Unbequem und ungewöhnlich

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Clemens Engling Unbequem und ungewöhnlich Anna Katharina Emmerick – historisch und theologisch neu entdeckt

Clemens Engling

Unbequem
und ungewöhnlich

Anna Katharina Emmerick – historisch und theologisch neu entdeckt


Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

© 2005 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter-verlag.de Umschlag: Roberto Meraner (Abbildung: Thomas Jessen) Druck und Bindung: Druckerei Lokay e. K., Reinheim ISBN 978-3-4290-2674-5 (Print) ISBN 978-3-429-04524-1 (PDF) ISBN 978-3-429-06035-0 (Epub)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

1. Die Neuentdeckung Anna Katharina Emmericks

2. Die Quellenlage

3. Der verspätete Prozessbeginn in Münster

4. Der römische Prozess

5. Zum Stand der Verehrung

6. Der Stand der Forschung

7. Ausblick

Erster Hauptteil: Ihr Leben im historischen Kontext

1. Kriterien der Erforschung

2. Geburt und Kindheit. Die Eltern. Das soziale und religiöse Umfeld

3. Anna Katharinas weitere Kinder- und Jugendjahre. Ihre religiös-sittliche Entwicklung

4. Emmericks Ausbildungszeit als Magd auf dem Bauernhof und als Schneiderlehrling. – Ihr Klosterwunsch

5. Die zwanziger Jahre der Emmerick bis zum Klostereintritt

6. Emmericks Klosterjahre (1802–1812)

Exkurs: Zur historischen und kirchengeschichtlichen Situation der Jahre 1802–1824

7. Stigmatisation und Nahrungslosigkeit (1812–1819)

Exkurs: Das Tagebuch des Dr. Wesener

8. Lebensumstände und Phänomene der Jahre 1813–1819 im Leben der Emmerick

a) Andrang von Besuchern

b) Todesschwäche

c) Stärkung durch die hl. Kommunion, die Beichte und geistliche Begleitung

d) Begegnung mit »Himmel und Hölle«

Exkurs: Emmerick und die Zeitumstände

9. Die ständigen Kontaktpersonen der Emmerick

a) Personen ihrer nächsten Umgebung: Jean Martin Lambert (1753–1821)

Alois Josef Limberg (1782–1852)

Gertrud Emmerick (geb. etwa 1778)

b) Ständige Besuchskontakte: Clemens Brentano (1778–1842)

Bernhard Overberg (1754–1826)

Bernhard Rensing (1760–1826)

10. Besondere Kontakte: Luise Hensel (1798–1876)

Johann Michael Sailer (1751–1832)

Melchior von Diepenbrock (1798–1853)

11. Die staatliche Untersuchung (7.–29. August 1819)

12. Die letzten Lebensjahre (1819–1824)

Zweiter Hauptteil: Perspektiven einer theologischen und geistlichen Existenz

I. Die Mystikerin

1. Anna Katharina Emmerick – die exemplarische Christin

a) Gottesbild, Gebet und Askese

b) Beziehung zu den Sakramenten

c) Selbstverwirklichung und Gewissen

d) Die Tugenden

e) Der Bezug zur Kirche

f) Glaubensvollzüge und traditionelle Muster

2. Anna Katharina Emmerick – die außergewöhnliche Frau

a) Visionen

Exkurs: Zur Einschätzung der Visionsgabe A. K. Emmericks

Exkurs: Die Visionen Anna Katharina Emmericks und die Dichtung Clemens Brentanos

b) Anfälle von Ohnmacht und Ekstasen

c) Nahrungslosigkeit

d) Weitere Phänomene der Mystikerin

(1) Kardiognosie (Herzensschau)

(2) Erkenntnis von Reliquien und geweihten Gegenständen (Hierognosis)

