UNAUSLÖSCHLICH

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From the series: Die Reacher Fälle #1
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Kapitel 4

Meilen von dem Mann entfernt, der gezwungen worden war, sein eigenes Grab zu schaufeln, wurde ein anderes Projekt durchgeführt.

Auch dieses wurde im Schutz der Dunkelheit ausgeführt, denn es war nur eine bescheidene Beleuchtung vonnöten.

Der Kojote, der dem toten Mann während seiner Hinrichtung ein Ständchen gebracht hatte, war jetzt nirgendwo zu entdecken.

Stattdessen waren eben jene beiden Männer mit den Knarren da, zusammen mit einem halben Dutzend anderer.

Die Aktion spielte sich hinter einem mit Schranken versehenen Eingang an einer unbefestigten Straße in der Mitte der Wüste ab, von Stacheldraht und Schildern umgeben, die Privatgelände ausriefen. Es gab ein halbes Dutzend Gebäude, die im Stil eines Militärkomplexes verstreut lagen. Das größte der Gebäude hatte die Ausmaße eines Flugzeughangars.

Bündel von Wüstentarnnetzen übersäten den ganzen Komplex, manche an Ort und Stelle, andere warteten darauf, benutzt zu werden, sobald sich die Umstände ergaben.

Anders als bei ihrer Aktion vor einigen Stunden begruben die Männer mit den Knarren keinen Menschen.

Diesmal machte sich ein großes Maschinenteil auf den Weg in sein neues Zuhause.

Unter der Erde.

In dem riesigen, hangarähnlichen Gebäude wurde eine große Falltür angehoben und enthüllte einen Tunnel von der Breite dreier Fahrspuren. Alles war militärgrau gestrichen und der Weg wurde von Lampen erhellt, die von Metallschirmen geschützt wurden.

Es gab einige leise Gespräche, subtile und doch unmissverständliche Handgesten, und eine heikle Aufgabe befand sich im Prozess präziser Durchführung. Die Luft roch nach Benzin, Motoröl und frischer Farbe.

Nahe der Rückseite des Hangars stand ein schweigender Mann. Er war sehr groß. Sehr dünn. Mit einer Glatze, die das grelle Innenlicht des Hangars einfing. Die arbeitenden Männer sahen ihn nicht direkt an; stattdessen schienen sie seine Anwesenheit aus den Augenwinkeln wahrzunehmen.

Sobald der riesige Gegenstand sicher abgestellt und die großen Türen wieder geschlossen waren, drehte sich der glatzköpfige Mann um und betrat einen Fahrstuhl mit Knöpfen, die zwei Stockwerke unter Bodenniveau anzeigten.

Er betrat den Fahrstuhl und drückte auf den Knopf für das unterste Stockwerk.

Draußen wurden die Lichter des Komplexes abgeschaltet und das Tarnnetz von einem automatisierten System an seinen Platz bewegt, wie in einem Footballstadion mit einem ausfahrbaren Dach.

Auf der unbefestigten Straße wurden die Reifenspuren der Fahrzeuge langsam vom nächtlichen Wüstenwind ausgelöscht.

Kapitel 5

Wenn es die Situation verlangte, konnte sich Lauren Pauling mit einer Schnelligkeit und Geschicklichkeit bewegen, die die Menschen um sie herum oft überraschten. Ihre weißen Muskelfasern waren allzeit bereit und ihre Reflexe sowie ihre Ausdauer waren eine kleine Legende beim Bureau.

Jedoch zog sie es vor, wann immer möglich, mit Bedacht vorzugehen.

Prüfen. Analysieren. Intuitiv erfassen.

Genau so ging sie mit der Ankunft des mysteriösen weißen Umschlags um.

Demjenigen, auf dem schlicht Reacher stand.

Sie stand bewegungslos in ihrem Büro, den Kopf leicht zur Seite geneigt, während sie gedanklich eine Reihe rascher Beobachtungen und Berechnungen durchging.

Definitiv nicht mit der Post gekommen.

Zu früh.

