Die Taufe auf den Tod Christi

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Die Taufe auf den Tod Christi
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Claudia Matthes

Die Taufe auf den tod Christi

Eine ritualwissenschaftliche Untersuchung zur christlichen Taufe dargestellt anhand der paulinischen Tauftexte

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-7720-0044-7


Inhalt

  Vorwort

  Einleitung

 I: Ritualwissenschaften und Exegese1 Rituale und Ritualwissenschaften1.0 Wahrnehmung, Präsenz und Brisanz von Ritualen in modernen Gesellschaften1.1 Definition(en)1.2 Kategorisierungen1.3 Ritualveränderungen und -neuentwicklungen1.4 Missverständnisse, Fehler und Protest1.5 Ritualkritik2 Die Methodik der Arbeit2.0 Marginalisierung des Rituals in der Exegese?2.1 Rahmenbedingungen und Herausforderungen ritologischen Arbeitens im NT2.2 Ritologische Methodik der Untersuchung3 Aufbau und Fragestellung(en) der Arbeit3.1 Gegenstand und Ziel der Arbeit3.2 Aufbau der Arbeit3.3 Begriffliche Differenzierungen3.4 Fragestellungen der Arbeit

 II: Begrifflichkeiten1 βάπτω und βαπτίζω1.1 βάπτω1.2 βαπτίζω1.3 Übersetzungstraditionen2 Die sog. Taufformel(n)2.1 βαπτίζειν εἰς Χριστὸν2.2 βαπτίζειν εἰς τὸ ὄνομα Χριστοῦ3 Zusammenfassung

 III: Die paulinischen Tauftexte1 Galater 3,23–29: Es gibt weder Jude noch Grieche.1.1 Textsemantischer Einstieg1.2 ὑπό νόμον (Gal 3f)1.3 Χριστὸν ἐνεδύσασθε (Gal 3,27b)1.4 οὐκ ἔνι Ἰουδαῖος οὐδὲ Ἕλλην, οὐκ ἔνι δοῦλος οὐδὲ ἐλεύθερος, οὐκ ἔνι ἄρσεν καὶ θῆλυ (Gal 3,28a-c)1.5 πάντες γὰρ ὑμεῖς εἷς ἐστε ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ (Gal 3,28d)1.6 εἰ δὲ ὑμεῖς Χριστοῦ, ἄρα τοῦ Ἀβραὰμ σπέρμα ἐστέ, κατ’ ἐπαγγελίαν κληρονόμοι (Gal 3,29)1.7 Zusammenfassung unter ritologischer Perspektive2 1. Korinther 1,10–17: Auf wessen Namen seid ihr getauft?!2.1 Textsemantischer Einstieg2.2 ἵνα […] μὴ ᾖ ἐν ὑμῖν σχίσματα (1Kor 1,10)2.3 ἐγὼ μέν εἰμι Παύλου, ἐγὼ δὲ Ἀπολλῶ, ἐγὼ δὲ Κηφᾶ, ἐγὼ δὲ Χριστοῦ (1Kor 1,12)2.4 μεμέρισται ὁ Χριστός; μὴ Παῦλος ἐσταυρώθη ὑπὲρ ὑμῶν, ἢ εἰς τὸ ὄνομα Παύλου ἐβαπτίσθητε; (1Kor 1,13)2.5 Zusammenfassung unter ritologischer Perspektive3 1. Korinther 12,12–20: Zu einem Leib getauft3.1 Textsematischer Einstieg3.2 ἐν ἑνὶ πνεύματι ἡμεῖς πάντες […] ἐβαπτίσθημεν (1Kor 12,13a)3.3 […] ἡμεῖς πάντες εἰς ἓν σῶμα ἐβαπτίσθημεν (1Kor 12,13a)3.4 εἴτε Ἰουδαῖοι εἴτε Ἕλληνες εἴτε δοῦλοι εἴτε ἐλεύθεροι (1Kor 12,13b)3.5 πάντες ἓν πνεῦμα ἐποτίσθημεν (1Kor 12,13c)3.6 Zusammenfassung unter ritologischer Perspektive4 Römer 6,1–11: Mit Christus gestorben4.1 Der locus classicus der Tauflehre – Bedeutung und Kontext4.2 ὅσοι ἐβαπτίσθημεν εἰς Χριστὸν Ἰησοῦ, εἰς τὸν θάνατον αὐτοῦ ἐβαπτίσθημεν (Röm 6,3bc)4.3 συνετάφημεν οὖν αὐτῷ διὰ τοῦ βαπτίσματος εἰς τὸν θάνατον (Röm 6,4a)4.4 ἵνα ὥσπερ ἠγέρθη Χριστὸς ἐκ νεκρῶν διὰ τῆς δόξης τοῦ πατρός, οὕτως καὶ ἡμεῖς ἐν καινότητι ζωῆς περιπατήσωμεν (Röm 6,4b.c)4.5 εἰ γὰρ σύμφυτοι γεγόναμεν τῷ ὁμοιώματι τοῦ θανάτου αὐτοῦ (Röm 6,5a)4.6 Zusammenfassung unter ritologischer Perspektive

