Du & Ich

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Freundinnen

Jugendzeit

Der Brief

Träume

Die Entscheidung

Tom Fields Buch

Der Auftrag

Klara

Klaras Geschichte

Das Tattoo

Die Rettung

Die Entscheidung

Das Haus

Klaras Besuch

Unheimliche Begegnung

Leos Verwandlung

Der Abschied

Wünsche

Freudige Nachrichten

Ein Gruß von der Insel

Das Traumboot

Seelenliebe

Impressum neobooks

Du & Ich

Seelenwanderer

Im

Universum

Von Dagmar Salawa

Freundinnen

„Frau Müller?“, fragte die Kinderkrankenschwester, die das Wöchnerinnenzimmer betrat.

„Ja, hier!“, riefen zwei Frauen gleichzeitig. „Ich habe hier einen kleinen Randolph, der zu seiner Mama will.“

„Oh, dann ist das wohl meiner“, sagte Inka Müller und blinzelte ihrer Bettnachbarin zu, die sie in einem Geburtsvorbereitungskurs kennengelernt hatte. Schon dort waren die Frauen nicht nur wegen ihres gleichen Namens verwechselt worden. Inka und Mia waren sich auch äußerlich sehr ähnlich.

Mia war Hausfrau und Sina ihr drittes Kind, das sie in diesem Hospital zur Welt gebracht hatte. Sie war mit einem wohlhabenden Bauunternehmer verheiratet und genoss den Luxus, nicht arbeiten gehen zu müssen.

Inka war Krankenschwester und alleinerziehend, was 1950 keine Seltenheit war. Fünf Jahre nach Kriegsende gab es viele Frauen, die ihre Kinder allein aufziehen mussten. Inkas Mann war vor sechs Monaten an den Folgen einer Malaria verstorben, die er sich bei einem Einsatz in Afrika zugezogen hatte.

Die beiden Frauen wohnten in Schleswig-Holstein. Inka, in einer kleinen Zweizimmerwohnung und Mia in einem schicken reetgedeckten Einfamilienhaus.

Seit diesem Geburtsvorbereitungskurs waren die beiden Frauen gute Freundinnen geworden. Nach ihrer Entlassung aus der Klinik, gingen sie oft gemeinsam mit den Kinderwagen am Nordseestrand spazieren. Sina unterstützte ihre Freundin, in dieser schwierigen Zeit, so gut sie konnte.

Als die beiden Kinder zwei Jahre alt waren, lernte Inka einen GI aus Chicago kennen, der in Kiel stationiert war. Sie verliebte sich in ihn und ging mit ihm in die USA. So verloren sich Inka und Mia aus den Augen. Viele Jahre später traf Mia, Inkas Mutter beim Einkaufen und erfuhr, dass Inka und ihr Mann Roy bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Ihr Sohn Randolph war zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alt. Er und seine drei Geschwister waren von Familien in verschiedenen Bundesstaaten adoptiert worden. Seitdem hatten die Kinder keinen Kontakt mehr zu ihrer deutschen Großmutter.

Jugendzeit

„Sina! Wo bist du denn schon wieder?“ Mia suchte ihre Tochter, die wie so oft beim Einkaufen, träumend vor den Taschenbüchern stand. Sina war eine Leseratte die, seitdem sie lesen konnte, Bücher nur so verschlang. In dieser Zeit gab es nur wenige Kinderbücher. Oft lief Sina mit ihrer Tochter von einer Buchhandlung zur anderen, um ein neues Exemplar zu entdecken.

Als Sina älter wurde, war sie fasziniert von Fantasy Romanen und außergewöhnlichen Liebesgeschichten.

Sie hatte, zusammen mit ihren beiden jüngeren Schwestern, eine glückliche Kindheit genossen. Als sie fünf Jahre alt war, bekam sie einen kleinen Bruder. Ralphi kam, als Siebenmonatskind, zu Hause auf die Welt. Er lebte nur einige Minuten. Sina durfte den Namen des Babys aussuchen, bevor der kleine weiße Sarg mit den goldenen Engeln auf dem Deckel, geschlossen wurde.