Definitiv nicht durch einen der Nachtzusteller ausgeliefert, da der Umschlag neutral war, ohne Beschriftung mit dem Namen einer Versandfirma.

Rasch verwarf sie auch den Gedanken, dass er fälschlicherweise an eine andere Adresse geliefert und vom Bewohner dieser falschen Adresse in ihr Büro gebracht worden war.

Es stand überhaupt keine Adresse auf der Vorderseite.

Auch nicht ihr Name.

All das sagte Pauling, dass der Brief persönlich zugestellt worden war.

Vielleicht von einem Kurier.

Trotzdem, die meisten Kuriere waren unterwiesen, ob sie eine Zustellbestätigung einholen sollten oder nicht. Meistens war es die Regel.

Was bedeutete: Falls der Umschlag per Kurier zugestellt worden war, lautete die Anweisung, ihn einfach auszuliefern, ohne sich eine Unterschrift zu holen.

Warum?

War dem Kurier aufgetragen worden, ungesehen zu bleiben? Den Brief schlicht unter ihrer Tür hindurchzuschieben und zu verschwinden?

Pauling machte einen Schritt auf den mysteriösen Besucher auf dem Boden ihres Büros zu.

In New York zu leben, dem Lieblingsziel verschiedener Terroristengruppen, machte Menschen tendenziell misstrauisch, wenn ihnen unbeschriftete Sendungen zugestellt wurden. Und Pauling war keine Ausnahme.

Noch dazu war sie Ex-FBI und hatte ihren Anteil an mit ausländischen Staatsfeinden verbundenen Pflichten erfüllt.

Als ob das nicht genug wäre, hatten sie und Jack Reacher einem korrupten Söldner ernsthaften Schaden zugefügt. Vielleicht war eines seiner Gangmitglieder wieder da und wollte Rache.

Auch das schloss Pauling aus.

Selbst eine Briefbombe müsste irgend eine Form haben.

Dieser Umschlag war flach. Pauling schätzte, dass ein Blatt Papier darin war. Wahrscheinlich noch nicht einmal eine ganze Seite. Karteikartengröße.

Sie schloss auch den Gedanken aus, dass Jack Reacher die Nachricht gebracht hatte. Nicht Reachers Stil. Er war direkt und auf den Punkt. Sicher, er bewegte sich anonym durchs Land, aber auf keinen Fall wäre er zu ihrer Tür gekommen und hätte ein Stück Papier abgelegt, ohne seine Anwesenheit anzukündigen.

Pauling hatte all diese Informationen allein durch die Begutachtung der vorderen Umschlagseite gesammelt. Jetzt trat sie vor, beugte sich hinunter und drehte den Brief um, bevor sie ihn aufhob.

Auf der Rückseite stand nichts.

Auch das bestätigte ihre vorherigen Theorien.

Ein eigenhändig zugestellter Brief.

Sie hob ihn auf, brachte ihn zu ihrem Schreibtisch und legte ihn ab. Sie setzte sich. Beugte sich vor. Roch am Umschlag.

Nur der schwache Duft von Papier, eine Art unscheinbarer Geruch, den man mit einem winzigen Kopierraum in einer Firma assoziierte. Oder mit einem Geschäft für Bürobedarf, direkt, nachdem es seine Lieferungen mit Schulmaterial erhalten hatte.

Außerdem eine Spur New Yorker Autoabgase.

Das war alles.

Sie entschied, dass sie sämtliche möglichen Informationen gesammelt hatte, nahm einen Brieföffner und schlitzte den Umschlag auf.

Ein Stück Papier glitt auf ihren Schreibtisch.

Es war karteikartengroß.

In der Mitte gefaltet.

Kein schicker Zierrand. Keine Fettschrift. Kein schweres Leinenpapier.

Nur eine handelsübliche Briefkarte.

Pauling klappte sie auf.

In schwarzer Tinte mit gleichmäßiger Handschrift stand eine Telefonnummer geschrieben.

Die Nummer sagte ihr nichts.