 IV: Die rituelle Umwelt der christlichen Taufe. Ritualvergleiche1 Wasser und Wasserrituale allgemein1.0 Einleitung1.1 Im AT und frühjüdischer Literatur1.2 Im NT1.3 Ertrag2 Johannestaufe2.1 Die Ritualbezeichnung: τὸ βάπτισμα Ἰωάννου2.2 Der Ursprung des Rituals2.3 Der Ritualleiter: die Person Ἰωάννης ὁ βατιστής2.4 Die Ritualteilnehmer: οἱ ἐκπορευομένοι ὄχλοι βαπτισθῆναι ὑπ᾽ αὐτοῦ2.5 Der Ritualort: Wüstenpredigt und Jordantaufe2.6 Der Ritualablauf: Ἐγὼ μὲν ὑμᾶς βαπτίζω ἐν ὕδατι εἰς μετάνοιαν2.7 Die Ritualfunktion und -deutung: βάπτισμα μετανοίας εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν2.8 Ertrag und Vergleich mit der christlichen Taufe3 Beschneidung3.1 Die Ritualbezeichnung: ‎‏מול‏‎ / περιτέμνω3.2 Der Ursprung des Rituals: ‎‏לאות ברית‏‎3.3 Der Ritualleiter: der Beschneider3.4 Die Ritualteilnehmer: οἱ ἐκ περιτομῆς3.5 Der Ritualort und die Ritualzeit3.6 Der Ritualablauf: das Abschneiden3.7 Die Ritualfunktion und -deutung: das Bundeszeichen3.8 Ertrag und Vergleich mit der christlichen Taufe4 Proselytentauchbad4.0 Quellenlage und Datierung4.1 Die Ritualbezeichnung: ‎‏טבילה‏‎4.2 Der Ursprung des Rituals: Die jüdischen Reinigungswaschungen4.3 Die Ritualleiter: Die Zeug(inn)en des Tauchbades4.4 Die Ritualteilnehmer: alle Proselyt(inn)en4.5 Der Ritualort und die Ritualzeit4.6 Der Ritualablauf: Beschneidung, Belehrungen und Tauchbad4.7 Die Ritualfunktion und -deutung: Reinigungs- und Initiationsfunktion4.8 Ertrag und Vergleich mit der christlichen Taufe5 Gruppen mit intensivem Gebrauch von Wasserritualen5.0 Einleitung5.1 Die Gemeinschaft von Qumran5.2 Die Elchasaiten5.3 Die Mandäer5.4 Die Ebioniten5.5 Ertrag und Vergleich mit der christlichen Taufe