Ihre Oma sagte damals: „Ja Sina, schade dass wir deinen kleinen Bruder nicht behalten dürfen. Er wollte viel zu früh auf diese Welt. Nun müssen wir ihn wieder mit den Engeln in den Himmel fliegen lassen. Wenn er größer ist, kommt er sicher zu dir zurück.“

Mit neunzehn Jahren legte Sina ihre Abiturprüfung ab und bekam einen Studienplatz in München. Dort zog sie, zusammen mit ihrer Freundin Sonja, in eine kleine Studenten-Wohnung.

Es waren die wilden 60er Jahre und die beiden Mädels genossen, so weit weg vom schützenden Elternhaus, ihre Freiheiten. Sinas und Sonjas Eltern finanzierten zwar die Wohnung, aber ihren Lebensunterhalt verdienten sich die Mädchen mit Aushilfsjobs. Sina fand einen Job in einem kleinen Architekturbüro und Sonja in einem Café, nicht weit entfernt von der Universität. Am Wochenende waren die beiden oft auf Studentenpartys, auf denen es hoch her ging und auch Alkohol in Mengen floss.

An einem Samstagabend, als die beiden wieder einmal loszogen, wurden sie von einer Gruppe US-Soldaten angesprochen. Die jungen Männer waren betrunken und pöbelten die Mädels auf offener Straße an.

Sina und Sonja ignorierten die drei Soldaten und liefen weiter. Als die Männer aufdringlicher wurden, näherte sich ein weiterer junger Mann in US-Uniform. Der sprach die Kumpels an und drohte, diesen Vorfall deren Vorgesetzten zu melden, wenn sie nicht sofort verschwinden würden. Sina wurde es plötzlich schwarz vor Augen.

Als sie wieder erwachte, lag sie in einem Krankenwagen und Sonja saß an ihrer Seite.

„Hey was ist los? Hast du zu viel getrunken?“, fragte ihre Freundin.

Sina war sofort hellwach und wollte aufstehen, aber man hatte sie an der Liege im Wagen fixiert. In der Klinik konnte man nicht feststellen, was ihr fehlte, darum durfte sie in der gleichen Nacht wieder nach Hause. Die beiden hatten den Vorfall schnell vergessen. Eines Tages erzählte Sonja ihrer Freundin, dass der junge Soldat, der sie vor seinen betrunkenen Kameraden beschützt hatte, im Café aufgetaucht war. Er hatte sie für diesen Abend auf einen Drink in eine kleine Bar eingeladen.

„Kommst du mit?“, fragte Sonja und sah ihre Freundin bittend an.

„Meinst du, ich kann da so einfach mitkommen? Der hat doch dich eingeladen!“

„Du glaubst doch nicht, dass ich da allein hingehe“, lachte Sonja. „Wer weiß, was das für einer ist.“

Am Abend begaben die beiden sich auf den Weg zu der kleinen Bar. Vor deren Tür stand ein blonder junger Mann, in Bluejeans und grauem Pullover.

„Ist er das?“, fragte Sonja.

„Keine Ahnung. Schwer zu sagen, so ohne Uniform und Mütze.“ Sie kniff die Augen zusammen und schaute in Richtung des jungen Mannes.

In diesem Moment kam er auf die beiden Mädels zu.

„Hello, nice to see you“, sagte er und schüttelte Sonja höflich die Hand.

Als er Sina ansah und deren Hand berührte, fuhr es ihr wie ein Blitz durch den Körper und sie hätte beinah das Gleichgewicht verloren. Verdammt was war das? War sie doch krank? Schnell zog sie ihre Hand zurück und steckte diese in ihre Manteltasche.

Den Rest des Abends saßen die drei, auf ihren Barhockern, am Tresen. Ralph Brown, wie der junge Mann hieß, kam aus Illinois. Er war so alt wie die Mädchen und erst seit kurzem beim Militär. Man hatte ihn nach Deutschland geschickt, weil er etwas deutsch sprach. Er diente als Vermittler zwischen seinen Kameraden und der Münchner Bevölkerung sowie den Behörden.

