Solange die Löwen nicht schreiben lernen

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Solange die Löwen nicht schreiben lernen
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Schriftsteller sein heißt, mit anderen Stimmen zu ­reden. Zuerst aber heißt es zu lernen, mit der eigenen Stimme zu sprechen. Sonst geschieht, wovor das afrika­ni­sche Sprichwort warnt: Solange die Löwen nicht schreiben lernen, wird jede Geschich­te die Jäger verherrlichen.

Christoph Keller nimmt seine drei Poetik­vorlesungen an der Universität St. Gal­len vom Herbst 2020 zum Anlass, sein eigenes umfangreiches, vielstimmiges Werk neu zu besichtigen. Dabei geht es um schelmisches Erzählen, um das Sprechen mit anderen Stimmen, darum, wer für einen spricht, wenn man es nicht selbst tut. Und darum, was das Lesen von Büchern für das Lesen der Welt bedeutet und wie das Lesen der Welt zum Schreiben von Büchern wird. Wie eine vierte Vorlesung fügt sich stimmig die Dankesrede für den Alemannischen Literaturpreis an.


Foto Ayşe Yavaş

Christoph Keller, geboren 1963, ist der Autor zahlreicher preisgekrönter Romane, unter anderem «Gulp», «Ich hätte das Land gern flach» und «Der beste Tänzer». Zuletzt erschie­nen von ihm «Jeder Krüppel ein Superheld. Splitter aus dem Leben in der Exklusion» (Limmat Verlag) sowie als Her­ausgeber (mit Jan Heller Levi) «The Essential June ­Jordan» (Copper Canyon Press). Keller, der über zwanzig Jahre in New York gelebt hat, schreibt auf Deutsch und Englisch. Für den Roman «Der Bo­­den unter den Füßen» wurde er 2020/2021 mit dem Alemannischen Literaturpreis ausgezeichnet.

Christoph Keller

Solange die Löwen nicht schreiben lernen

Vom Lesenschreiben der Welt

Limmat Verlag

Zürich

Für meinen Bruder Michael

(1958–2020)

Lass uns über etwas Fröhlicheres reden. Gibt’s Neues von der Cholera in Odessa?

Sholem Aleichem, aus «Hodl»

Solange die Löwen nicht schreiben lernen
Poetikvorlesungen 2020 der Universität St. Gallen

Herzlich willkommen zum Eröffnungsvortrag der öffentlichen Poetik- und Literaturvorlesungen der Universität St. Gallen. Ich bedanke mich, dass ich eingeladen worden bin, und ich bedanke mich, dass Sie gekommen sind. Das ist nicht selbstverständlich – die Zeiten sind pandemisch, es braucht etwas Mut. Trauen wir uns diesen zu, tragen wir uns Sorge, indem wir respektvoll Abstand halten, und an jene denken, denen es nicht möglich ist, hier zu sein, die uns aber über Livestream von zu Hause aus folgen. Es sind schwere Zeiten, für mich auch privat: Ich möchte diese Vorlesungen meinem kürzlich verstorbenen Bruder Michael widmen.

Drei Abende gilt es, hier zu sein, sichtbar und unsichtbar. Ich stelle mir diese in etwa so vor – halt! «In etwa» deutet bereits einen meiner literarischen Tricks an, jenen der Abschweifung – nochmals halt! Warum so salopp «Trick» sagen und nicht etwa, wie es sich bei einer or­­dent­lichen Vorlesung gehört: «literarisches Verfahren»? Weil Schriftsteller, halten sie etwas auf sich, Trickster sein müssen, keine, welche die Buchhaltung fälschen, sondern ­solche, die das Leben mit Tricks aufmischen, verfälschen, also möglicherweise verbessern, und neu, also besser, anrichten, wie es diese in zahllosen Mythologien anzutreffende Figur tut – und die deshalb so geliebt wird, weil ihr spielerisch nicht ganz zu trauen ist – ah!, geliebt werden will der Herr Schriftsteller auch noch: Fällt ihm keine bessere Methode ein, Freundinnen und auch gleich Feinde zu gewinnen als – aber ich schweife ab.

Doch darum, ums schelmische Erzählen, wird es heute Abend am Beispiel einiger meiner Romane und anderer erzählender Werke gehen – mit Ab­­schweifungen, Tricks und hoffentlich einigen gut abgehangenen Erkenntnissen und anderen Überraschungen.