Kapitel 6

Beinahe zweitausend Meilen von der mysteriösen Aktivität in der Wüste entfernt, versammelte sich eine Menschengruppe um einen großen, aus einem dunklen, perfekt polierten Holz hergestellten Tisch. Er war fast schwarz und reflektierte die Einbaulampen über ihm, ebenso wie die beklommenen Gesichter, die rings um ihn herum saßen.

Auf dem Tisch lagen Aktenordner. Laptops mit verschiedenen Kabeln, die in geschickt kaschierte Öffnungen liefen. Pappbecher mit hoch konzentriertem Kaffee.

Sehr wenige Worte wurden gesprochen.

Ein großer Bildschirm an einem Ende des Raums zeigte eine Satellitenkarte. Es waren keine Städte aufgeführt. Keine Straßen mit entsprechenden elektronischen Beschriftungen. Sämtliche eindeutig bestimmten Positionen fehlten.

Die wenige stattfindende Aktivität hörte auf, als sich die Tür öffnete und ein Mann eintrat.

Er war älter als die meisten, aber mit breiten Schultern, einem säuberlichen Igelschnitt und einer Haltung, die Selbstvertrauen, Bestimmtheit und totale Befehlsgewalt implizierte.

Ohne Zögern ging er zum Kopfende des Tischs. Er sah auf den Stuhl hinab, entschied sich aber dafür, stehenzubleiben. Er musterte die Männer und Frauen, die am Tisch saßen.

Er sprach abgehackt, mit einem Timbre, das Autorität verriet.

»Ich will, dass die Person in diesem Raum mit den aktuellsten Informationen, mir in möglichst wenigen Worten mitteilt …«, sagte er und sein Blick wanderte von einer Person zur nächsten, bevor er den Gedanken beendete, »… was verdammt noch mal los ist.«

Kapitel 7

Für Michael Tallon war der Tod die Heimat.

Die kleine Stadt Independent Springs schmiegte sich in die südwestliche Ecke von Death Valley.

Das lag zwischen Los Angeles und Las Vegas, in einem Gebiet, das die meisten Menschen vom sehr weit entfernten Highway aus sahen.

Tallon besaß ein Stück Land von ordentlicher Größe und ein kleines Adobenhaus. Manche nannten es eine Casita, andere eine Ranch.

Für Tallon war es kein Heim. Er betrachtete es als Hauptquartier.

Von außen wirkte es wie eine typische Ranch eines kalifornischen Gentlemans. Jemand, der am Wochenende womöglich gern Cowboy spielte. Oder die Art Heim, zu dem ein berentetes Paar, das sich die großzügigen Häuser einer größeren Stadt nicht leisten konnte, als warme und günstige Option greifen mochte.

Aufgrund von Tallons Vorgeschichte besaß das Haus einige interessante Eigenschaften.

 

Mehrere Überwachungskameras. Ein Alarmsystem mit zwei Ersatzgeneratoren. Eine Waffenkammer. Einen Raum zum Gewichtheben, der die gesamte Garage einnahm. Eine Landschaftsgestaltung, die ganz normal wirkte, tatsächlich aber so angelegt war, dass ein Angreifer keine Deckung fand, während sie jemandem im Inneren des Gebäudes gleichzeitig mehrere nützliche Schussbahnen bot.

Ebenso war die Elektronik des Hauses ungewöhnlich. Es gab einen festinstallierten Telefonanschluss. Eine kabellose Funkanlage. Zwei Satellitentelefone mit mehreren Batterien und Ladegeräten. Ein drahtgebundenes Kommunikationssystem für Kabelanschluss und Internet, zusammen mit einem satellitenbasierten Stream, der die Hausinformationen ohne Strom und im Fall einer Unterbrechung der physischen Kabel weiterhin speisen konnte.

Die Fenster waren kugelsicher, die Eingangstüren von besonderer Bauart, geschaffen, um Explosionen und Feuer zu widerstehen.

Man könnte meinen, Michael Tallon sei ein Mann mit einer Menge Feinden.

Das stimmte zwar, aber es stimmte auch, dass die meisten von ihnen tot waren.

Dennoch hatte Tallon einige Vorsichtsmaßnahmen getroffen, weil er es sich leisten konnte, und es war sinnvoller, Befestigungen einzubauen, als zu sparen.

