Vom Geschenk der Dankbarkeit

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Vom Geschenk der Dankbarkeit
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Cornelius Bohl

Vom Geschenk der Dankbarkeit

Franziskanische Akzente

herausgegeben von Mirjam Schambeck sf und Helmut Schlegel ofm

Band 31

CORNELIUS BOHL

Vom Geschenk der Dankbarkeit


Herzlicher Dank geht an Eva Kasper für die sorgfältige Zuarbeit bei den Korrekturen und die Sponsorinnen dieses Bandes, die nicht genannt werden wollen.


Der Umwelt zuliebe verzichten wir bei unseren Büchern auf Folienverpackung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2021

© 2021 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: wunderlichundweigand.de

Umschlagfoto: Elisabeth Wöhrle sf

Satz: Crossmediabureau, Gerolzhofen

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

ISBN

978-3-429-05679-7

978-3-429-05179-2 (PDF)

978-3-429-06543-0 (ePub)

Inhalt

Geschenk der Dankbarkeit?

1.Dankbarkeit erfahren,

Beschenkt sein

Staunen

Zustimmen

2.Dankend glauben lernen

Das große Du

Vertrauen und Hingabe

Universale Verbundenheit

Zurückgeben

Kontemplation

3.Dankbarkeit leben

Großzügig teilen

Kultur des Genug

Genießen können

Engagement für Mensch und Schöpfung

4.In der Dankbarkeit wachsen

Sich erinnern

Achtsamkeit einüben

Beziehungsreich leben

5.Dankbarkeit feiern

Spiritualität der leeren Hände

Anmerkungen

Abkürzungsverzeichnis

Zum Weiterlesen

Geschenk der Dankbarkeit?

„Danke für diesen guten Morgen.“ In meiner Jugend haben wir aus Leibeskräften dieses Lied des evangelischen Kirchenmusikers Martin Gotthard Schneider geschmettert. Da wurde für alles Mögliche gedankt: für den Morgen und für die Abendstunde, für die guten Freunde und ein gutes Wort, für die Arbeitsstelle, für die Musik und für vieles andere mehr. Und dann hieß es auch: „Danke, ach Herr, ich will dir danken, dass ich danken kann.“ Beißt sich da nicht die Katze in den Schwanz: danken für die Dankbarkeit?

Diese etwas paradoxe Formulierung erinnert mich an einen Satz aus der Feier der Eucharistie, der großen Danksagung, der mich schon hat aufhorchen lassen, als ich ihn zum ersten Mal bewusst gehört habe: „Du bedarfst nicht unseres Lobes“, heißt es in einer Präfation, dem zentralen Dankgebet der Messe, „es ist ein Geschenk deiner Gnade, dass wir dir danken.“ Normalerweise danken wir, wenn wir ein Geschenk bekommen. Hier ist es umgekehrt: Gott danken zu können, das ist ein Geschenk! Platt gesagt: Gott hat nichts davon, wenn ich dankbar bin. Das bringt ihm nichts. Aber mir bringt es etwas. Ähnliches kann ich manchmal auch in meinen alltäglichen Beziehungen erfahren. Wenn ich einem anderen etwas Gutes tue, dann erwarte ich normalerweise ein Dankeschön. Aber oft ist dieses Zeichen der Dankbarkeit für den anderen wichtiger als für mich. Ich habe etwas für ihn getan, einfach weil ich ihn mag, nicht, damit er mir danke sagt. Ich mag ihn auch weiterhin, selbst wenn er das Danken vergessen sollte. Ihm tut es gut, danke zu sagen. Der Dank ist Ausdruck seiner Freude, er spürt in der Dankbarkeit, dass er nicht allein ist. Die Erfahrung von Dankbarkeit macht sein Leben leicht und beschwingt. Er wird dankbar dafür, dass er danken kann. Er erlebt seine Dankbarkeit als Geschenk.