Noch eine Vorbemerkung. «Freundinnen und auch gleich Feinde»: Sie haben es gemerkt, mir liegt daran, gendergerecht zu sein. Man und frau und auch manfrau und fraufrau mögen mir verzeihen, gelingt mir nicht immer die beste Lösung. Das Gendersternchen, den Dop­pelstrich oder andere aus dem Text ragende Zeichen möch­­te ich vermeiden und es mit ausgleichender Gen­dergerechtigkeit versuchen, hier weiblich, dort männlich, abwechselnd. Was allerdings zu problematischen Fällen führen kann: «Vielleicht müssen Schriftsteller Narzisstinnen sein.» Ich werde mein Bestes tun, die guten und schlechten Rollen gendergerecht fair zu verteilen, gibt es doch von allen alle: ruchlose Helferinnen, selbstlose ­Mörder.

Doch richtig ist richtig. Wer, wie zum Beispiel die «Stu­dentenschaft» der Universität St. Gallen, das un­belehr­bar anders sieht, liegt historisch falsch. Ihnen empfehle ich das Gedicht «Mythos» der amerikanischen Lyrikerin Muriel Rukeyser, der Gleichberechtigung in Leben und Werk Sauerstoff war.

Noch lange wanderte Ödipus herum, alt und geblen­det. Ein Geruch kam ihm vertraut vor. Es war die Sphinx. ­Ödipus sagte: «Ich möchte eine Frage stellen. Weshalb habe ich meine Mutter nicht erkannt?» «Du hast die falsche Antwort gegeben», sagte die Sphinx. «Aber das war es doch, was alles möglich gemacht hat», sagte Ödipus. «Nein», sagte sie. «Als ich fragte: Was geht morgens auf vier ­Beinen, mittags auf zwei und abends auf drei, da hast du gesagt: Mann. Von Frau hast du nichts ge­­sagt.» «Wer Mann sagt», sagt Ödipus, «meint Frau stets mit. Das ist doch sonnenklar.» «Das glaubst ­vielleicht du», sagte sie.


I
Vom schelmischen Erzählen

… da stehen sie und haben eine Menge durchsichtigen Raumes um sich …

R. M. Rilke

Lesenschreiben

Werde ich gefragt, wann ich mit dem Schreiben angefangen habe, antworte ich gern schelmisch: Ach, ich habe schon geschrieben, bevor ich überhaupt lesen konnte.

Jetzt frage ich mich: Was, wenn das stimmt?

Praktischerweise erinnere ich mich nicht, was zuerst war, die Lesehenne oder das Schreibei. Die Hauptzutaten von Memoiren sind falsche Erinnerungen. Diesem Thema widmete ich mit «Das Steinauge» einen Roman, nachdem ich versucht hatte, mir mit den mehrheitlich echten Erinnerungen, die «Der beste Tänzer», mein erstes Buch über mein Leben mit Spinaler Muskelatrophie, bietet, auf die Schliche zu kommen. In jenem Buch schreibe ich, sich erinnern bestehe undankbarerweise darin, die eigene Vergangenheit neu zu erfinden; undankbar, weil man etwas neu erfinden muss, das es schon einmal gegeben hat. Was kann daran schon wahr sein?

Deshalb werden in «Das Steinauge» die Erinnerungen zur Erinnerungsfalle, in die tappt, wer sich dieser Frivolität hingibt. Die Wirklichkeit ist keine Ansichtssache, steht da. Dein Gedächtnis spielt dir Streiche. Es ist eine Trickkiste. Es stattet deine Vergangenheit mit Polstern und Kissen aus, auf denen du dich ausruhen kannst, damit du dich nicht an deiner Vergangenheit verletzt. Würde es das nicht tun – unser Gedächtnis mit falschen Erinnerungen füttern –, wir würden alle wahnsinnig werden.

Auch hier wird also themenbedingt getrickst. Verstehe ich das Gedächtnis als Erinnerungsfalle, ist es nur konsequent, den Roman, der sich mit diesem Thema beschäftigt, als Trickkiste anzulegen. «Das Steinauge» war mein notwendiger Versuch, mein Erinnerungsbuch «Der beste Tänzer» als Fiktion neu zu schreiben. «Falsche Bilanzen» nennt Friedrich Dürrenmatt Lebensbeschreibungen in den «Stoffen» gleich zu Beginn oft große Dichtungen, mit aber reichlich suspektem Wahrheitsgehalt. Ich weiß heute, dass ich mich lieber falsch erinnere. Ich schreibe Fiktion, baue Wahrheit aus Unwahrheiten. Dürrenmatt setzt dann allerdings doch zu einer falschen Bilanz an, jener seiner unge­schrie­benen Texte, und schafft mit den «Stoffen» große Dichtung.

