt. Nehmt genug Gewehre und Pistolen mit, damit wir auf jede Überraschung vorbereitet sind.“

Sie liefen auseinander, holten die Waffen und machten eins der beiden Beiboote klar, die auf dem Hauptdeck festgezurrt waren.

Selim stieg den Niedergang hinunter und schritt zum Achterdeck. Er blickte zu den Frauen, die sich vor dem Kastell versammelt hatten. Jella, seine glutäugige Geliebte, löste sich aus der Gruppe und eilte auf ihn zu.

„Was ist?“ fragte sie ihn. „Gibt es Ärger?“

„Ich glaube kaum“, antwortete er. „Es empfiehlt sich nur, die Umgebung ein wenig genauer zu kontrollieren. Drüben am Strand steht ein Mann und schaut zu uns herüber.“

„Du gehst an Land? Nimm mich mit.“

„Falls wir angegriffen werden, riskierst du, nicht mehr an Bord der ‚Grinta‘ zurückzukehren. Verstehst du? Man könnte aus dem Hinterhalt auf uns schießen.“

„Und du? Auch du begibst dich in Gefahr. Nein, ich will bei dir sein, und ich bin neugierig, sehr neugierig, wie es dort an Land aussieht. Bitte, laß mich mitfahren.“

Er gab ihrem Drängen nach, und wenig später saßen sie zu siebt in dem Boot und pullten auf die Brandung am nordwestlichen Ufer der Bucht zu. Zwischen den Felsen, die die Bucht umsäumten, gab es hier und dort sandgefüllte Zwischenräume, und auf einem dieser winzigen, sanft geschwungenen Strände stand der Fremde.

Jella beugte sich vor und flüsterte Selim ins Ohr: „Wenn wir sterben müssen, dann sterben wir zusammen, mein Herr und Gebieter.“ Der Spott in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

„Schweig“, sagte er.

Sie schwieg wirklich, denn sie wußte, daß er unberechenbar war und von einem Moment zum anderen in Wut ausbrechen konnte.

Es war ungewöhnlich, daß Frauen an Bord von Schiffen mitfuhren, auch unter Piraten, doch Selim wußte genau, daß er seinen Haufen nur zusammenketten konnte, wenn er ihn bei Laune hielt. Sie waren noch nicht sehr lange zusammen, und immer wieder gab es Situationen, durch die eine Meuterei hervorgerufen werden konnte. Bei der Vielzahl der Kerle, die sich auf der Schebecke „Grinta“ und auf der Ghanja befanden, würde selbst die Autorität eines Mannes wie Selim im entscheidenden Moment den Ausbruch des Vulkans nicht bremsen.

So hatte er zu einem taktischen Mittel gegriffen, das genauso ungewöhnlich wie wirksam war. Unter Mißachtung aller Gesetze des Korans hatte er einen Schwarm Frauen an Bord geholt, hier und dort in den Häfen aufgelesen oder aus überfallenen Siedlungen entführt. Sie hielten sich als dienstbereites Hurenvölkchen jederzeit für die wilden Männer zu Verfügung, unverschleiert, zügellos, herausfordernd. Das brachte die Kerle nicht auf dumme Gedanken.

 

Jella stammte aus Tripoli, und sie war freiwillig an Bord der Schebekke gegangen. Selim hatte sie zu seiner Auserwählten erkoren, weil sie die Schönste und Geschickteste unter allen Frauen war. Doch in der letzten Zeit war sie ihm fast zu dreist geworden. Neuerdings versuchte sie, ihn zu verhöhnen. Es konnte ihr nicht daran gelegen sein, auch in seiner letzten Stunde bei ihm zu sein, so weit gingen ihre Gefühle für ihn nicht.

Welchen Zweck verfolgte sie mit ihren Reden? Plante sie etwas gegen ihn?

Seine Miene wurde finster. Wenn du ein Komplott schmiedest, um meine Schätze an dich zu reißen, schneide ich dir die Gurgel durch, dachte er.