Dankbarkeit ist ein Geschenk. Dankbarkeit macht froh. In der Dankbarkeit wird der Mensch schön (Dietrich von Hildebrand). Dankbarkeit macht jung (David Steindl- Rast). Dankbarkeit macht das Leben reich. Da hat Sören Kierkegaard schon Recht: „Wie arm, nicht bitten zu können; wie arm, nicht danken zu können; wie arm, alles gleichsam hinnehmen zu müssen in Unerkenntlichkeit.“1

Dieses Buch lädt ein, dem Geschenk der Dankbarkeit in fünf Schritten nachzuspüren. Am Anfang steht die grundlegende Frage: Was ist das überhaupt, Dankbarkeit? Wie erfahre ich sie? (1). Persönlich bin ich davon überzeugt, dass echte Dankbarkeit immer schon eine spirituelle und religiöse Erfahrung ist, auch wenn dies nicht bewusst wird und „Gott“ dabei nicht ausdrücklich vorkommt. Deshalb ist auch der christliche Glaube in seinen wesentlichen Vollzügen Ausdruck von Dankbarkeit (2). Die drei folgenden Überlegungen haben dann einen stärkeren Praxisbezug: Dankbarkeit hat konkrete Folgen im Alltag. Sie prägt die Gestaltung unseres persönlichen Lebens und unser gesellschaftliches und politisches Engagement (3). Wenn Dankbarkeit wirklich ein Geschenk ist, dann stellt sich die Frage, ob man diese Haltung einüben und wie man sie wachsen lassen kann (4). Und schließlich will Dankbarkeit nicht nur bedacht und eingeübt, sondern vor allem auch gefeiert werden (5). Im Hintergrund steht bei diesem Nachdenken immer die franziskanische Spiritualität. Für mich ist sie eine ebenso einfache wie ehrliche Einladung zur Dankbarkeit. Franz von Assisi ist ein froher Heiliger. Dabei war sein Leben keineswegs immer nur leicht und unbeschwert, im Gegenteil. Aber er hat sich mitten in allen dunklen und schweren Erfahrungen ein Gespür dafür bewahrt, wie reich beschenkt er ist. Er ist nicht dankbar, weil er immer nur froh ist, sondern er ist froh, weil er das Danken nicht verlernt hat. Er hat ein Leben lang das Geschenk der Dankbarkeit gehütet wie einen kostbaren Schatz.

1.Dankbarkeit erfahren

Kluge Frauen und Männer haben über die Dankbarkeit nachgedacht. Schriftstellerinnen und Poeten haben über sie geschrieben. Fromme haben ihre Dankbarkeit in Gebeten und Ritualen zum Ausdruck gebracht. Was aber ist das denn eigentlich, Dankbarkeit? Wie und wann erfahre ich sie? Oder besser gefragt: Was erfahre ich, wenn ich mich dankbar erfahre?

Beschenkt sein

„Ich kann das allein!“ Das ist ein wichtiger und notwendiger Satz im Leben eines Menschen. Was für ein grandioser Moment, wenn sich das kleine Kind erstmals am Stuhlbein vom Boden hochzieht, noch etwas wacklig auf eigenen Füßen steht und dann selbständig den ersten Schritt tut! Jugendliche müssen sich irgendwann von den Eltern abnabeln, selbst Entscheidungen treffen, den eigenen Weg finden. Wer im Leben seine Frau oder seinen Mann stehen will, muss eigenverantwortlich handeln und selbständig arbeiten können. Und wer möchte nicht im Alter möglichst lange selbstbestimmt leben, ohne auf fremde Hilfe angewiesen zu sein? Wie gut also, wenn jemand sagen kann: „Ich schaffe das allein!“

„Ich schaffe das allein!“ So wichtig dieser Satz auch ist, er ist nur die Hälfte der Wahrheit. Denn wir brauchen einander. Niemand ist autonom. Niemand genügt sich selbst. Am Beginn seines Lebens ist jeder Mensch viele Jahre auf die Sorge seiner Eltern angewiesen. Kein kleines Kind könnte allein überleben. Nur in der Beziehung zu anderen lerne ich sprechen und denken. Wie wichtig ist es, in einer Krise eine verlässliche Freundin, einen Partner, die Familie an seiner Seite zu wissen. Gemeinsam geht nicht nur vieles leichter. Vieles geht überhaupt nur gemeinsam! Es ist traurig, wenn jemand sagen muss: „Ich habe niemanden! Ich bin ganz allein!“

 

Wir brauchen einander. Schon, dass ich da bin, ist nicht meine Entscheidung. Ich verdanke mein Leben anderen Menschen. Sosehr ich an mir arbeiten und meine Fähigkeiten trainieren kann, letztlich wurden mir meine Talente „in die Wiege gelegt“. Darauf weist unser schönes deutsches Wort „Begabung“ hin: Ich habe eine Gabe erhalten, jemand hat mir etwas gegeben. Vieles, was mir wichtig ist, kann ich nicht „machen“: Vertrauen, Freundschaft, Liebe, Treue oder Versöhnung werden mir nur in Beziehungen geschenkt. Ich bin auch nicht einfach ich, ein für allemal fertig. Ich bin das, was zwischen mir und anderen geschieht. Meine Identität vollzieht sich in Beziehungen.