„Hast du unsere Sprache in der Schule gelernt?“, fragte Sonja neugierig.

„No, no“, lachte er. Meine Mutter kam aus Deutschland.

Der Barmann schob ihre Drinks über den Tresen und das Gespräch nahm eine andere Richtung. Sina vermied an diesem Abend jeden weiteren Körperkontakt mit Ralph.

In den nächsten Wochen hatte Sonja wenig Zeit für ihre Freundin. Sie hatte nur noch Augen für den jungen amerikanischen Soldaten.

 

Der Winter kam und Ralph wurde nach Vietnam versetzt. Sonja war am Boden zerstört. Sie weinte tagelang. Sie hatte Angst, dass ihr Freund den Einsatz, in diesem Kriegsgebiet, nicht überleben würde. Der Briefkontakt der beiden brach nach kurzer Zeit ab.

Sina war in den folgenden Wochen oft beim Arzt. Sie hatte unerklärliche Schmerzen in ihren Beinen. Die kamen ohne Vorwarnung und blieben nur wenige Minuten. Sie hatte Hunger, obwohl sie gegessen hatte. Sie wurde ebenso von plötzlichen Kopfschmerzen geplagt, gefolgt von Übelkeit.

Sinas weiteres Studium litt unter diesen, für die Ärzte unerklärlichen, Symptomen. Man wies sie in eine psychiatrische Klinik ein und diagnostizierte eine beginnende Schizophrenie. Ihre Eltern waren verzweifelt und holten ihre Tochter nach Hause. Dort hörten diese schizophrenen Schübe so abrupt auf, wie sie begonnen hatten. Mit fünfundzwanzig beendete sie dann ihr Studium in Kiel. Sonja hatte in München eine Stelle, als Redakteurin bei einer großen Zeitung bekommen und noch während des Studiums geheiratet. Der Kontakt der beiden Frauen war in der ganzen Zeit nicht abgerissen. Sina lernte einige junge Männer kennen, aber keiner berührte ihr Herz. Nicht einer von ihnen hatte so ein Gefühl der „Spannung“ in ihr ausgelöst, wie dieser Soldat Ralph, aus ihren Jugendjahren. Früher hatte sie ihre Gefühle ihm gegenüber nicht einordnen können. Sie fühlte sich damals seltsam von ihm angezogen und abgestoßen zugleich.

Der Brief

Sina war nun schon fast dreißig Jahre alt und sehnte sich nach einer eigenen Familie mit Kindern. Sie lebte immer noch bei ihren Eltern und wurde deshalb oft von ihren Geschwistern auf den Arm genommen. Vater und Mutter sorgten sich um ihre Tochter und luden Peter, einen früheren Angestellten und Freund von Sinas Vater, zu dessen Geburtstagsfeier ein. Der brachte seinen Sohn Leo zur Feier mit. Leo war ein Jahr älter als Sina und bemühte sich sehr um die hübsche, intelligente junge Frau. Kurze Zeit später, waren die beiden ein Paar. Schon nach einem Jahr wurde Hochzeit gefeiert. Sie bezogen eine Wohnung in Hamburg, wo Leo eine neue Stelle als Buchhalter, in einer großen Reederei annahm. Er war ein vorbildlicher Ehemann. Die beiden bekamen kurz hintereinander zwei Kinder und alles schien perfekt.

Manchmal hatte Sina eine unstillbare Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Schmetterlinge tanzten in ihrem Bauch. Dann freute sie sich auf ihren Mann. Doch jedes Mal, wenn der von der Arbeit kam, war dieses unbändige Verlangen verschwunden. Nachts lag sie oft neben Leo und Tränen liefen scheinbar grundlos über ihre Wangen, vor Sehnsucht nach etwas, das sie nicht benennen konnte.

Seit die Kinder den Kindergarten besuchten, arbeitete sie wieder stundenweise in einem kleinen Architekturbüro.