Das Boot stieß mit dem Bug durch die Brandung, die Wogen hoben es hoch und ließen es wieder fallen. Knirschend schob es sich auf den Sand.

Selim stieg als erster aus, Jella folgte ihm. Osman, Ali, Firuz und die beiden anderen hievten das Boot noch etwas höher auf den Strand, dann schritten auch sie ihrem Anführer und der Frau nach, die jetzt auf den merkwürdigen Fremden zusteuerten.

Selim hatte seine Pistole gezogen und den Hahn gespannt, um sofort auf den Mann schießen zu können, falls dieser einen jähen Ausfall gegen ihn unternahm oder wegzulaufen versuchte.

Antos lächelte und strich mit dem Bogen über die drei Saiten seiner Lyra.

„Willkommen“, sagte er. „Meine Freude kennt keine Grenzen. Ihr seid die Boten, nicht wahr?“ Er nickte wissend. „Poseidon schickt euch. Ich habe euch von weitem gesehen. Mein Wunsch geht in Erfüllung. Mein Dank wird ewig sein.“

Selim blieb dicht vor ihm stehen. Jella und die fünf Männer verharrten hinter seinem Rücken. Sie waren Türken und Araber, doch sie verstanden die Sprache des Mannes mit dem herben Gesicht und dem verlorenen Blick. Lange genug hatten sie das östliche Mittelmeergebiet bereist, die Ausdrucksweise der Griechen und der Inselbewohner war ihnen nicht mehr fremd.

„Er ist verrückt“, sagte Selim auf türkisch. „Jedenfalls hat es den Anschein. Habe ich es nicht gleich gesagt?“

Antos sah die Männer mit den Turbanen und den weiten Hosen, den Glatzkopf und die verächtlich lächelnde Frau an.

„Ich bin Antos“, erklärte er ihnen. „Ihr wißt Bescheid, nicht wahr?“

„Ja“, erwiderte Selim. „Poseidon schickt uns.“

„Wer bist du?“

„Poseidons Sohn“, erwiderte Selim, und seine Begleiter mußten an sich halten, um nicht laut loszulachen.

„Poseidons Sohn“, flüsterte Antos ergriffen und ließ die Lyra sinken. „Nimmst du mich sofort mit? Segeln wir gleich wieder fort?“

Selim beugte sich vor. Der Inselbewohner war ausstaffiert, als sei er gerade seiner eigenen Hochzeitsfeier entflohen. Er trug Kniehosen aus blauem Tuch und hohe Lederstiefel, dazu ein gebauschtes weißes Hemd und eine Joppe. Der Wind blähte seine Kleidung auf und zerzauste seine schütteren Haare, doch nicht das war es, was Selims Aufmerksamkeit erregte.

Um den Hals hatte sich der Mann eine Kette aus Goldmünzen gehängt.

„Seht ihr das?“ raunte jetzt auch Jella den Piraten zu. „Er ist reich. Er trägt Goldschmuck, als wäre es harmloser, wertloser Plunder.“

„Es ist Katzengold“, brummte Osman.

„Nein“, zischte Ali. „Gold, echtes Gold. Das erkenne ich von hier aus.“

„Antos, mein Freund“, sagte Selim so freundlich wie möglich. „Woher hast du diese wunderbare Kette?“

Antos lächelte verträumt. „Du müßtest es wissen. Poseidons Sohn weiß alles.“

Selim überlegte, ob er ihn mit dem Messer zur Preisgabe der Antwort zwingen sollte, doch er beherrschte sich. Er hatte es mit einem Geistesgestörten zu tun. Wahrscheinlich würde sich dieser Mann eher töten lassen, als sich ihm noch weiter mitzuteilen, wenn er merkte, daß er einem Irrtum erlag.

Selim entsann sich der Bräuche, die auf Rhodos und den anderen Inseln des Ägäis-Archipels üblich waren. Normalerweise trug kein Mann irgendwelchen Schmuck. Dies taten nur die Mädchen, wenn sie vor ihrer Heirat stolz ihre Aussteuer vorwiesen. Erbstücke, die von Generation zu Generation weitergereicht wurden – daß es jedoch Gold sein konnte, hatte Selim wegen der Armut der Insulaner nicht zu hoffen gewagt.