 V: Ritologische (Deutungs)Motive1 Tod–Leben1.1 Das Verhältnis von Leben und Tod1.2 Motivvarianten – Verwendung und Interpretation als Ritualdeutung1.3 Schlussfolgerungen und Gesamtinterpretation2 Gemeinschaft, Einheit und Leibmetaphorik2.1 Keine Taufe ohne Gemeinde2.2 Die Taufe begründet eine einzigartige Einheit und Gemeinschaft.2.3 Zusammenfassung3 Erbe, Sohn3.1 Kindschaft und Verwandtschaft allgemein3.2 Kinder Gottes3.3 Erben3.4 Abrahamskindschaft4 Befreiung – Freiheit5 Name5.1 Das Namensmotiv in rituellen Kontexten5.2 Das Namensmotiv in der ὄνομα-Taufformel6 Zusammenfassung

 VI: Die christliche Taufe als Ritual. Eine Zusammenfassung0 Einleitung1 Die Ritualbezeichnung: ἐβαπτίσθητε εἰς Χριστόν1.1 Zusammenfassung1.2 Weiterführende Aspekte und Fragen2 Der Ursprung und die Entwicklung des Rituals: εἰς τὸν θάνατον αὐτοῦ ἐβαπτίσθημεν2.1 Zusammenfassung2.2 Weiterführende Aspekte und Fragen3 Der Ritualleiter: ein Täufer3.1 Zusammenfassung3.2 Weiterführende Aspekte und Fragen4 Die Ritualteilnehmer(innen): Wirklich alle können getauft werden.4.1 Zusammenfassung4.2 Weiterführende Aspekte und Fragen5 Der Ritualort und die Ritualzeit5.1 Der Ritualort: Die Taufe ist ortsunabhängig.5.2 Die Ritualzeit: Die Taufe ist der Moment des Wechsels.6 Der Ritualablauf: Wirklich alle werden in gleicher Weise einmalig getaucht.6.1 Zusammenfassung6.2 Weiterführende Aspekte und Fragen7 Die Ritualfunktion und -deutung: Die christliche Taufe ist ein Initiationsritual der besonderen Art.

 LiteraturverzeichnisI. SekundärliteraturII. HilfsmittelIII. TextausgabenIV. Websites

Vorwort

Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 2016 von der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig unter dem Titel „Auf seinen Tod getauft (Röm 6,3). Eine ritualwissenschaftliche Untersuchung zur christlichen Taufe dargestellt anhand der paulinischen Tauftexte“ als Dissertation angenommen und für den Druck leicht überarbeitet.

Für die jahrelange Unterstützung, jedes Mitdenken und viele anregende und reflektierende Gespräche danke ich meinem Doktorvater Herr Prof. Dr. Jens Herzer. Dankbar bin ich auch Prof. Dr. Marco Frenschkowski für das Zweitgutachten sowie vielfältige religionsgeschichtliche Hinweise. Die Diskussionen im Institutskolloquium haben mir immer wieder geholfen, Aufbau und Teilergebnisse des Projektes zu hinterfragen und mich zur richtigen Zeit motiviert. In besonderer Weise möchte ich an dieser Stelle Dr. Martin Hüneburg danken. Außerdem bin ich dankbar, dass das Projekt in der Reihe „Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie“ aufgenommen wurde.

 

Viele, viele Familienmitglieder und Freunde wissen nach diesen Jahren mehr Details und Kuriosa über die Taufe als sie vermutlich jemals wissen wollten. Einige von ihnen haben mich zusätzlich bei der Korrektur unterstützt. Vielen Dank für jedes offene Ohr, jede Minute und sonstige Unterstützung, mit denen ihr einen erheblichen Anteil an diesem Buch habt! V.a. den Theolog(inn)en unter euch wünsche ich, dass ihr das immer wieder Gehörte nutzen könnt, um im besten Sinne „gelingende Taufen“ zu spenden und zu feiern! Ich weiß, ihr seid für die Wichtigkeit und die Chance lebendiger Rituale in unserem Alltag wie in unseren Gemeinden sensibilisiert.