Als Leo eines Tages zu einer Fortbildung nach Frankreich fuhr, besuchte Sina am Nachmittag, zusammen mit den Kindern, eine Eisdiele, die nicht weit von ihrem Haus entfernt war. Die beiden saßen schon am Tisch und ihre Mutter gab die Bestellung an der Theke, im Inneren des Eiscafés auf, als sie plötzlich das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Sie drehte sich um, sah aber niemanden, der ihr bekannt vorkam. Sie setzte sich wieder zu ihren Kindern, die geduldig auf ihren Eisbecher warteten. Gegenüber der Eisdiele befand sich ein großes Hotel. Hinter dessen Gardinen stand jemand im ersten Stock und beobachtete die Menschen, die da unten ihr Eis genossen.

Als Sina mit den Kindern nach Hause kam, läutete das Telefon.

„Hallo Sina. Wie geht es dir?“, flötete Sonja am anderen Ende der Leitung.

„Na, du bist ja gut gelaunt! Was ist los?“, fragte Sina, die schon eine Weile nichts mehr von ihrer Freundin gehört hatte.

„Stell dir vor, wen ich heute in der Stadt getroffen habe. Das errätst du nie!“, meinte sie aufgeregt.

„Keine Ahnung, aber du wirst es mir gleich verraten, denke ich“, meinte Sina und versuchte ihre beiden Kinder, die sich mal wieder lautstark in den Haaren hatten, auseinanderzuhalten.

„Sag mal, was ist denn das für ein Spektakel bei dir im Hintergrund? Ich glaube, ich werde dich heute Abend noch einmal anrufen, wenn die Kinder im Bett sind“, beendete Sonja das Gespräch.

Zwei Stunden später rief sie erneut an.

„Na, sind die kleinen Monster endlich im Bett?“, fragte sie und begann zu erzählen, ohne Sinas Antwort abzuwarten.

Sie berichtete, dass sie ihren Jugendfreund Ralph in der Münchner Innenstadt getroffen hatte. Er war mit seiner vietnamesischen Frau und seinem Sohn in Deutschland, um ihnen das Land zu zeigen, in dem er geboren und als junger Soldat stationiert war. Er hatte nach Sina gefragt und Sonja um deren Adresse gebeten.

„Ja und? Hast du sie ihm gegeben?“, fragte Sina neugierig.

„Ja sicher. Ich hoffe, das war dir recht.“

Sina war es nicht recht. Was fiel Sonja eigentlich ein! Sie hoffte, dass Ralph nicht unangemeldet bei ihr auftauchen würde.

Am nächsten Tag schaute sie in den Briefkasten und fand dort einen Brief. Der war ohne Marke und es stand nur „Sina“ darauf. Sie öffnete ihn und begann zu lesen:

„Liebe Sina,

Sonja hat Dir sicher erzählt, dass ich sie zufällig getroffen hatte. Ich bin mit meiner kleinen Familie in Deutschland, um ihr zu zeigen, wo ich zur Welt kam und als junger Mann stationiert war. Drei Jahre verbrachte ich in Vietnam und habe dort für mein Land gekämpft. Ich wurde einige Male verwundet. Das letzte Mal fand mich Sun Li in einem Graben und pflegte mich gesund. Mit ihr bin ich nun verheiratet und wir haben einen dreijährigen Sohn zusammen. Sun Li und ich würden uns über ein Treffen freuen, bevor wir am Wochenende wieder abreisen werden. Ich habe Dich gestern mit deinen Kindern in der Eisdiele vor dem Hotel gesehen, hatte aber nicht den Mut, Kontakt mit Dir aufzunehmen. Ich hatte früher immer den Eindruck, dass Du mich nicht ausstehen kannst. Trotzdem möchte ich Dich wiedersehen. Wir könnten uns mit unseren Familien in dieser Eisdiele treffen. Wir warten dort morgen um 15 Uhr auf Euch.

Gruß Ralph mit Familie.“

Sina hielt den Brief in ihren Händen und fing plötzlich an zu zittern. Verdammt was war das schon wieder! Warum zitterte sie? Ihr wurde heiß. Bekam sie eine Grippe? Sina las den Brief einige Male und erinnerte sich daran, wie sie am Tag zuvor das Gefühl hatte beobachtet zu werden. Warum nur reagierte sie immer so seltsam, wenn es um Ralph ging? Er war doch Sonjas Freund gewesen!