„Die Kette gehört deiner Frau“, sagte Selim.

Antos blickte ihn ergeben an. „Ja. Ja. Ich bringe sie ihr. Fahren wir hinaus?“

„Hinaus aufs Meer?“

„Ja, aber nicht sehr weit, nicht wahr?“

Selim überlegte scharf. Er glaubte zu begreifen, was den Verstand dieses Mannes umnachtet hatte.

„Sie liegt dort draußen, Antos“, sagte er.

„Bei meinen Söhnen.“

„Bei deinen Söhnen.“

„Laß mich nicht länger warten“, flehte Antos.

Selim sah ihn forschend an. Natürlich konnte er ihm den „Gefallen“ tun, ihn auf die See hinauszubringen und dort ins Wasser zu stoßen, nichts leichter als das. Selbstverständlich würde er ihm vorher die Kette abnehmen. Aber etwas hielt ihn zurück, etwas, das mit Mitleid und Skrupel allerdings nicht das geringste zu tun hatte.

„Auch Poseidon würde sich über ein Geschenk freuen“, sagte Selim.

„Oh? Aber ich habe nur diese eine Kette.“

„Es gibt noch mehr Ketten, Antos.“

„Im Dorf, meinst du?“ Antos lachte. „Du weißt alles, wirklich alles, Sohn des Poseidon. Nichts entgeht dir. In Pigadia haben fast alle Frauen einen kleinen Familienschmuck.“

„Den sie in ihren Schatullen aufbewahren.“

„Ja. Unter der Estrade.“

„Natürlich. Unter dem Hohlraum der Estrade“, sagte Selim und wandte sich zu den anderen um. Sie grinsten verstohlen. Was eine Estrade war, wußten sie natürlich alle. Nicht nur auf Rhodos war es üblich, diesen erhöhten Tritt in den Wohnhäusern einzurichten, auf dem sich ein großer Teil des täglichen Lebens abspielte.

Selim hielt nach einem Pfad Ausschau, der zum Dorf hinaufführte, entdeckte ihn jedoch nicht.

„Antos“, sagte er. „Ich gehe ins Dorf, um deine Leute zu begrüßen und um ein Geschenk für Poseidon zu bitten. Warte hier auf mich.“

„O nein! Ich möchte dich begleiten!“ rief Antos.

Wie würden die Frauen und die Männer, die in Pigadia geblieben waren, staunen, wenn sie ihn Seite an Seite mit einer wunderbaren Erscheinung, einem Gott und dessen Gefolge, einmarschieren sahen! Endlich würden sie begreifen, daß er kein Phantast war, daß alles, was er ihnen erzählt und prophezeit hatte, der Wahrheit entsprach – und die Zweifler würden erröten und betreten zu Boden blicken. Diesen Triumph ließ er sich nicht nehmen!

„Gut“, sagte Selim. „Dagegen habe ich nichts einzuwenden. Aber warte, wir nehmen noch ein paar Begleiter mehr mit.“

Antos hob überrascht die Augenbrauen. „Warum?“

„Sie freuen sich darauf, ein so schönes Dorf wie Pigadia zu sehen.“

„Ja? Oh – Pigadia ist sehr, sehr schön.“

„Eben.“ Selim drehte sich wieder zu seinen Spießgesellen um und sagte auf türkisch: „Ali und Firuz, kehrt zu den Schiffen zurück und holt dreißig schwerbewaffnete Männer. Dobran soll selbst mit herüberkommen, ich brauche ihn jetzt. Erklärt ihm, daß es Gold für uns zu holen gibt.“

„Ja“, sagte Ali. Dann lief er mit Firuz, der sich schon in Bewegung gesetzt hatte, fort.

Dobran war der Kapitän der Ghanja und Selims Unterführer.