Wenn er etwas tat, versuchte Michael Tallon, es richtig zu tun.

Jetzt deaktivierte er das Sicherheitssystem, ging durch das Haus, und mit dem Ergebnis zufrieden packte er seine Ausrüstung aus. Er verstaute seine Waffen, duschte und goss einen Fingerbreit Whisky in ein Glas.

Er setzte sich ins Wohnzimmer, wo das Panoramafenster die Weite der Wüste bis zu den Bergen dahinter überschaute. Im Inneren des Raums war es dunkler als draußen und eine Schicht aus spiegelndem Material zierte das Äußere. Niemand konnte hineinsehen, aber Tallon konnte hinausschauen.

Es war schön, wieder hier zu sein, dachte er.

Sein Auftrag war mit der gehörigen Effizienz ausgeführt worden und alles war nach Plan verlaufen.

Abgesehen von der Konfrontation im Restaurant.

Tallons Gedanken wanderten zu dem jungen Mädchen. Sie hatte eine Herausforderung vor sich, das stand fest. Die Polizei würde kommen. Sie würde eine halbherzige Suche nach dem Mann durchführen, der den ursprünglichen Angreifer verletzt hatte. Aber sie würde nichts finden. Tallon war recht talentiert, wenn es darum ging, keine Spur seiner Anwesenheit zu hinterlassen.

Aber das Mädchen. Er hoffte, sie würde sein Geld nehmen und verschwinden. Einen Freund aufsuchen. Oder ein Familienmitglied. Vielleicht war ihre Mutter gar nicht so schlimm. Vielleicht brauchten sie nur eine Auszeit.

Vielleicht würden sie die Einmischung eines Fremden als ein Zeichen dafür sehen, neue Wege zu beschreiten.

Er hoffte es.

Aber es war eine zurückhaltende Hoffnung. Er wünschte, es gäbe einen Weg, die Geschichte zu verfolgen, aber er wusste, dass er das nicht konnte. Dem Mädchen eine Information zu geben, wäre ein Fehler gewesen. Sie wäre gezwungen gewesen, diese Information der Polizei weiterzugeben, und dann gäbe es Probleme.

Er hatte das Richtige getan.

Doch ein Teil von ihm fragte sich … hatte er genug getan?

Kapitel 8

Die Überlegungen gingen weiter.

Pauling aß mit einer Kontaktperson der United Nations zu Mittag. Sie war auch eine Frau. Sie und Pauling hatten eine geschäftliche Beziehung. Doch sie erkannten dieselben Prüfungen und Mühen ineinander wieder, die immer damit einhergingen, eine starke und intelligente Frau in der Welt zu sein.

Ihre Freundschaft brachte Vorteile.

Manchmal nutzte Pauling die Frau, um Informationen zu erhalten. Informationen, die sie von ihren üblichen Kontakten beim FBI nicht bekam. Oder beim State Department. Oder sogar aus ihren Datenbanken, für die sie jeden Monat beträchtliche Summen ausgab.

Manchmal gab es einfach keinen Ersatz für einen Insider.

Das war etwas, an das auch Jack Reacher fest glaubte, wie sie wusste.

Die Frau der UN bekam auch etwas. Hauptsächlich Karrieretipps und Welterfahrung. Die Frau der UN sprach mehrere Sprachen, war überall herumgekommen, allerdings nicht in denselben Kreisen, in denen Pauling sich bewegt hatte. Deswegen benutzte sie Pauling oft als Resonanzboden. Paulings analytischer Verstand war rasiermesserscharf und die Frau hatte die Ressource auf den ersten Blick erkannt.

Für Pauling war das Mittagessen ein Genuss. Eine wohltuende Pause. Ein wunderbarer Salat von grünem Feldgemüse, kandierten Walnüssen und geräuchertem Lachs. Mit einem Glas Mineralwasser. Und einem ausgezeichneten zum Nachdenken anregenden Gespräch.

Im Hinterkopf dachte Pauling allerdings an die Telefonnummer und den mysteriösen Umschlag mit Reachers Namen darauf.