Abschließend und besonders herzlich möchte ich meinem Mann Clemens Matthes danken, der mich bisher nur mit diesem Projekt kennt. Ich freue mich auf unser gemeinsames Leben und mit dir gemeinsam Rituale für unsere Familie zu finden und zu gestalten. Und ganz besonders freue ich mich darauf, dass unsere liebe Clara an diesem Sonntag getauft wird.

Halbau, Pfingsten 2016 Claudia Matthes

Einleitung

Zu keiner Zeit und in keiner exegetischen Veröffentlichung wird der Ritualcharakter der christlichen Taufe in Frage gestellt. Dass sich bisher nur wenige Studien dessen wissenschaftlicher Erfassung und Interpretation widmen, scheint eine Reihe an Gründen zu haben.1 Im Folgenden sei ein Überblick gegeben über diejenigen Beiträge, welche sich – wenn auch zum Teil nur ansatzweise – mit der Taufe als Ritual auseinandersetzen.

Die beiden umfassendsten Veröffentlichungen der letzten Jahre zur Taufe sprechen Ritualsapekte insofern an, dass sie die (vermeintlichen) Vorgängerrituale und „Parallelen“ phänomenologisch darstellen und ansatzweise Vergleiche und Überlegungen zu deren Verhältnis mit der christlichen Taufe anstellen:

Everett Ferguson, Baptism in the Early Church. History, Theology, and Liturgy in the First Five Centuries:2 Ferguson geht einerseits auf die Verwendung von Wasser zur Reinigung in der Ritualwelt des griechisch-römischen Kontextes ein3 und verhandelt andererseits über Johannes den Täufer,4 Jüdische Wa­schungen, Täuferbewegungen und die sog. Proselytentaufe.5 Diese Rituale identifiziert er als „a more likely immediate context for Christian baptism than any other antecedents“.

Hellholm, David/Vegge, Tor/Norderval, Oyvind/Hellholm, Christer (Hg.), Ablution, Initiation, and Baptism. Late Antiquity, Early Judaism, and Early Christianity, Bd. I–III:6 Die methodische Grundlage legt Petersen, Anders Klostergaard, Rituals of Purification, Rituals of Initiation. Phenomenological, Taxonomical and Culturally Evolutionary Reflections.7

Eine Reihe an Aufsätzen widmet sich Wasser- und teilweise auch Initiationsritualen in vorangehenden und umliegenden Kulturen: Assmann, Jan/Kucharek, Andrea, Wasserriten im Alten Ägypten;8 Hultgård, Anders, The Mandean Water Ritual in Late Antiquity;9 Graf, Fritz, Baptism and Graeco-Roman Mystery Cults;10 Pearson, Birger A., Baptism in Sethian Gnostic Texts;11 Wurst, Gregor, Initiationsriten im Manichäismus;12 Labahn, Antje, Aus dem Wasser kommt das Leben. Waschungen und Reinigungsriten in frühjüdischen Texten;13 Freyne, Sean, Jewish Immersion and Christian Baptism. Continuity on the Margins?;14 Sänger, Dieter, „Ist er hinaufgestiegen gilt er in jeder Hinsicht als ein Israelit“ (bYev 47b). Das Proselytenbad im frühen Judentum.15