„Sohn des Poseidon“, sagte Antos. „Was ist das für eine seltsame Sprache, die du gebrauchst?“

Selim war um die Antwort nicht verlegen. „Es ist die Sprache der Götter.“

„Ich verstehe sie nicht.“

Selim lächelte ihm zu. „Das ist nicht weiter schlimm. Mach dir darüber nur keine Gedanken.“

3.

Erste orkanartige Böen tobten über die See und ließen die „Isabella VIII.“ bedrohlich nach Backbord krängen. In immer kürzeren Abständen stachen Blitze von den niedrighängenden Wolken zur See nieder, und das Donnergrollen wälzte sich über die Wogen, als lägen irgendwo – gar nicht mehr weit entfernt – Schiffe im Gefecht miteinander.

Die „Isabella“ segelte vor dem Wetter her, doch sie konnte ihm nicht davoneilen. Keiner der Männer gab sich in dieser Beziehung Illusionen hin. Zu groß war ihre Erfahrung, die sie in vielen Situationen wie dieser gesammelt hatten, zu abgerundet ihr seemännisches Wissen.

Der Sturm würde sie einholen, daran gab es keinen Zweifel.

Big Old Shane, der mit Ferris Tukker zusammen gerade das letzte Schott des Vordecks verschalkt hatte, drehte sich zu Hasard um und rief ihm zu: „Das wird ein feiner Tanz!“

„Wir werden ihn schon überstehen!“ schrie der Seewolf gegen das Heulen und Tosen an. „Spätestens um Mitternacht sind wir auf Rhodos!“

„Aber bis dahin hat es unserer Old Lady schon den halben Hintern weggerissen!“

„Bist du nicht mehr ganz dicht?“ rief Ferris erbost. „Der Hintern ist aus solider englischer Eiche! Der hält!“

„Denk daran, daß die ‚Isabella‘ nicht mehr die Jüngste ist!“

„Also, da hört sich doch alles auf!“ brüllte der rothaarige Riese. „Fängst du jetzt auch schon so an wie Old O’Flynn? Mann, dieser Kahn reitet noch so manchen Sturm ab, glaub’s mir!“

Hasard hangelte zu Shane und half ihnen dabei, die letzten Latten und Keile anzubringen. „Shane, du hättest wohl gern ein neues Schiff, was?“

„Herrgott, das wollte ich damit nicht sagen! Nur müßte unsere werte Dame mal wieder gründlich von oben bis unten und von vorn bis hinten überholt werden!“

Ein Brecher rollte heran, sprang an der Bordwand hoch und rauschte über Deck. Hasard, Shane und Ferris mußten sich wie alle anderen, die sich jetzt noch auf dem Oberdeck befanden, festhalten, um nicht fortgespült zu werden.

Durchnäßt richteten sie sich wieder auf. Hasard grinste den Graubärtigen grimmig an und rief: „Mit Aufslippen ist aber vorläufig nichts, mein Bester! Damit warten wir, bis wir in Ägypten sind!“

„Na ja, sicher“, sagte Shane einlenkend. „Bis dahin wird sie’s wohl auch noch durchstehen. Schließlich kann ja nicht das ganze östliche Mittelmeer sturmverseucht sein.“

„Um diese Jahreszeit vielleicht doch“, meinte Ferris. „Wer kann das schon genau wissen?“

„Sag lieber, ob du die Ladung überprüft hast, Shane!“ rief Hasard gegen das Orgeln der nächsten Bö an.

„Und ob! Die Schatzkisten und Truhen liegen da unten so sicher wie in Abrahams Schoß!“

Big Old Shane wollte noch etwas hinzufügen, aber jetzt brauste ein neuer Brecher heran, türmte sich an der Bordwand hoch und ergoß sich sprühend und gischtend über das Deck.

Dann war ein bedenkliches Knakken zu vernehmen – und die Männer sahen sich im Gischtnebel des Wassers verblüfft an.