In dieser Nacht träumte Sina von einem riesigen See. Auf dem schwamm sich ein kleines Boot. In diesem saßen zwei Menschen, die dem Sonnenuntergang entgegen ruderten. Am Ufer saß ein Fuchs, mit einer Rose in seinem Maul. Sina wachte auf. Was wollte dieser Traum ihr sagen? Wie passte der Fuchs in das Bild? Sina schaute auf ihren Wecker. Es war erst 2 Uhr, mitten in der Nacht. Sie trank ein Glas Wasser und legte sich wieder ins Bett.

Am nächsten Tag überlegte sie, ob sie sich auf das Treffen mit Ralph und dessen Frau einlassen sollte.

„Kinder, wollen wir ein Eis essen gehen?“, rief sie in Richtung Kinderzimmer.

„Ja, ja, ja!“, riefen die beiden im Chor.

Sinas Herz begann immer schneller zu schlagen, je näher sie der fünf Minuten entfernt liegenden Eisdiele kamen. Als sie diese erreichten, schaute Sina sich suchend um. Würde sie Ralph überhaupt wiedererkennen?

Die einzige Asiatin, die sich auf der Terrasse befand, saß an einem Tisch mit einem Kind und einem Mann im Rollstuhl. Sie lief auf die drei Menschen zu. Als sie näher kam, erkannte sie Ralph. Es beschlich sie eine Mischung aus Mitleid, Angst, Unsicherheit und gleichzeitigem angezogen sein. Ihn in einem Rolli wieder zu sehen, damit hatte sie nicht gerechnet.

„Kinder, kommt! Wir gehen zu einer anderen Eisdiele, hier ist es mir zu voll.“ Sina nahm die beiden an den Händen und zog sie mit sich.

Am Abend, als die Kinder im Bett lagen und schliefen, saß Sina in der Küche. Eine unerklärliche Traurigkeit überkam sie und Tränen rannen über ihre Wangen. Was war nur los mit ihr? Sie erschrak, als sie eine Berührung an ihrer Schulter spürte. Sie drehte sich um. Niemand außer ihr war im Raum. Sie schüttelte den Kopf, stand auf und ging schlafen. Am nächsten Tag rief Sonja an.:

„Hallo Sina, hast du dich mit Ralph getroffen?“

„Nein. Ich war zwar bei der Eisdiele, aber als ich ihn im Rollstuhl sitzen sah, wusste ich nicht, wie ich mit dieser Situation umgehen sollte. Da bin ich wieder gegangen, ohne mit ihm zu sprechen“, sagte Sina. „Warum hast du mir nicht vorher gesagt, dass er nicht mehr laufen kann? Dann wäre das nicht ein solcher Schock für mich gewesen.“

„Ach, hatte ich das nicht erwähnt? Tut mir leid“, entschuldigte sich Sonja scheinheilig.

Träume

Sina vermisste ihren Mann und freute sich darauf, ihn nach seinem Kurs wieder zu sehen. Sie hatte aus heiterem Himmel eine unerklärliche Sehnsucht nach körperlicher Liebe. Als Leo am Abend endlich durch die Tür kam und er sie küsste, war dieses Gefühl urplötzlich wieder verschwunden.

In den nächsten Wochen und Monaten wiederholte sich diese Empfindung, der plötzlichen Lust, bei ihr. Oft zu den unpassendsten Gelegenheiten. Zum Beispiel beim Einkaufen, oder bei der Arbeit. Nachts fühlte sie einige Male Hände auf ihrem Körper, die nicht die ihres Mannes waren. Sie hatte Angst, ihre Schizophrenie würde wieder zurückkehren. Schließlich wurden diese Empfindungen mit der Zeit immer schwächer, bis sie vollständig verschwanden. Von alledem erzählte sie nicht einmal ihrer Freundin Sonja, die sie dann sicher für irre gehalten hätte.

Sina hatte, seit ihrer Studienzeit, einen immer wieder kehrenden Traum.