Natürlich bleibt die andere Seite meiner Erfahrung, gerade in unserer Leistungsgesellschaft: Ich muss mich anstrengen, hart arbeiten und mir im Beruf und auch in meinen Beziehungen vieles mühsam verdienen. „Ohne Fleiß kein Preis“, sagen wir. „Was nichts kostet, taugt nichts“, davon sind viele Menschen fest überzeugt. Dabei geht es nicht nur um Geld. Wer es zu etwas bringen will, muss Zeit, Kraft und Ausdauer investieren. Die in Wissenschaft und Technik gewonnene Überzeugung, dass (fast) alles machbar ist, hat sich inzwischen tief in unserer Seele festgesetzt. Aber ist denn die Treue der Partnerin oder des Partners, der Zusammenhalt in der Familie, eine Freundschaft wirklich mein Verdienst? Habe ich ein Anrecht auf Zuwendung, auf tragende Fundamente, auf ein Grundvertrauen ins Leben? Ich investiere auch in meine Gottesbeziehung und pflege meinen Glauben – aber wenn ich immer noch glauben darf, ist das nicht meine Leistung, sondern Geschenk. Wer beschenkt wird, fragt schon einmal: „Womit habe ich das verdient?“ Wenn es wirklich ein Geschenk war, ist die Antwort einfach: Durch nichts! Du hast das überhaupt nicht verdient! Das ist dir geschenkt. „Was hast du, das du nicht empfangen hättest?“, fragt Paulus. „Wenn du es aber empfangen hast, warum rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?“ (1 Kor 4,7). Dietrich Bonhoeffer schreibt 1943 aus dem Gefängnis Berlin- Tegel an seine Eltern:

„Es ist ein merkwürdiges Gefühl, schlechthin in allem auf die Hilfe der anderen angewiesen zu sein. Aber jedenfalls lernt man in solchen Zeiten dankbar zu werden und wird das hoffentlich nicht wieder vergessen. Im normalen Leben wird es einem oft gar nicht bewusst, dass der Mensch überhaupt unendlich mehr empfängt, als er gibt, und dass Dankbarkeit das Leben erst reich macht. Man überschätzt wohl leicht das eigene Wirken und Tun in seiner Wichtigkeit gegenüber dem, was man nur durch andere geworden ist.“2

Es gibt Momente, in denen ich spontan eine tiefe Dankbarkeit empfinde. Dennoch ist Dankbarkeit mehr als nur ein aktuelles Gefühl. Dankbarkeit ist eine Grundhaltung und vielleicht sogar eine Grundentscheidung. Das wird auch daran sichtbar, dass Dankbarkeit nicht unmittelbar an ein äußeres Wohlergehen gebunden ist. Es gibt dankbare Kranke ebenso wie ewig unzufriedene Nörgler, die alles haben. Aus welcher Grundhaltung heraus lebe ich? Bin ich der Macher-Typ, der alles allein schaffen möchte? Dann ist das, was gelingt, meine eigene Leistung und ein Erfolg, auf den ich stolz sein darf. Oder ist mir bewusst, dass ich beschenkt bin und in Beziehungen empfange, was ich mir selbst nie geben könnte? Dann sind Freude und Erfüllung immer neu eine Überraschung, die tief dankbar macht. Der selbstzufriedene Macher-Typ besitzt und verteidigt verbissen, was er in den Händen hat und nicht loslassen will. Dankbar Beschenkte empfangen staunend mit offenen Händen, die sie anderen entgegenstrecken. Für das, was mir zusteht, muss ich nicht danken. Das kann ich einfordern. Dankbar macht das unerwartete Geschenk.