„Das war vorn!“ schrie Ferris. „Hölle, Shane, also gibt es doch Ärger, aber nicht im Achtersteven, sondern an der Brust der Lady!“

„Der Teufel soll sie holen!“ brüllte der Schmied von Arwenack. „Wenn sie ihre verdammte Brust nicht mehr halten kann, dann lernt sie mich kennen!“

„Hör doch auf“, sagte Hasard. „Das Fluchen hilft auch nichts.“

Wieder knackte es.

„Der Bugspriet!“ rief Ferris.

„Los, auf die Galionsplattform!“ befahl der Seewolf. Er kletterte als erster auf die Back, hangelte in den Manntauen nach vorn und schwang sich über die vordere Balustrade. Ferris und Shane folgten ihm, Smoky, der sie vom Kombüsenschott aus beobachtet hatte, schloß sich ihnen an.

Hasard glitt fast aus, als er auf der Plattform der Galion landete, konnte sich aber an einem Tau festhalten. Erschüttert blickte er auf den Bugspriet, der auf und ab wippte und so beängstigend knarrte und knackte, als wolle er jeden Augenblick abbrechen. Die Blinde taumelte ebenfalls hin und her und riß an den Brassen und Schoten, mit denen sie getrimmt wurde.

Hasard wandte sich zu den Männern um, die von der Back zu ihm hinunterblickten.

„Setzt das Stag durch!“ schrie er. „Ferris, hol deine Werkzeuge! Wir müssen den Bugspriet sichern, sonst verlieren wir ihn!“

„Aye, Sir!“ brüllten Ferris, Shane und Smoky gleichzeitig.

Ein gewaltiger Knall ließ jedes weitere Wort untergehen. Ein greller Blitz erhellte die Nacht, begleitet von dem Donnerschlag, und für einen Moment konnten die Männer der „Isabella“ gegenseitig ihre besorgten Mienen sehen.

Fast zur selben Zeit erreichte der Levantiner – er kam tatsächlich aus Tripoli, wie Dan O’Flynn vermutet hatte – die Insel Karpathos und verholte hinter eine gekrümmte Landzunge, die sich wie eine zum Zupakken bereite Klaue um einen Teil des südlichen Ufers schloß.

 

Der Kapitän, ein beleibter Mann mit glattem, wohlgefälligem Gesicht, ließ die Segel aufgeien und den Anker werfen. Er ging in seine Kammer hinunter, kniete sich auf seinen Gebetsteppich und verneigte sich nach Osten. Er dankte Allah dafür, daß er ihn vor dem schlimmsten Wüten des Sturmes bewahrte und ihm den Weg in die geschützte Bucht gewiesen hatte.

Er betete darum, daß er seine Ladung, die aus Stoffen, Gewändern und Spezereien des Orients bestand, noch sicher bis nach Piräus, seinem Ziel, bringen konnte.

Was dies betraf, so war er äußerst zuversichtlich. Er hatte keine Hast und konnte ein, zwei oder auch drei Tage in der Bucht verbringen, bis das Wetter wieder besser wurde und ihm die Weiterreise gestattete.

Hätte er zu diesem Zeitpunkt geahnt, was ihn vor den Gestaden der Insel noch erwartete, wäre er sicher weniger glücklich gewesen und hätte die Hände gerungen und zu fluchen begonnen, statt immer neue Gebete zu Allah zu schicken.

Doch keinem Mann war es vergönnt, in die nahe Zukunft zu blikken, auch einem gläubigen Moslem nicht.

Es hatte zu regnen begonnen, der Inselpfad war schlüpfrig geworden. Doch Sturmwind und Wasser konnten die türkischen Piraten nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Sie stiegen zum Dorf Pigadia hinauf, allen voran Selim mit Antos, dann Jella, die auch jetzt nicht auf die Schebekke hatte zurückkehren wollen, dann Osman, Firuz, Ali, Dobran und die anderen Männer, die zur Verstärkung von den Schiffen geholt worden waren.