(3) Trockenheit des Geistes, Bitterkeit und »Süßigkeit« des Gemütes

(4) Die Gabe der Tränen

II. Die Leidende

1. Ihre Einstellung zum Leiden

2. Ihre Haltung zu den Wundmalen

3. Ihre Leidensmystik

III. Die Liebende

1. Praktische Nächstenliebe

2. Solidarität und Stellvertretung

3. Trostkompetenz

Dritter Hauptteil: Anna Katharina Emmerick – Ihre Bedeutung für die Gegenwart

I. Ihr Zeugnis von Gott

1. Das Zeugnis vor den Ungläubigen

2. Die mystische Dimension im Leben der Christen

a) Der Vorrang des Gebetes

b) Die Verinnerlichung der Liturgie

3. Prophetische Kritik in der Kirche

II. Ihre Sprache in Bildern

III. Ihre Sinndeutung des Leidens

Schluss: Die Ausstrahlung Anna Katharina Emmericks – Zeugnisse

Aus der Geschichte

Aus der Gegenwart oder der nahen Vergangenheit

 

Personenverzeichnis

Quellen- und Literaturverzeichnis

Vorwort

»Die selige Anna Katharina Emmerick hat ›das bittere Leiden unseres Herrn Jesus Christus‹ geschaut und an ihrem Leib erfahren. … So hat ihr Beispiel die Herzen armer und reicher, einfacher und gebildeter Menschen für die liebende Ganzhingabe an Jesus Christus erschlossen.«

(Papst Johannes Paul II.)

Durch die Seligsprechung am 3. Oktober 2004 ist Anna Katharina Emmerick uns als Vorbild und Fürsprecherin durch einen offiziellen Akt der Kirche vor Augen gestellt. Seit meinem Amtsantritt als Pfarrer der Hl.-Kreuz-Pfarre, die das Grab der Mystikerin birgt, am 27. April 1980, und vor allem seit meiner Emeritierung am 1. Juli 2001 bemühe ich mich, durch Studium der ursprünglichen Quellen Anna Katharina neu zu entdecken, von den Übermalungen zu befreien und die große und absolut reine Gestalt unserer Frömmigkeitsgeschichte so darzustellen, dass sie auch kritischen Nachfragen standhält, ja möglicherweise auch dem religiösen Suchen unserer Tage entgegen kommt.

Auf diesem Wege haben mich viele Menschen fachkundig und freundschaftlich begleitet, denen ich herzlich danken möchte. Vom Jahre 1993 bis zur Seligsprechung war ich zugleich Vizepostular und konnte in die römische Prozessführung Einblick nehmen. In dieser Zeit bin ich besonders den Offizialen unserer Diözese, dem jetzigen Bischof von Aachen, Dr. Heinz Mussinghoff, und Domkapitular Martin Hülskamp zu echtem Dank verpflichtet, wie auch den Postularen in Rom, zunächst dem Augustinerpater Professor Dr. Fernando Rojo, in den letzten Jahren Herrn Anwalt Andrea Ambrosi. Die Arbeit der eben Genannten wurde immer von der kenntnisreichen und fürsorglichen Haltung unseres Bischofs, Dr. Reinhard Lettmann, begleitet.

Fast 25 Jahre war ich eingebunden in Emmerickbund und Bischöflicher Emmerick-Kommission. Ich bin allen Mitgliedern für anregende Gespräche und kooperative Arbeit sehr dankbar. Beim Entstehen der Arbeit war mir die unmittelbare Begleitung durch die Freunde sehr hilfreich: Mein Neffe Sebastian Engling begleitete die Textfassung. Die Erstfassung der Texte lasen und besprachen mit mir: Dr. Heinz Gerwers, Monika Hantzko und Pfarrer Peter Nienhaus. Die befreundeten Professoren Elmar Klinger und Eberhard Rolinck sahen die Texte auch kritisch durch und gaben mir wertvolle Ratschläge.

Die Zusammenarbeit mit dem Echter Verlag und seinem theologischen Lektor, Herrn Heribert Handwerk, gestaltete sich sehr kooperativ.