Pauling liebte Geheimnisse. Und Rätsel. Deswegen war sie überhaupt in den Gesetzesvollzug gegangen.

Sie hatte Herausforderungen schon immer geliebt, und so hatte sie sich diese zum Beruf gemacht. Je schwieriger die Aufgabe, desto besser.

Nach dem Mittagessen ging Pauling zu Fuß zu ihrem Büro zurück. Es war ein sonniger Tag in New York; die Schatten der Gebäude minderten die Wärme, aber Pauling ging soweit möglich in der Sonne. Die meisten Büroangestellten waren wieder an ihren Schreibtischen und auf den Bürgersteigen herrschte relativ wenig Fußgängerverkehr. Das war eine der Annehmlichkeiten der Selbstständigkeit. Die Möglichkeit, seinen eigenen Zeitplan zu gestalten und sich hier und da einen Augenblick zu sichern, um sich zu entspannen.

In ihrem Büro begab sich Pauling an ihren Schreibtisch und rief eine der Datenbanken auf. Sie nutzte einen Rückwärtssuchdienst und forschte nach Informationen über die geheimnisvolle Telefonnummer.

Die Ergebnisse kamen prompt.

Es war ein Handy.

Auf jemanden in Albuquerque, New Mexico, registriert.

Das war interessant.

Pauling war noch nie in Albuquerque gewesen. Sie war in Las Cruces, New Mexico, gewesen, um einen Drogendealer zu jagen, der bei El Paso ins Land geschlüpft war. Irgendwann hatte sie ihn nahe des Mescalero-Reservats geschnappt, wo er sich in einem heruntergekommenen Wohnmobil versteckt hatte, das von einem achtzigjährigen Hippie-Paar gefahren wurde.

Aber sie war nie in Albuquerque gewesen. Sofort wanderten ihre Gedanken zu Reacher. Seine Reisen führten ihn überall hin, wie sie wusste. War er in Albuquerque gewesen? Hatte er die Nachricht von dort aus an ihr New Yorker Büro geschickt?

Für einen Augenblick fragte sie sich, ob Reacher Hilfe brauchte.

Und dann lachte sie sich für die Albernheit des Gedankens aus.

Reacher brauchte nie irgendjemandes Hilfe, soweit sie wusste.

Trotzdem blieb die Frage des Umschlags ein Rätsel und sie genoss die Zerstreuung.

Schließlich entschied sie, dass die Zeit des Nachdenkens vorüber war.

Sie nahm den Telefonhörer in die Hand, tippte die Zahlen ein und wartete auf eine Stimme am anderen Ende der Leitung.

Kapitel 9

Der IQ des Gefangenen lag ungefähr bei armseligen Neunzig oder so. Fünf Punkte unter dem untersten Ende des durchschnittlichen Spektrums menschlicher Intelligenz.

IQ und Persönlichkeit waren allerdings nicht miteinander verknüpft.

Seine antisozialen und soziopathischen Tendenzen waren ganz von allein entstanden. Sie waren nicht von seiner geistigen Kapazität verursacht worden; sie traten vielmehr deswegen zutage.

In anderen Worten, seine angeborene Wesensart verdammte ihn zu einem kriminellen Leben. Seine niedrige Intelligenz garantierte, dass er geschnappt wurde. Und das schnell.

Mit fünfzehn war der Mann – die Testperson – schon mehrmals inhaftiert gewesen. Bei seiner letzten Freilassung war er zum Aufenthalt in einem Resozialisierungszentrum verurteilt worden. Zu seinen weniger angenehmen Charakterzügen hatte er bald noch die Sucht hinzugefügt.

Heroin, um genau zu sein.

Das Angebot von Gratisdrogen führte zu seiner Abhängigkeit, und nun fand er sich festgeschnallt wieder, an einen Stuhl mit gerader Lehne, dessen Beine im Betonboden verankert waren.

Der Raum bestand komplett aus Beton, mit einem einzigen Deckenlicht und einem Rohr, das über die Länge der Wand verlief, hoch zur Decke, hin zu einem schmucklosen Duschkopf, der direkt über dem Kopf der Versuchsperson schwebte.