Selim fiel es nicht schwer, Antos auch weiterhin seine Rolle als „Sohn des Poseidon“ vorzugaukeln. Indem er einen halben Schritt hinter dem eilig voranstrebenden Mann zurückblieb, ließ er sich von ihm den Weg weisen und täuschte doch vor, daß er ortskundig war.

Antos fieberte der großen Überraschung entgegen, die er den Bewohnern von Pigadia bereiten würde. Wie würde er sich an ihren verdutzten Blicken und an ihren offenen Mündern ergötzen! Hoch erhobenen Hauptes würde er mit Poseidons Sohn und dessen Gefolgschaft durch den Ort wandeln. Tanzen würde er, die Lyra streichen und dazu singen. Keiner sollte diesen Freudentag jemals wieder vergessen.

Sie gelangten an der Einkerbung an, wo der Pfad seinen höchsten Punkt erreichte und nun leicht abfallend zwischen den Felsen zum Dorf hinunterführte. Selim sah die wenigen Lichter, die in den weißgetünchten Häusern brannten. Er blieb stehen und lächelte siegesgewiß.

Jella trat mit wenigen Schritten neben ihn, dann verharrte auch sie. Dobran und die anderen Männer, fast drei Dutzend, blieben hinter ihnen stehen.

Antos war weitergegangen, trunken vor Glück.

„Warum tötest du ihn nicht?“ fragte die Frau. „Soll ich es ihm besorgen? Wir brauchen ihn jetzt, da wir wissen, wo das Dorf ist, nicht mehr. Ich steche ihm mein Messer in den Rücken.“

„Nein. Noch nicht“, sagte Selim. „Wir wissen nicht, wie viele Männer es im Dorf gibt. Wir besiegen sie auf jeden Fall, doch sie werden sich mit allen Mitteln gegen uns zur Wehr setzen – und ich will keine Verluste in unseren Reihen.“

„Was hast du vor?“

„Er wird sie ablenken, wenn er wie ein Narr zwischen den Häusern herumtorkelt. Wir nutzen die Gelegenheit und fallen aus dem Hinterhalt über seine Leute her.“ Er winkte den anderen gebieterisch mit der Hand zu. „Ausschwärmen! Wir pirschen uns von drei Seiten an das Nest heran. Ich übernehme die erste Gruppe von zehn Mann, du, Dobran, führst die zweite. Osman, du kommandierst den dritten Trupp.“

Sie trennten sich und huschten auf die Häuser zu, dunkle Gestalten in Regen und Sturmwind, die die Nacht zum Verbündeten hatten.

Antos eilte auf das Dorf zu. Er legte den Glockenbogen auf die Saiten seines Instruments und begann seine Lieblingsweise zu spielen, um auf sich aufmerksam zu machen. Gleich treten sie aus den Häusern, dachte er, gleich fallen sie vor Ehrfurcht zu Boden.

Doch vorerst war es nur Melania, die ihm aus einer Gasse entgegenlief. Sie hatte sich ein Tuch um den Kopf gebunden. Sie eilte leicht gebückt, beschleunigte ihre Schritte noch, als sie ihn erblickte, und griff nach seinem Arm, als sie bei ihm war.

„Antos, Antos!“ stieß sie hervor. „Ich habe mir solche Sorgen um dich bereitet. Ich wollte schon zur Bucht hinunter, um nach dir zu suchen. Warum tust du denn so schreckliche Sachen?“

Er hörte auf zu spielen und sah sie in einer Mischung aus Erstaunen und Verärgerung an. „Schreckliche Sachen? Habe ich dir nicht gesagt, wer erschienen ist? Sie sind da. Poseidons Sohn ist ihr Führer.“

„Antos …“

Er wandte sich um und gab einen Laut der Verwunderung von sich. Fast hätte er die Lyra fallen lassen. „Aber – wo sind sie denn nur geblieben?“

„Antos“, sagte Melania verzweifelt. „So begreif doch. Es gibt sie nicht wirklich. Sie existieren nur in deinem Geist. Du träumst.“

„Ich? Ich träume?“ Seine Augen weiteten sich, er stieß sie in einem Anflug aufsteigender Wut von sich. „Sag so was nicht noch mal! Wage es nicht, an meinen Worten zu zweifeln!“

Melania prallte mit dem Rücken gegen die Wand eines Hauses. Iris, durch das Rufen alarmiert, stürzte aus ihrer Wohnung und rannte auf die beiden zu. Melania schlug beide Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen.