Olfen, am Rosenkranzfest, dem 7. Oktober 2004

Dr. Clemens Engling

Einleitung

1. Die Neuentdeckung Anna Katharina Emmericks

Mit der Wiederaufnahme des Seligsprechungsprozesses begann in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine neue Phase, den »unerklärlichen Diamanten – das Genie Katharina Emmericks – in seiner ganzen Reinheit« zu entdecken.1 – Dazu möchte diese Arbeit einen Beitrag leisten. In einem »Kurzporträt – Anna Katharina Emmerick – die Mystikerin des Münsterlandes« konnte ich zu Beginn des römischen Symposions 1999 feststellen: »Anna Katharina Emmerick wird in unserer Zeit als Mystikerin des Münsterlandes an Bedeutung gewinnen, da äußere Strukturen von Religiosität immer mehr brechen, doch innere religiöse Erfahrungen stärker als früher gesucht werden. Sie hat zu ihrer Zeit dem Abgleiten religiöser Geheimnisse in aufklärerischen Rationalismus gewehrt; ihre damals durchlebte und durchlittene religiöse Erfahrung steht uns heute wie ein modernes Beispiel vor Augen.«2

Die Phase der Neuentdeckung Anna Katharina Emmericks ist aber noch keineswegs abgeschlossen.3 Aller Voraussicht nach wird sie nach der Seligsprechung am 3. Oktober 2004 sogar verstärkt weiter gehen. Zunächst musste die Mystikerin »von einer veralteten Betrachtungsweise des 19. Jahrhunderts« befreit werden, in der sie einem modernen Betrachter wie eine »Kitschfigur« erscheinen musste.4 Auch noch in der Zeit, als ich Pfarrer in Dülmen war (1980–2001), war es nötig, Anna Katharina »aus der Vereinnahmung durch traditionalistische Frömmigkeitsformen« herauszulösen.5

Als besonders schwierig erweist sich der Versuch, die »Persönlichkeit Anna Katharina Emmericks … aus dem Bannkreis Clemens Brentanos« und seiner Übermalung zu lösen.6 Das ist, wie die jüngste Diskussion um den Film Mel Gibson »Die Passion Christi« gezeigt hat7, vor allem deshalb nicht einfach, weil wir hier »vor einem schwierigen Dilemma, ja vor einer echten Aporie« stehen, wie Pater Joseph Adam in seinem Bericht »Zum Stand des Seligsprechungsverfahrens in Rom« zu Beginn des zweiten Symposions in Münster feststellt: »Es gibt seit 150 Jahren unzählige Zeugnisse, z. B. im Renouveau Catholique in Frankreich, etwa bei Paul Claudel, über den durchaus positiven, ja segensreichen Einfluss dieser Schriften. Aus diesen Büchern, ob ihre Leser sie nun Emmerick- oder Brentanobücher nennen, spricht nun einmal eine tiefe Frömmigkeit und ein sicherer kirchlicher Sinn. Und wenn man die zahlreichen Emmerick-Verehrer in aller Welt hört, sei es in Paris oder in Brüssel, in den USA oder in Kanada, dann stellt man fest, dass sich ihre Verehrung aus diesen Schriften nährt und immer wieder erneuert.« Doch dann wendet sich Adam der neuen Richtung zu: »Die Forschungsergebnisse der letzten Zeit haben schon dazu beigetragen, und neue Studien müssen sich dies als erstes Ziel setzen, die Akzente hier richtig zu verteilen: weniger auf die außergewöhnlichen Phänomene und Offenbarungen, dafür voll auf die Heiligkeit ihres Lebens, ihre mystische Begnadung und ihre prophetische Sendung in der Kirche.«8

Es geht nicht darum, die Brentano-Schriften nicht entsprechend zu würdigen, »sein dichterisches Zeugnis, den ›Schatz flüchtiger Blätter voll Wunder der kindlichsten Weisheit‹« zu »übergehen«; oder die »Existenzwahrheit des Dichters« zu unterdrücken9; ganz im Gegenteil: die Emmerick-Schriften Brentanos müssten in Zukunft noch mehr gewürdigt werden in eigenen theologischen und nicht nur germanistischen Untersuchungen.10 Bei dem Versuch, Anna Katharina aus dem »Bannkreis« Clemens Brentanos zu lösen, geht es vielmehr darum, dass wir die Dülmener Mystikerin »als Person ernst nehmen« und sie »als eine historisch greifbare Gestalt« zeichnen.11 Das ist das Anliegen dieser Arbeit, im ersten Teil des Hauptteiles, Emmericks Leben in einer Art »Kurzbiographie« im historischen Kontext zu würdigen; in einem zweiten Teil »Perspektiven einer theologischen und geistlichen Existenz« aufzuzeigen, in einem dritten »ihre Bedeutung für die Gegenwart« kurz zu skizzieren. Denn es hat sich inzwischen gezeigt, dass die historischen Quellen auch unabhängig von Brentano sehr reichhaltig fließen.12