Der Gefangene hatte die merkwürdige Eingebung, dass er sich unter der Erde befand. Vielleicht lag es an der Qualität der Akustik. Oder an den fehlenden Fenstern. Oder am leicht feuchten, moderigen Geruch wie von einem Keller.

Hinter einem dicken Fenster mit Einwegscheibe beobachtete eine kleine Menschengruppe den Gefangenen. Sie betrachteten ihn mit großem Interesse. Jeder von ihnen hielt ein Klemmbrett mit einem Blatt voller Linien und Kästchen in der Hand, das sie benutzen würden, sobald das Experiment begann.

Hinter der Gruppe stand ein kahlköpfiger Mann von imposanter Statur. Er war fast zwei Meter groß, mit breiten Schultern und einem Gesicht, das aus scharfen Kanten bestand. Der Kopf des Mannes war rasiert, was mehrere Blutgefäße enthüllte, die gut sichtbar hervorstanden. Seine Augen waren klar und blau und ein bisschen mehr geweitet als normal, so als sei er entweder leicht überrascht oder als betrachte er die Welt um sich herum mit großer Intensität.

Diejenigen, die ihn gut kannten, wussten, dass Letzteres zutraf.

Sie wussten auch, dass es einen Grund gab, warum seine Blutgefäße erweitert waren. Er war sowohl ein Doktor der Medizin als auch der Philosophie. Sein medizinischer Abschluss verschaffte ihm großen Spielraum beim Selbstverordnen ungewöhnlicher und einzigartiger pharmazeutischer Produkte, die dazu bestimmt waren, seine Muskulatur sowie auch seinen Intellekt zu verbessern.

Die physischen Nebeneffekte waren allzu offensichtlich.

Die psychologischen Auswirkungen waren es nicht.

Die Gruppe vor dem Mann hatte jedoch nicht die Absicht, ihre Beobachtungen kundzutun. Sie war ausschließlich auf den Gefangenen auf der anderen Seite der Wand konzentriert. Jeder einzelne von ihnen wusste auch, dass der Mann hinter ihnen sie ebenso studierte wie das unglückliche Opfer, das an den Stuhl gebunden war. Es war ihnen lieber, in ihrer jetzigen Umgebung beobachtet zu werden, statt im Raum auf der anderen Seite der abgeschirmten Wand.

Irgendwo hinter ihnen klang ein dumpfes mechanisches Geräusch durch den Raum. Alle richteten sich gleichzeitig auf ihren Stühlen auf und brachten ihre Stifte in Position über ihren Papieren. Der Mann hinten blieb unbeweglich.

Ein gurgelndes Geräusch hallte durch den Raum, gefolgt von einem Zischen, und dann quoll ein Strom trübbrauner Flüssigkeit aus dem Duschkopf und ergoss sich über den Gefangenen darunter.

Der Mann kämpfte gegen seine Fesseln, jedoch ohne Erfolg. Sie waren von Industriequalität und selbst ein Mensch mit übermenschlicher Stärke konnte sie unmöglich zerreißen. Der Stuhl selbst war extrem stabil und konnte dem panischsten Gezappel problemlos standhalten.

Der Mann im Stuhl bäumte sich auf und warf sich hin und her, schrie und fluchte. Zuerst waren es Angstproteste; während die Flüssigkeit jedoch weiter auf den Mann herabregnete, wurde seine Haut rot und begann Blasen zu werfen. Die Angst wurde zu Wut, gefolgt von feindseligem Rufen und Fluchen. Allmählich verlor seine Stimme an Lautstärke und seine Kehle und Stimmbänder brannten.

Sein Kopf sackte nach vorn.

Die Flüssigkeit ergoss sich weiter über seine mittlerweile reglose Gestalt.

Bald schon waren die Auswirkungen auf seinen Körper massiv und unumkehrbar.

Hinter der Wand begannen die Menschen mit den Klemmbrettern zu schreiben.

Der Mann hinten im Raum beugte sich vor.

Er lächelte.

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