Weitere Beiträge betrachten die christliche Taufe nach Einzelmotiven und in verschiedenen ntl.en Schriften(-gruppen): Labahn, Michael, Kreative Erinnerung als nachösterliche Nachschöpfung. Der Ursprung der christlichen Taufe;16 Hartman, Lars, Usages – Some Notes on the Baptismal Name-Formulae;17 Hellholm, David, Vorgeformte Tauftraditionen und deren Benutzung in den Paulusbriefen;18 Vegge, Tor, Baptismal Phrases in the Deuteropauline Epistles;19 Schröter; Jens, Die Taufe in der Apostelgeschichte;20 Byrskog, Samuel, Baptism in the Letter to the Hebrews;21 Moxnes, Halvor, Because of “The Name of Christ“. Baptism and the Location of Identity in 1 Peter;22 Schnelle, Udo, Salbung, Geist und Taufe im 1. Johannesbrief;23 Hartvigsen, Kirsten Marie, Matthew 28:9–20 and Mark 16:9–20. Different Ways of Relating Baptism to the Joint Mission of God, John the Baptist, Jesus, and their Adherents;24 Seim, Turid Karlsen, Baptismal Reflections in the Fourth Gospel;25 Wischmeyer, Oda, Hermeneutische Aspekte der Taufe im Neuen Testament.26 Die weiteren Beiträge erstrecken sich auf die patristische Periode.

Der Aufsatzband deckt eine beeindruckende Breite an Themen und Ritualen ab, welche mit der christlichen Taufe in ihren Anfängen in Verbindung stehen. Die Vielzahl der Autoren birgt zugleich (natürlicherweise) die Schwierigkeit, dass das methodische Vorgehen des Erfassens und Darstellens der Rituale unterschiedlich und damit wenig vergleichbar vonstattengeht. Eine Monographie muss den Anspruch haben, nicht allein ritualwissenschaftlich zu arbeiten, sondern sich auch der Herausforderung stellen, die sehr unterschiedlichen Quellen und Aspekte in einer einheitlichen und darin vergleichbaren Weise zu erfassen.

Theißen, Gerd, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, 171–224:27 Theißen widmet der „rituellen Zeichensprache des Urchristentums“ ein eigenes Kapitel, denn „Religionen sind Zeichensysteme, die auf eine letztgültige Wirklichkeit verweisen“.28 Die rituelle Zeichensprache stehe dabei neben der narrativen (Mythos und Geschichte) und der präskriptiven (Imperative und wertende Sätze).29 Aus der Vielfalt und Breite der urchristlichen Riten heben sich die beiden Sakramente Taufe und Abendmahl in besonderer Weise hervor. Theißen beschreibt ihr Entstehen als Transformation ursprünglicher, prophetischer Symbolhandlungen: Beide bezögen sich nur sekundär auf den Tod Jesu, wodurch es zu einer „Spannung zwischen äußerem Vollzug und religiösem Sinn“ käme.30 Letztlich überschreiten beide Sakramente „in rituell geschützter Form Tabuschwellen“, indem sie harmlose Handlungen („Essen und Trinken, Waschen und Begießen“) in religiöser Imagination mit Menschenopfer und Begrabenwerden gleichsetzen.31

In seiner verhältnismäßig ausführlichen Darlegung zu den urchristlichen Ritualen arbeitet Theißen in Ansätzen ritualwissenschaftlich. Seinem inhaltlich ähnlich ausgerichteten Buch „La dinamica rituale di sacramenti nel christianesimo primitivo. Da azioni simbolico-profetiche a riti misterici“32 stellt er gar dezidiert „ritualtheoretische Vorüberlegungen“ voran. Jedoch liegt seiner Untersuchung ein in der ritualwissenschaftlichen Forschung nicht mehr konsenesfähiger Ritualbegriff zu Grunde: „Riten sind Handlungen, die sich durch strenge Regelbefolgung selbst zum Zweck werden.“33 Diese Definition beeinflusst sodann nicht allein das Verständnis, sondern auch seine Überlegungen zur Entstehung von Taufe und Abendmahl. Ob seine Thesen zur Symbolhaftigkeit der Taufhandlung und ihrer Bezugnahme auf das Begräbnis Jesu34 tatsächlich zutreffen, wäre ebenfalls zu prüfen.35

Schließlich gibt es eine Reihe an ntl.en ritualwissenschaftlichen Studien, welche hier nicht in ihrer Breite dargestellt werden können. Der Fokus soll auf denjenigen liegen, welche mindestens ansatzweise die christliche Taufe als Ritual behandeln:

Strecker, Christian, Liminale Theologie des Paulus. Zugänge zur paulinischen Theologie aus kulturanthropologischer Perspektive:36 Strecker untersucht die urchristlichen Ritual- und Gemeinschaftsstrukturen und deutet sie unter grundlegender Inanspruchnahme der Ritual- und Gesellschaftstheorie Victor Turners. Die Anwendung von etablierten Ritualtheorien zur Deutung ritueller Zusammenhänge ist einerseits ein dezidiert ritualwissenschaftliches Vorgehen, anderseits bleibt zu fragen, inwieweit eine unter Beobachtung von Ureinwohnervölkern wie modernen Gruppierungen entwickelte Theorie „anwendbar“ auf die urchristliche Gemeinschaft ist – selbst dann, wenn Turner diese als Beispiel seiner Theorie benennt.37

In weiteren Veröffentlichungen v.a. zur Taufe verfolgt Strecker sodann auch andere ritualwissenschaftliche Ansätze, indem er der ntl. mit der Taufe in Verbindung gebrachten Motivik ritualwissenschaftlich nachspürt: Strecker, Christian, Taufrituale im frühen Christentum und in der Alten Kirche. Historische und ritualwissenschaftliche Perspektiven;38 ders., Auf den Tod getauft – ein Leben im Übergang. Erläuterungen zur lebenstransformierenden Kraft des Todes bei Paulus im Kontext antiker Thanatologien und Thanatopolitiken;39 ders., Macht – Tod – Leben – Körper. Koordination einer Verortung der frühchristlichen Rituale Taufe und Abendmahl.40

Jensen, Robin M., Baptismal Imagery in Early Christianity. Ritual, Visual and Theological Dimensions:41 Jensen untersucht und interpretiert die vielfältige Taufmotivik vom Neuen Testament bis in die Patristik u.a. unter ritologischen Gesichtspunkten, indem sie etwa andere Reinigungsrituale oder Inkorporationsrituale vergleichend heranzieht. Die von ihr untersuchten Motive sind „Baptism as Cleansing from Sin and Sickness“,42 „Incorporation into the Community“,43 “Baptism as Sanctifying and Illuminative”, “Baptism as Dying and Rising”44 sowie “Baptism as the Beginning of the New Creation”.45 Mit ihrer inhaltlichen Herangehensweise verfolgt sie die Deutungsmotive durch die Entwicklungsgeschichte der Taufe hindurch. Andere ritualwissenschaftliche Ansätze, wie etwa der Vergleich mit funktional ähnlichen Ritualen, werden dieser Prämisse untergeordnet und treten dadurch nur am Rande auf.

DeMaris, Richard E., The New Testament in its Ritual World:46 Nach einer Einführung in „Ritual Studies and the New Testament“ unterteilt DeMaris seine Ausführungen in „Entry Rites“ und „Exit Rites“ und geht innerhalb dessen sowohl Ritualelementen als auch -motiven nach. Er legt damit eine inhaltlich wie methodisch dezidiert ritualwissenschaftliche Studie vor. Die christliche Taufe stellt dabei eines der untersuchten Rituale dar.47

Eine Reihe von Studien und Aufsätzen beschäftigt sich allgemein mit der Ritualwelt des Neuen Testaments oder auch konkret mit Ritualaspekten und -elementen der christlichen Taufe in ihren Anfängen. Wenn daraus auch einzelne inhaltliche wie methodische Anstöße hervorgehen, so fehlt es dennoch an einer umfassenden Erfassung des Rituals Taufe. Die nachfolgende Arbeit stellt sich der Herausforderung, dies erstmalig durchgehend und dezidiert unter Zuhilfenahme ritualwissenschaftlicher Methodik zu vollziehen. Den Weg dahin wird das nachfolgende Methodenkapitel aufzeigen.