2. Die Quellenlage

Nachdem der Seligsprechungsprozess in Rom wegen der sog. Schriftenfrage im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts zu scheitern drohte13, »schlug die Stunde von dem Augustinerpater Winfried Hümpfner«14, der 1923 »Clemens Brentanos Glaubwürdigkeit in seinen Emmerick-Aufzeichnungen«15 sehr negativ beurteilte und sehr bald zuverlässige Quellen zugänglich machte: 1. Das Tagebuch des Dr. med. Franz Wilhelm Wesener über die Augustinerin Anna Katharina Emmerick unter Beifügung anderer auf sie bezüglicher Briefe und Akten, hrsg. von P. Winfried Hümpfner.16 – Das »Tagebuch« enthält auch den »Bericht über die staatliche Untersuchung« und die »Kurzgedrängte Geschichte der A. K. Emmerick«, beide von Dr. Wesener verfasst.

2. Die Akten der kirchlichen Untersuchung über die stigmatisierte Augustinerin Anna Katharina Emmerick nebst zeitgenössischen Stimmen, hrsg. von P. Winfried Hümpfner.17 – In den »Akten« findet sich ein authentisches Tagebuch über Anna Katharina Emmerick, verfasst von ihrem Ortspfarrer Dechant Bernhard Rensing, sehr wertvolle Aufzeichnungen des Regens Bernhard Overberg18, Berichte und Briefe der Freundinnen der Anna Katharina: Clara Söntgen, Luise Hensel und Apolonia Diepenbrock; eine weitere Fülle von Zeugenberichten und Vernehmungen etc.

Es besteht ein Nachteil: Die oft eingestreuten, ganz authentischen Aussagen und Worte der Emmerick und die der Zeugen und deren Beobachtungen sind gerade in den »Akten« in einer zunächst ungeordnet erscheinenden Fülle vorhanden, sodass das Material »sperrig« wirken kann. Da die beiden Hauptquellenwerke nur in historischen, oft schwer zugänglichen Ausgaben vorhanden sind, habe ich mich in dieser Untersuchung bemüht, Anna Katharina in vielen Zitaten neu zum Sprechen zu bringen. Bewusst wurde hier und bei anderen Quellen die Schreibweise des 19. Jahrhunderts, die den heutigen Rechtschreibregeln zum Teil nicht mehr entspricht, weitgehend beibehalten.19

Nachdem die Quellenlage schon in der ersten Jahrhunderthälfte von Pater Hümpfner so kritisch bestimmt und erst positiv durch die Herausgabe der vorhin zitierten Textsammlungen offen gelegt war, gab ebenfalls ein Augustinerpater, nämlich Hermann Josef Seller, 1940 eine umfassende Biographie heraus: »Im Banne des Kreuzes. Lebensbild der stigmatisierten Augustinerin A. K. Emmerick«.20 Der Verfasser sagt im Vorwort: »Die Gestalt der Dülmener Seherin büßt nichts ein an Frische und Lebendigkeit, an edler Größe, wenn wir die biographischen Notizen Kl. Brentanos nur mit Vorsicht benutzen.«21