„Laß sie in Ruhe, Antos!“ schrie Iris zornig. „Sie hat dir nichts getan! Sie will dir helfen, und du behandelst sie auch noch schlecht!“

Antos wich zurück und schwang seine Lyra wie eine Hiebwaffe. „Geht weg – alle beide! Ich will euch nicht sehen! Ihr – ihr stört meine Kreise, jawohl, meine Kreise. Ihr habt sie verjagt.“

Iris war neben Melania und legte schützend die Arme um sie.

„Du bist ja völlig durchgedreht!“ rief sie dem Mann zu. „Du siehst überall Geister! Du bringst noch Fluch und Elend über dieses Dorf!“

„Schweig!“

Er wollte sich auf Iris stürzen, doch jetzt gingen in allen Häusern die Türen auf, und Männer, Frauen und Kinder erschienen. Die Männer, größtenteils alt, aber immer noch kräftig und entschlossen, um Antos festzuhalten, umringten den Aufgebrachten und packten seine Arme. Die Frauen bildeten eine Barriere zwischen den Männern und Melania und Iris. Die Kinder tollten im Regen herum und begriffen nicht, was geschah. Nur der kleine Kanos trat zu seiner Mutter und hielt tröstend ihre Hand.

„Jetzt ist es aber genug, Antos“, sagte einer der alten Männer, während er heftig an dessen rechtem Arm zerrte. „Was richtest du denn an? Wenn Lagios erfährt, daß du seine Frau und Melania schlagen wolltest, bringt er dich glatt um.“

„Der Zorn der Götter wird auch ihn treffen!“ brüllte Antos. „Poseidons Peitsche schlägt euch tot! Laßt mich los! Poseidon hat seinen Sohn geschickt, er wird euch strafen! Hört doch!“

Brausend fuhr der Wind über die Dächer der Häuser. Er heulte durch die Gassen und trieb den Regen in die verzerrten, hier und da jetzt furchtsam werdenden Gesichter.

„Er hat einen Dämon im Leib!“ schrie eine alte Frau. „Er hat den bösen Blick! Stoßt ihn von den Felsen in die Schlucht!“

„Fort mit ihm!“ rief eine andere.

„Das hast du jetzt davon“, sagte der Alte zu Antos. „Alle sind gegen dich. Bist du jetzt zufrieden?“

Antos hörte auf, sich gegen die Griffe der Männer zu wehren. Ein Ausdruck der Verzückung nahm auf seinem Gesicht Gestalt an. Er blickte an den Köpfen vorbei zu den Häusern und sagte: „Ja, ich bin zufrieden, denn sie sind wieder da.“

Die Dorfbewohner fuhren herum. Mitten in der Gasse, die zu Antos’ Haus führte, stand eine Horde von wilden Gestalten, bunt und exotisch, mit den Schußwaffen im Anschlag auf die Männer, Frauen und Kinder von Pigadia.

In aufsteigender Panik versuchten die Frauen in die Seitengassen zurückzuweichen, doch plötzlich stöhnten sie auf. Auch von hier drangen jetzt Piraten gegen sie vor, verschlagen grinsende Kerle, teils in Burnusse gehüllt, teils Pluderhosen und Hemden tragend.

„Die Gespenster“, stammelte eine große, knochige Frau. „Er hat sie gerufen – und jetzt sind sie da, um uns zu peinigen.“

„Still!“ zischte Iris ihr zu. „Siehst du nicht, daß sie Menschen aus Fleisch und Blut sind wie wir? Auch eine Frau ist dabei.“

„Sohn des Poseidon!“ rief Antos mit sich überschlagender Stimme. „Sieh deine treuen Diener vor dir niederknien!“