Man sollte denken, jeder Mensch wäre froh, wenn er beschenkt wird. Aber es gibt Menschen, die wollen und können sich nicht beschenken lassen: „Womit kann ich das denn wieder gutmachen?“, fragen sie dann. Wir sprechen selbstverständlich davon, dass jemand einem anderen „Dank schuldet“. Die Formulierung ist eigentlich unsinnig. Eine Schuld kann nur entstehen, wo eine Leistung vergütet werden muss. Wirkliche Geschenke sind Ausdruck von Wohlwollen, ohne egoistische Hintergedanken und auch ohne Recht auf Dankbarkeit. Es ist nicht leicht, ein Geschenk einfach nur dankbar anzunehmen, ohne sich gleich mit einem möglichst größeren Gegengeschenk revanchieren zu wollen. Es ist nicht einfach, nur zu empfangen und nicht sofort auch wieder zu geben. Wer gibt, ist in der stärkeren Position. Eine angebliche Verpflichtung zur Dankbarkeit kann missbraucht werden, um Menschen lebenslang zu binden und kleinzuhalten. Der Vorwurf, undankbar zu sein, kann ein Leben zerstören. Wer empfängt, ist abhängig von dem, der gibt. Wer will schon abhängig sein?

Es gibt aber auch so etwas wie eine dankerfüllte Abhängigkeit, ein Verwiesensein aufeinander, das die eigene Hilfsbedürftigkeit anerkennt und doch die Schenkenden wie die Beschenkten frei lässt. Es erfordert Demut, ein Geschenk anzunehmen. „Dankbarkeit ist demütig genug, sich etwas schenken zu lassen“, schreibt Dietrich Bonhoeffer. „Der Stolze nimmt nur, was ihm zukommt. Er weigert sich, ein Geschenk zu empfangen. Lieber will er verdiente Strafe als unverdiente Güte, lieber aus eigener Kraft zugrunde gehen als aus Gnade leben. Er weist Gottes Liebe, die über das Gute und Böse die Sonne scheinen lässt, zurück. Der Dankbare weiß, dass ihm von Rechts wegen nichts Gutes zukommt, er lässt aber die Freundlichkeit Gottes über sich walten und wird durch unverdiente Güte noch tiefer gedemütigt.“3 Dass Dankbarkeit und Demut eng zusammenhängen, wusste auch schon Franz von Assisi: „Lobt und preist meinen Herrn“, heißt es am Ende seines Sonnengesangs, „und dankt ihm und dient ihm mit großer Demut“ (Sonn 10, FQ 41).

Staunen

Das Staunen gilt als Anfang der Philosophie. Immer wieder haben Menschen staunend gefragt: „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“ Es ist nicht selbstverständlich, dass es die Welt gibt. Es ist nicht selbstverständlich, dass ich lebe. Es ist nicht selbstverständlich, dass Menschen mich mögen und ihre Nähe mich mit tiefer Freude erfüllt. Wie wenig selbstverständlich etwas ist, merken wir oft erst dann, wenn es plötzlich fehlt. Dann vermisse ich auf einmal einen Menschen, eine Aufgabe, die Gesundheit, ein Grundvertrauen in das Leben, vieles, was ich bisher nicht wertgeschätzt und übersehen hatte, weil es immer da war. Wer nicht alles einfach als normal ansieht und sich wenigstens ab und zu verwundert die Augen reibt, weil ihm etwas Schönes und Unerwartetes begegnet, entdeckt eine völlig neue Welt voller Wunder und Überraschungen. Wer staunen kann, sieht mehr und tiefer.

Das Staunen öffnet den Menschen. Es spannt ihn aus, über sich hinaus nach mehr. Und es hält ihn offen. Auch wenn der Mensch ein Gewohnheitstier ist und vieles, was ihm bei der ersten Begegnung interessant und aufregend erscheint, bald seinen Reiz verliert, so nutzt sich echtes Staunen doch nicht ab. In der Beziehung zu einem geliebten Menschen kann ich immer neu Überraschendes entdecken. Bei dem, was mich wirklich freut, empfinde ich nie Überdruss. An dem, was schön ist, kann ich mich nicht sattsehen. Schönheit macht dankbar. Darum ist das Staunen auch der Anfang der Kunst.