Nach den schriftlichen Quellen ist noch von einem über die Jahre hin dünnen Rinnsal mündlicher Tradition zu berichten, aus der uns Pfarrer Heinrich Schleiner, der von 1945–1950 Kaplan an der Grabeskirche der Anna Katharina war, so erzählt: In Dülmen habe nach vielen Gebetserhörungen der niederdeutsche Satz: »Goh men nao Juffer Emmerick, de helpt di!« (Geh nur zur Jungfer Emmerick; sie hilft dir!) gegolten.22 – Auf dem Friedhof habe sich bald von den vielen Hilfe- und Trostsuchenden ein Trampelpfad zum Emmerickgrab gebildet. In der typischen westfälischen Verkleinerungsform nannte man Anna Katharina gern »Anntrinken« und näherte sich so ihr an. Der Dülmener Emmerickverehrer Heinz Schleuter bezeugte auf dem ersten Symposion: »Unsere Eltern und Großeltern in Dülmen, wie ich das in Erinnerung habe, haben Anna Katharina Emmerick im wesentlichen als die leidende Frau gesehen. Die Visionen haben eigentlich bei uns die Rolle gar nicht gespielt. Sie galt aber als diejenige, die die Macht hat zu helfen, an die man sich wenden konnte.«23

Aus den zuverlässigen historischen Quellen24 entsteht ein neues, sehr integres Emmerickbild von erstaunlicher Reinheit und Kraft innerer Überzeugung, von einer Ausstrahlung, die viele Augenzeugen und Besucher damals oft zu schier überschwänglichen Urteilen hingerissen hat, was ganz am Schluss dieser Untersuchung in einer Zusammenstellung wiedergegeben wird.

3. Der verspätete Prozessbeginn in Münster

Anna Katharina Emmerick, geboren am 8. September 1774 in Flamschen bei Coesfeld, starb am 9. Februar 1824 in Dülmen an einem Montagabend. »Am Freitag um 9 Uhr morgens wurde sie begraben. Es war eine so zahlreiche Beteiligung dabei, wie man sich nicht erinnert, sie in Dülmen gesehen zu haben. Alle Priester, Bürger, alle Schulkinder und Arme zogen mit.«25 Nur einer fehlte: Dechant Rensing, der Ortspfarrer, der inzwischen mit Anna Katharina zerfallen war. Brentano berichtet: »Bei ihrer Beerdigung, wo alles gerührt war, soll er ganz heiter mit anderen vor der Türe geschwätzt haben, und nachmals in einem Hause gesagt, sie hat wie ein Mensch gelebt und ist wie ein Mensch gestorben.« Brentano fügt hinzu: »Er wurde durch nichts aus seiner eigentümlichen Nüchternheit gebracht.«26 Brentano stand wohl zu Recht sehr kritisch zu Dechant Rensing, worauf später einzugehen ist. Wir stellen hier nur die Frage: Was bedeutete die skeptische Haltung des Ortspfarrers für die damaligen Pfarrangehörigen, vielleicht gerade für die wie der Dechant einer aufklärerischen Haltung Zugeneigten? – Für die Beantwortung der Frage liegen uns keine historischen Anhaltspunkte vor. Pater Thomas Wegener, der Begründer, besser Koordinator, der Emmerickverehrung in Dülmen, verschweigt die Haltung des Ortspfarrers und berichtet auf den letzten fünfzig Seiten seiner sehr volkstümlichen, allerdings auch wunderbezogenen Emmerick-Biographie aber umso eindrucksvoller von der beginnenden Emmerickverehrung in Dülmen und der Macht der Fürbitte Anna Katharinas: »Trotz des unkirchlichen Geistes der größten Zahl der sogenannten Gebildeten und Gelehrten, die sich um eine Person, wie die Gottselige war, sowohl damals als auch jetzt gar nicht kümmern und ihren Namen einfach totschwiegen, und obwohl viele dem Glaubensleben entfremdet waren, empfing Anna Katharina doch in Dülmen bei allen Klassen der Bevölkerung und in vielen Familien des Münsterlandes vor und nach ihrem Tod besondere Verehrung. Die allgemeine Volksstimme nannte sie eine Heilige, und sie, die man schon zu ihren Lebzeiten so viel um Hilfe angefleht hatte, wurde auch von Anfang an am Grab besucht, um ihre himmlische Fürbitte zu erlangen.«27

 