Sie träumte, sie würde auf einer Brücke, über einem riesigen Wasserfall in einem Urwald stehen. Sie breitete ihre Arme aus, schloss ihre Augen und ließ sich in die Tiefe fallen. Sie fühlte schon die Wassertropfen auf ihrer Haut, als sie von starken Armen aufgefangen wurde.

„Na endlich, da bist du ja!“, schrie sie gegen das ohrenbetäubende Tosen des Wassers an.

Als sie ihre Augen wieder öffnete, lag sie frierend in ihrem Bett. Warum wiederholte sich dieser Traum immer wieder? Sie zermarterte sich ihr Hirn darüber, was der zu bedeuten hatte. Vor allem, wer war ihr Retter?

Es war wieder eine dieser Nächte, in denen sie wenig Schlaf fand. Sie war in den Wechseljahren und hasste diese Nächte, in denen sie einen Schweißausbruch nach dem anderen bekam. Sie wälzte sich dann von einer Seite auf die andere und verzweifelte fast an ihrer Schlaflosigkeit. Seitdem die Kinder aus dem Haus waren, arbeitete sie wieder in einem kleinen Architekturbüro in der Stadt. Nach solchen unruhigen Nächten war sie besonders gereizt und unkonzentriert.

An jenem Morgen rief ihr Chef sie zu sich. Klaus fragte sie, ob sie nicht Lust hätte, einen Auftrag für einen Kunden auf Hawaii anzunehmen.

„Ach Klaus, tu mir das nicht an. Wie du weißt, geht es mir in letzter Zeit nicht besonders gut. Außerdem kann ich nicht nach Hawaii reisen und dort ein Projekt betreuen. Mein Mann würde da niemals mitmachen. Es steht mit seiner Gesundheit in letzter Zeit nicht zum Besten. Ich möchte ihn in seinem Zustand ungern allein lassen“, versuchte Sina ihren Chef von dieser Idee abzubringen.

„Du könntest das Projekt vorwiegend von hier aus betreuen. Das wird ein großes Haus direkt am Meer werden. Der Bauherr ist ein wohlhabender Mann. Bei ihm spielt Geld wohl keine Rolle. Bitte Sina, überlege dir das. Die Innenausstattung darfst du dann ebenfalls planen.“ Klaus wusste, wie er Sina ködern konnte.

„Also gut, ich werde heute Abend mit Leo reden“, versprach Sina. „Solange ich nicht Wochen im Ausland verbringen muss!“

Leo war nicht sonderlich begeistert von dem neuen Auftrag seiner Frau. Er hatte schon lange mit einer gefährlichen Lungenkrankheit zu kämpfen. Er war seit vielen Jahren starker Raucher und dieses forderte jetzt seinen Tribut. Er war darum schon seit Monaten arbeitslos. Mit der Zeit wurde er immer unausstehlicher. Jetzt verdiente Sina den Großteil des Lebensunterhalts.

 

Leo fühlte sich unnütz und begann aus Kummer zu trinken. Wenn Sina ihn darauf ansprach, meinte er nur: „Lass mich in Frieden. Jetzt ist sowieso schon alles egal.“

Durch die Medikamente, die er einnehmen musste, verlor er auch die Fähigkeit, mit seiner Frau zu schlafen, was Sina eigentlich entgegenkam. Seitdem die Wechseljahre bei ihr eingesetzt hatten, hatte sie ohnehin die Lust auf Sex verloren.

Sie war froh, außer Haus arbeiten zu können. Auf diese Weise musste sie Leos Trinkerei und seine depressiven Phasen nicht den ganzen Tag ertragen. Wenn sie abends nach Hause kam, schlief ihr Mann meistens schon seinen Rausch auf dem Sofa im Wohnzimmer aus. Seitdem er trank, hatten die beiden getrennte Schlafzimmer. Sina ertrug den Alkohol-und Nikotingeruch nicht mehr.

So lebten die beiden nebeneinander her. Die Kinder ließen sich selten bei ihren Eltern blicken, da ihr Vater oft einen Streit vom Zaun brach und sie sich darum nicht mehr willkommen in ihrem Elternhaus fühlten. Sina traf sich mit den beiden immer außer Haus.