Das Staunen ist auch der Anfang des Glaubens. Die Evangelien berichten immer wieder, wie Menschen, die Jesus begegnen, ins Staunen kommen. Dies beginnt schon bei seiner Geburt. Als die Hirten in Betlehem das Kind finden, das die Engel als Retter verkündet haben, berichten sie, was sie von ihm gehört haben. „Und alle, die es hörten, staunten über das, was ihnen von den Hirten erzählt wurde“ (Lk 2,18). Wenig später erleben sein Vater und seine Mutter im Jerusalemer Tempel, wie der alte Simeon Jesus als Heil aller Völker preist: „Sie staunten über die Worte, die über Jesus gesagt wurden“ (Lk 2,33). Jahrzehnte später, drei Tage nach seinem Tod, erscheint Jesus am Abend des ersten Tages der Woche plötzlich mitten unter den Jüngern in Jerusalem. Sie aber können es vor Freude nicht glauben, sie „verwundern sich“ und staunen (vgl. Lk 24,41).

Warum bringt Jesus Menschen zum Staunen? In der Begegnung mit ihm erfahren sie einen Mehrwert, der das Übliche und Gewohnte übersteigt, einen Überschuss, der sich nicht so ohne weiteres in das alltägliche Erleben einordnen lässt. Zum Staunen bringen einmal die Worte Jesu. Er redet anders als andere. „Alle, die ihn hörten, waren erstaunt über sein Verständnis und über seine Antworten“, heißt es schon über den Zwölfjährigen im Kreis der professionellen Lehrer im Tempel (Lk 2,47). Seine Rede in der Synagoge von Nazaret fand bei allen Beifall, „sie staunten über die Worte der Gnade, die aus seinem Mund hervorgingen“ (Lk 4,22). Was er sagt, ist nicht vorhersehbar, nicht ableitbar und aufregend neu: „Die vielen Menschen, die ihm zuhörten, gerieten außer sich vor Staunen und sagten: Woher hat er das alles?“ (Mk 6,2)

Erstaunlich ist nicht nur das, was Jesus sagt, sondern vor allem auch das, was er tut. Sein Tun zeigt die Kraft seiner Rede. Auf sein Wort hin verlässt eine ganze Schar von Dämonen den Kranken bei den Grabhöhlen von Gerasa und fährt in eine Schweineherde. Der Mann „verkündete in der ganzen Dekapolis, was Jesus für ihn getan hatte, und alle staunten“ (Mk 5,20). Da verbinden sich Staunen und Erschrecken: Die Menschen bitten Jesus, ihr Gebiet zu verlassen. Sie sind nicht nur verblüfft oder verwundert, sondern plötzlich herausgerissen aus dem Gewohnten und darum bis ins Innerste verunsichert. Mit einem einzigen Wort hatte Jesus den Seesturm gebannt: „Die Menschen aber staunten und sagten: Was für einer ist dieser, dass ihm sogar die Winde und der See gehorchen?“ (Mt 8,27). Auch sie sind „voll Schrecken und Staunen“, wie es bei einem anderen Evangelisten heißt (Lk 8,25).

Es ist gut nachvollziehbar, dass Menschen bei solch dramatischen Ereignissen voll Schrecken und Staunen die Luft anhalten. Es gibt aber noch ein anderes Staunen im Evangelium. Es ist leiser, aber vielleicht sogar noch tiefer. Menschen staunen, wenn sie erleben, wie Jesus Gutes tut. Wie er Mitleid hat mit den Kranken, sie heilt, ihnen wieder Beziehungen ermöglicht und neue Lebensmöglichkeiten erschließt. Einfach gut sein, Nähe zeigen, Zuwendung schenken, ohne Hintergedanken und Berechnung, auch das sprengt das Bekannte und Gewohnte, es ist anders und mehr als das, was sonst normal ist. Darum bringt es zum Staunen. Da schenkt Jesus einem Stummen die Sprache wieder: „Alle Leute staunten und sagten: So etwas ist in Israel noch nie gesehen worden“ (Mt 9,33). Einem anderen öffnet er nicht nur den Mund, sondern auch die Ohren: „Sie staunten über alle Maßen und sagten: Er hat alles gut gemacht“ (Mk 7,37). Er heilt einen besessenen Jungen: „Alle waren außer sich vor Staunen über die Größe Gottes“ (Lk 9,43). Der Evangelist Matthäus fasst das so zusammen: „Die Menschen staunten, als sie sahen, dass Stumme redeten, Krüppel gesund wurden, Lahme gehen und Blinde sehen konnten. Und sie priesen den Gott Israels“ (Mt 15,31).