Das, was P. Wegener vom «unkirchlichen Geist« der Gebildeten nach der Aufklärung und Säkularisation schreibt, dürfte sehr zutreffend sein und auch erklären, warum der Emmerick-Prozess auf der Diözesanebene so spät in Gang kam. Pater Adam: Ein Prozess soll normalerweise nicht später als dreißig Jahre nach dem Tod der verehrten Person beginnen. »Bei A. K. Emmerick tat sich der Prozess recht schwer, überhaupt in Gang zu kommen. Sie starb am 9. Februar 1824, und die erste Sitzung fand statt am 14. November 1892, also fast 70 Jahre später…Zu erklären ist diese Zurückhaltung nur vor dem religions- und zeitgeschichtlichen Hintergrund.«28 Die Aufklärung war noch keineswegs überwunden; die deutsche Kirche litt noch unter der Zerschlagung ihrer äußeren Strukturen. Lange Jahre der Lebenszeit Anna Katharinas in Dülmen gab es bekanntlich in Münster keinen Diözesanbischof. Das Münsterland war an das protestantische Preußen gefallen. Die katholische Bevölkerung fühlte sich benachteiligt. Die Entwicklung gipfelte im Kölner Ereignis 1837, der Gefangensetzung des Kölner Erzbischofs Clemens August Droste zu Vischering, der als Generalvikar von Münster die kirchliche Untersuchung Emmericks eingeleitet und sie »als Freundin Gottes« bezeichnet hatte. Nachdem sich die Lage längst beruhigt hatte, brach in den siebziger Jahren der Kulturkampf aus. »Verantwortlich für die Verzögerung des Informativprozesses (in Münster) ist auch die katholikenfeindliche Haltung eines Teiles der Presse in dieser Zeit.«29 Vor diesem Hintergrund sind auch die Ängste und die Zurückhaltung des Klerus verständlich, obwohl es dafür auch noch weitere Gründe gibt, wie wir weiter unten sehen werden.

Domdechant Dr. C. F. Krabbe, ein der Emmerick Wohlgesonnener, stellt im »Vorwort« zu seiner kleinen Schrift »Erinnerung an die selige Anna Katharina Emmerich. Augustinerin des Klosters Agnetenberg in Dülmen« sechsunddreißig Jahre nach ihrem Tode fest: »Die selige A. K. Emmerich ist in Westfalen leider zu sehr in Vergessenheit geraten.« Anlass der Schrift ist die erneute Öffnung des Grabes, über die das »Westfälische Kirchenblatt« berichtet habe mit dem Zusatz: »In wie hohem Ansehen die Verblichene außerhalb Westfalen steht, davon kann man sich leicht auf Reisen überzeugen.« Ein amerikanischer Pfarrer habe beim Betreten des Geburtshauses berichtet, »Catharina Emmerich … sei in Amerika bekannter als Napoleon«30.

Mag man auch die letzte Äußerung als evtl. Übertreibung eines amerikanischen Emmerick-Verehrers werten, so wird der eine oder andere Leser doch an eigene Erlebnisse von Besuchen im Ausland oder Besuchern von weither in Dülmen erinnert, spätestens durch die Erfahrungen mit Mel Gibsons Passionsfilm. Wie kommt der oft verblüffende Bekanntheitsgrad Anna Katharinas zustande? Kurz gesagt: durch die Schriften Brentanos, die in süddeutschen Verlagen erschienen waren, noch zu dessen Lebzeiten: »Das Bittere Leiden unseres Herrn Jesu Christi« – 1833, posthum: »Das Leben der heiligen Jungfrau Maria« – 1852 und: »Das Leben unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi« – 1858 und 1860; die ersten beiden Schriften mit dem Zusatz: »Nach den Betrachtungen der gottseligen Anna Katharina Emmerich«, die dritte Schrift: »Nach den Gesichten der gottseligen Anna Katharina Emmerich.«31