Kapitel I: Ritualwissenschaften und Exegese
1 Rituale und Ritualwissenschaften
1.0 Wahrnehmung, Präsenz und Brisanz von Ritualen in modernen Gesellschaften

Es galt lange Zeit als Gemeinplatz innerhalb der Sozialforschung, „daß Rituale in modernen Gesellschaften an Bedeutung verloren haben – als Ergebnis des Siegeszuges des Rationalismus oder der Technik, oder weil man den Individualismus, die Spontaneität, Authentizität und Aufrichtigkeit zunehmend höher bewertete“.1 Max Weber etwa assoziierte Ritual mit Magie und konstatiert, „daß alle beide in der modernen, ‚entzauberten‘, rationalen Welt an Bedeutung verlieren“.2 Max Gluckman spricht gar von einem allgemeinen Rückgang der Ritualisierung sozialer Beziehungen.3

Doch die Tendenz zur Marginalisierung von Ritualen ist erheblich älter als Weber und Gluckman. Wesentlich geprägt und mitbegründet wird sie bereits seit dem 16. Jh. von der evangelischen Theologie in ihrer gesamtgesellschaftlichen Wirkung: „The Protestant Reformation produced an ideological stance that was openly hostile toward ritual.“4

In seiner (theologie-)geschichtlich angelegten Ursachenforschung macht Gorman drei Aspekte evangelischer Theologie aus, welche zu einer Abwertung von Ritualen führten: 1) „the emphasis on inner experience as central to the authentic Christian existence“; 2) „a Christocentric and Christological interpretation of the Bible and history“ und 3) „anti-Judaistic and anti-Catholic biases and polemics“.5 Einige dieser (Über-)Interpretationen sind als direkte Reaktion auf das teilweise magische Ritualverständnis und -praxis der vortridentinischen katholischen Kirche zu verstehen und führen zu einer allgemeinen Distanzierung von ritualisierten, körperlichen Formen der Glaubensausübung.

Später verstärken nach der Meinung von Douglas antiritualistische Thesen tradierende, religiöse Erweckungsbewegungen, welche das Ritual stets als „leeren Konformismus“ kritisieren, die Marginalisierung des Rituals v.a. im evangelischen Bereich und davon geprägten Gesellschaften.6

 

Dass nun in den vergangenen 30 Jahren gehäuft die Beobachtung gemacht wird, Rituale seien wieder „in“ bzw. „schön“,7 hat m.E. zwei miteinander korrespondierende Ursachen:

1) Es ist ein erweiterter, nicht allein auf religiöse Rituale und den Ritualablauf fokussierender Ritualbegriff wahrzunehmen. Rituale werden (wieder-)entdeckt in sämtlichen Gesellschafts- und Lebensbereichen.

2) Es entstehen tatsächlich viele neue Rituale bzw. werden bewusst gesucht und entwickelt. Diese „neuen“ Rituale unterscheiden sich jedoch teilweise erheblich in Art, Intension wie gesellschaftlicher bzw. privater Verortung von bisherigen Ritualen und deren Funktionen. Als Anlass vieler der v.a. privaten Rituale muss die sich so schnell wie nie verändernde, verkomplizierende und ständige Entscheidungen, Flexibilität und Erreichbarkeit fordernde Lebenswelt eines Menschen des digitalen Zeitalters gelten. Entsprechend werden Rituale zum Arbeiten im homeoffice, zur Ehescheidung,8 zum Umgang in Patchworkfamilien9 sowie zu individuellen oder auch gemeinschaftlichen Offline-Zeiten entwickelt: „Die ‚neuen Rituale‘, so darf man aus all dem schließen, sind Handlungen, die vornehmlich der Psychohygiene dienen und darin ihren Sinn wie ihre Rechtfertigung – ihre raison d’etre – finden.“10 Selbst wenn dazu auf ältere Ritualformen zurückgegriffen wird, „werden sie nicht als Selbstverständlichkeiten des gesellschaftlich-religiösen Lebens fraglos wahr- und hingenommen, sondern in einer Art ‚Kaufentscheidung‘ bewußt gewählt, häufig auch erst in einem kreativen Prozeß hergestellt, um- und ausgestaltet. Immer weniger wird ihre Plausibilität durch kulturelle Gewohnheiten bzw. durch religiöse und gesellschaftliche Institutionen garantiert.“11