Das Staunen geht über in den Lobpreis. Es wird zum Dank. Dankbarkeit beginnt damit, dass jemand staunen kann. Dankbar sein heißt noch staunen können. Staunend strahlende Kinderaugen sind sprichwörtlich. Verliere ich sie notgedrungen im Älterwerden? Wer sich die Fähigkeit zum Staunen bewahrt hat, entdeckt in dem, was anderen normal erscheint, verwundert einen unerwarteten Mehrwert, der ihn überrascht innehalten lässt und froh macht. „Ich bin oft beschenkt worden, wo ich es nie vermutet hätte.“ Diesen Satz habe ich oft gehört. Kann ich staunen über die ersten Knospen im Frühling? Kann ich ins Staunen kommen in einer schönen Landschaft oder in einem Konzert? Bin ich manchmal erstaunt über die klare Einsicht eines anderen Menschen? Habe ich mir das Staunen bewahrt, wenn ich sehe, wie ein Säugling heranwächst, das kleine Kind die ersten Schritte tut, nach und nach zu sprechen beginnt? Kann ich staunen über einen Menschen, der mich mag?

Das ist eine Grundfrage für mich: Wie sehe ich die Welt? Gelangweilt? Müde und stumpf? Vielleicht mit einer Art überheblicher Verachtung oder sogar mit Überdruss und Ekel? Will ich alles erklären und verstehen? Oder sehe ich mich staunend um, mit offenen Augen, oft überrascht und verwundert über das, was ich wahrnehme und was mir widerfährt? Die Antwort auf diese Frage hängt weniger ab von dem, was mich umgibt, als vielmehr von mir selbst. Es ist ja nicht so, dass nur die, die Wunder erleben, dann staunen. Eher umgekehrt: Wer noch staunt und sich wundern kann, der erlebt auch Wunder.

 

Wer sich offene Augen und ein offenes Herz bewahrt hat, entdeckt Vielerlei, was ihn staunen lässt. Zwei Formen des Staunens aber gehen über diese alltäglichen Erfahrungen hinaus. In ihnen erhebt sich der Mensch über sich selbst zu einer existentiellen Dankbarkeit, die mehr ist als ein gewisses Entzücken über so vieles, was mein Leben bereichert. Das eine ist das Staunen darüber, dass es mich gibt. Ich könnte ja auch nicht da sein! Unsere Sprache lässt hier tief blicken: „Es gibt mich“ heißt: Ich bin mir gegeben. Dabei erscheine ich selbst nicht als handelndes Subjekt. „Ich bin, der ich bin“, kann allein Gott sagen (Ex 3,14). Normalerweise nehmen wir unsere Existenz wahrscheinlich als etwas völlig Selbstverständliches wahr. Staunend und voll tiefer Dankbarkeit aber erfahren Menschen, die eine lebensbedrohliche Krankheit oder einen schweren Unfall überstanden haben, dass ihnen das Leben „neu geschenkt“ wurde. Es gibt diese tiefe Dankbarkeit einfach für das bloße Dasein. Klara von Assisi stirbt mit einem Dank auf den Lippen: „Du, Herr, sei gepriesen, der du mich erschaffen hast“ (LebKl 46, KQ 334). Fast 30 Jahre lang, etwa die Hälfte ihres Lebens, war sie von schwerer Krankheit gezeichnet und musste immer wieder das Bett hüten. Dennoch ist ihr letztes Wort ein Dankeschön für das Dasein. Wie sich staunende Dankbarkeit für das Dasein auch mitten in ungelösten Fragen und quälenden Unsicherheiten entfalten kann, zeigt auch ein seit dem Mittelalter geläufiger Spruch, dessen Herkunft unbekannt und der in verschiedenen Varianten überliefert ist: „Ich lebe und weiß nicht wie lang. Ich sterbe und weiß nicht wann. Ich gehe und weiß nicht wohin. Mich wundert, dass ich so fröhlich bin.“

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