Auch Pater Wegener führt den Bekanntheitsgrad A. K. Emmericks auf die »Bücher ihrer Visionen« und »P. Schmögers große Lebensbeschreibung« zurück32, die sehr bald ins Französische, Englische und Italienische übersetzt wurden, und stellt kritisch wie Domdechant Krabbe fest: »Anna Katharina hatte in den letzten Jahrzehnten wegen der Großartigkeit ihrer Begnadungen in der weiten Ferne mehr Beachtung gefunden als in ihrer Heimat Westfalen, wenn wir von Dülmen und Umgebung absehen. Dort war sie in auffallender Weise namentlich von den Gebildeten und Geistlichen sehr vergessen worden; ihr Leben wie auch ihre Visionen waren den meisten unbekannt.«33 Sogar der Anstoß zur Errichtung eines Grabkreuzes und später eines schmiedeeisernen Gitters kamen aus dem Ausland: Domdechant Krabbe berichtet, wie ein in Rom stationiertes Mitglied eines Krankenpflegeordens beim Besuch seiner Mutter in Münster »von der großen Verehrung, welche der seligen A. K. Emmerich in Rom gezollt werde«, berichtete. Er wunderte sich, dass in Dülmen noch nicht einmal ein Kreuz auf dem Grab der Emmerick zu finden war, und veranstaltete eine Sammlung in Rom beim hohen Adel. Sobald das Geld in Münster eingetroffen war, »genehmigte der hochwürdigste Bischof, dass auf dem Grabe ein einfaches gotisches Kreuz errichtet und zur Legung des Fundamentes das Grab geöffnet werde.«34 Noch heute ist auf der Rückseite des alten Emmerickgrabes zu lesen: »Fideles Romae degentes monumentum posuerunt 1858« (In Rom wohnende Gläubige haben das Denkmal gesetzt 1858). Die polnische Gräfin Schapska stiftete mit Hilfe eines Dülmener Pfarrgeistlichen ein »prachtvolles Eisengitter«35.

Die Anstöße von außen beleben auch wieder die Verehrung in Dülmen und in der Diözese Münster. P. Wegener berichtet, dass nach Erneuerung der Grabesstätte »die stille Verehrung der Bewohner von Dülmen« zugenommen habe.36 Ein weiterer Aufschwung war mit dem 100. Geburtstag und fünfzigsten Todestag im Jahre 1874 gegeben: Man begann, »die von ihr (Emmerick) herrührenden Gegenstände: Möbel, Leinensachen, Bücher und andere Dinge« zu sammeln, die in Dülmener Familien und anderswo als »teure Kleinodien« bewahrt worden seien. Fünfzig bis sechzig Jahre nach ihrem Tode brachte man noch ca. hundert Gegenstände zusammen.37 Vorläufig wurde die Sammlung im Sterbehaus untergebracht, das am 1. April 1877 mietweise geöffnet wurde. Da das Haus aber nicht zu kaufen war, wurde zwanzig Jahre später ein eigenes Emmerickhaus errichtet, das dem damaligen »Emmerickfriedhof« und der heutigen Hl.-Kreuz-Kirche schräg gegenüber liegt, und im März 1898 eröffnet wurde; das Wohnzimmer der Emmerick wurde im Jahre 1900 angebaut. Damit war der Grundstock für die Emmerickgedächtnisstätte gelegt; diese wurde in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre ins Augustinerkloster verlegt, bei der Pfarrei Maria Königin, bald soll sie in der Grabeskirche Hl. Kreuz wohl ihre endgültige Heimat finden.

Eine besondere Rolle und hohe Verdienste hat Theodor Wegener. Er wurde 1831 in Coesfeld geboren, war Priester der Diözese Münster und war während eines Studienaufenthaltes in Rom als junger Priester von dem inzwischen selig gesprochenen Papst Pius IX. (Papst von 1846–1878)38 und von Kardinal Reisach gefragt worden, warum man sich in Deutschland um die Seligsprechung Anna Katharina Emmericks nicht kümmere. »Noch als Vikar von Haltern richtete er 1875 an den Bischof von Münster, Johann Bernhard Brinkmann, die dringende Bitte um Eröffnung des Prozesses. Doch es war Kulturkampf und der Bischof in Holland im Exil bis 1884. Er konnte und wollte auf die Bitte nicht eingehen.«39 1858 trat Wegener vierundfünfzig-jährig in den Augustinerorden ein; er hieß jetzt P. Thomas und widmete sich ganz der Emmerick-Sache.