Daneben werden aber auch im öffentlichen Raum – in Politik, Sport, Musik oder auch an Universitäten – Rituale vermehrt entwickelt bzw. werden (wieder) als solche erkannt. Diesbezüglich ist gelegentlich die These zu hören, alle Gesellschaften seien gleichermaßen ritualisiert, sie würden lediglich unterschiedliche Rituale praktizieren. Burke mahnt diesbezüglich an, dass es wesentlich schwieriger sei, eigene Rituale zu erkennen als die der anderen, und empfiehlt daher, lediglich die Einstellung gegenüber Ritualen in der eigenen Gesellschaft zu beschreiben.12 Er kommt dabei zu dem Schluss: „Selbst wenn viele Menschen Rituale weiterhin ernst nehmen und es möglich ist, daß neue Medien […] auf ihre Art zur Mystifikation von Autoritäten beitragen, so steht dennoch fest, daß eine distanzierte, ja ablehnende Einstellung zu ‚bloßen‘ Ritualen in der westlichen Kultur feste und tiefe Wurzeln geschlagen hat.“13

Als aktuelle Grundtendenzen moderner Gesellschaften – ob evangelisch geprägt oder nicht – lässt sich dennoch festhalten: 1) Es entsteht eine Vielzahl neuer Rituale, sowohl im privaten wie im öffentlichen Raum. 2) Teilweise wird dazu auf alte Ritualformen und -abläufe zurückgegriffen. 3) Die privaten Rituale, sowohl von einzelnen, als auch Familien und kleineren Gruppen reagieren dabei häufig auf veränderte gesellschaftliche Herausforderungen und versuchen, diese mit Hilfe von Ritualen zu bewältigen. 4) Neuere Rituale in Politik, Medien oder auch Sport scheinen ebenfalls auf die sich verändernde Gesellschaft, ggf. den Rückgang allgemeingültiger und allgemein praktizierter Rituale zu reagieren. Dass die Trauerzeremonien am Ground Zero wesentliche Elemente kirchlicher Trauerfeiern oder auch das allsamstagliche Fangebaren in deutschen Fußballstadien auffällige Ähnlichkeiten mit einer Gottesdienstliturgie hat, mag als Indiz dafür gelten.

Mit dieser kontroversen gesellschaftlichen Entwicklung geht seit einigen Jahrzehnten die zunehmend systematisierte wissenschaftliche Erforschung von Ritualen einerseits innerhalb unterschiedlicher Forschungsgebiete14 und andererseits als eigenständiges und doch stets interdisziplinäres Forschungsgebiet, den sog. „Ritual Studies“ bzw. „Ritualwissenschaften“, einher.15 Als maßgebliche Protagonisten seien hier nur exem­plarisch genannt Catherine Bell,16 Mary Douglas,17 Roy Rappaport,18 Jonathan Z. Smith,19 Victor W. Turner20 und Arnold van Gennep.21 Gesondert ist auf Ronald L. Grimes22 zu verweisen, welcher 2005–2010 den weltweit ersten Lehrstuhl für Ritual Studies an der Radboud University Nijmegen (Niederlanden) innehatte.

Wie diese vielfältigen modernen Ansätze so können auch die antiken Ritualtheorien hier nicht ausführlich dargestellt werden. Genannt werden sollen aber immerhin die bekanntesten Protagonisten in diesem Bereich: Philon und Plutarch, v.a. Αἰτίαι Ῥωμαϊκαί, Αἰτίαι Ἑλλήνων. Anders als in den eher schlichten neutestamentlichen Paränesen spielen bei ihnen umfangreiche ethische und moralphilosophische Kultdeutungen eine wesentliche Rolle.23