Um den Emmerickprozess hat sich ganz besonders der Augustiner-Eremiten-Orden verdient gemacht. Schon 1861 hatte P. Pius Keller, dessen eigener Seligsprechungsprozess in Rom inzwischen eingeleitet ist, als Oberer der deutschen Ordensprovinz an Bischof Georg Müller von Münster die Bitte um Einleitung des Informativ-Prozesses für Anna Katharina Emmerick gerichtet. Die Diözese hatte in Verbindung mit der Grabesöffnung 1858 selbst geprüft, ob ein Prozess eröffnet werden solle. Doch Dechant Cramer von Dülmen – obwohl selbst ein Emmerick-Verehrer – und Bischof Müller lehnten ab. P. Adam berichtet von mehreren sich widersprechenden Tatsachen: Dülmener Bürger wollten ein Licht am Grab der Verstorbenen brennen lassen und sich dort zum Gebet versammeln. Dechant Böckenhoff verweigerte den Zutritt zum Friedhof. Der aus Dülmen stammende Vikar Bügelmann schreibt: »Die Leute wunderten sich über die Tatsache, dass nichts zur Seligsprechung unternommen wurde und dass vor allem die Dülmener Geistlichkeit nicht über sie sprach.«40 Eine gewisse Skepsis des sehr nüchtern denkenden westfälischen Klerus ist also nicht neu. Noch unlängst sagte mir ein gut bekannter Mitbruder, gegenüber der Emmerick bestehe nach wie vor eine gewisse Reserve. Wie sind Skepsis und Reserve zu erklären? Mir scheint, der Bischof von Münster, Johann Bernhard Brinkmann, gibt zumindest eine einleuchtende Erklärung. In seiner Ablehnung auf die erneute Bitte von P. Pius Keller, den Prozess zu eröffnen, antwortet der Bischof 1886: »Mag es auch als Tatsache gelten können, dass die selige A. K. E. in Dülmen und Umgebung bei einer nicht geringen Zahl von Gläubigen eine innige Verehrung genießt und seit vielen Jahren genossen hat, so ist es doch unzweifelhaft, dass diese Verehrung der Seligen wie auch die Anrufung ihrer Fürbitte zunächst und hauptsächlich durch die hier sehr verbreitete Schrift des Brentano ›Das bittere Leiden unseres Herrn Jesu Christi‹ … hervorgerufen ist, und später durch die Schriften des P. Schmöger und die Bemühungen des P. Wegener weitere Ausdehnung erhalten hat. Jene Schriften aber fußten auf den Aufzeichnungen, welche Brentano von den mündlichen Äußerungen der Seligen gemacht hat, und wie viel von diesen Aufzeichnungen auf objektiver Wahrheit beruht, wird sich schwerlich jemals feststellen lassen. Gewiss ist, dass viele hiesige Zeitgenossen des g. Brentano ihn für einen Mann gehalten haben, dem seine ungewöhnlich lebhafte Einbildungskraft es schier unmöglich gemacht hätte, das Gehörte in objektiver Wahrheit festzuhalten und niederzuschreiben.«41

Im Jahre 1884 wurde Graf Dr. Christian Bernhard von Galen Dechant in Dülmen. Er erhielt von der Behörde in Münster den Auftrag, »unauffällig« die Voraussetzungen für die Eröffnung eines Prozesses zu prüfen. Sein Gutachten fiel so positiv aus, dass der neue Bischof von Münster, Hermann Dingelstad, den Diözesanprozess am 14. November 1892 eröffnete. P. Pius Keller und P. Thomas Wegener waren die ersten Vizepostulatoren. Es wurden bis zur letzten Sitzung am 15. Mai 1899 einhundertundeinunddreißig Zeugen vernommen, darunter noch sechs Augenzeugen. Die Abschriften der Prozessakten wurden nach Rom gesandt, die Originale verbrannten 1945 in Münster.42