Wir können es nicht lassen, wir großen und kleinen Dich­terinnen. Leben, um darüber zu schreiben. Das hof­fentlich nicht nur. Leben und dann darüber schreiben? Schon besser. Das Erlebte aber muss für mich das Ge­­schriebene speisen. «Atme Erfahrung ein, atme Gedichte aus», schrieb die bereits zitierte Muriel Rukeyser mit kaum zwanzig gleich im ersten Satz ihres ersten Buches. Geschriebenes kann dann als Gelesenes in Umlauf ge­­bracht werden.

Lesen, schreiben. Der Wenigschreiber Peter Bichsel sagt von sich, er sei mehr Leser als Schriftsteller, und wünscht sich die Biografie eines Lesers, hat aber dankenswerterweise dennoch einiges geschrieben. Der Vielschreiber Jean-Paul Sartre empfahl dem angehenden Schreiber, erst einmal hundert Bücher zu lesen. Lire, écrire: Das sind die beiden Teile seiner Modellautobiografie «Die Wörter». Cynthia Ozick führte diesen Rat ad absurdum, indem sie sich ein Jahrzehnt freinahm, um zu lesen. Erst dann fing sie mit dem Schreiben an. Schriftsteller, das kann ich jetzt schon verraten, sind nicht nur arme Poeten, sondern manchmal durchaus privilegierte Zeitgenossinnen. Doch es hat funktioniert: Ozick gehört nun zum Kanon moderner amerikanischer Literatur.

Habe ich es also falsch gemacht, zu früh und in der verkehrten Reihenfolge angefangen? Erst lesen, dann schreiben? Ich will schreiben, wollte es schon immer. Weshalb? Aus demselben Grund atme ich: um zu leben. Es ist die sinnvollste, zufriedenstellendste, aufregendste Tätigkeit, die ich mir denken kann. Gerne möchte ich bei dieser Gelegenheit Flauberts Diktum «Ich schreibe, um mich zu lesen» für mich in Ich lese, um mich zu schreiben umwandeln. Flaubert lebte in einem Ich-Kurzschluss. Was seine Bücher angeht, ist das ja nicht schiefgegangen, doch ist es un­­ge­sund. Madame Bovary, c’est lui.

Vielleicht müssen Schriftsteller Narzisstinnen sein, und bestimmt ist es dann besser, sie schreiben und gehen nicht in die Politik. Doch auch ich gehe vom anderen aus, um so – vielleicht – zu mir zu kommen. Das ist dann irgendwie antiautobiografisch. Vor allem ist es abenteuerlicher, was mir ein triftiger Schreibgrund ist. Ob es gesünder ist, bin ich mir nicht sicher. Vielleicht schreibe ich ja auch nur, um ein besserer Leser zu werden. Ja, das klingt verlockend: Ich schreibe mich zum wahren Lesen hin.

 

«Lesenschreiben», «Schreibenlesen»: jeweils in einem Wort, ohne Trennstrich, das sind für mich die schönsten Tätigkeitswörter. Laut Duden bedeutet «Lesenschreiben» [mhd. lesen, ahd. lesan, urspr. = zusammentragen, sammeln + mhd. schrîben, ahd. scrîban ‹ lat. scribere = schreiben, eigtl. = mit dem Griffel einritzen], also: Zu­­sam­men­getragenes mit dem Griffel einritzen. «Schreibenlesen» bedeutet demgemäß: Mit dem Griffel Eingeritztes zusammentragen.

Und jetzt habe ich schon so viel vorgetragen, dass es nicht mehr ins Gewicht fällt, was zuerst war, der Schreibhahn oder das Leseei. Solange ich nur beides habe.

Das, liebes Publikum, unsichtbar zu Hause und, hof­fent­lich nicht weniger sicher, sichtbar im Hause, ist schelmisches Erzählen.

Und richtig, das Wort «Lesenschreiben» steht nicht im Duden. Noch nicht.

Aber es ist wahr: Es spielt keine Rolle, was zuerst war. Wür­de es das, wäre es in meinem Fall ohnehin längst zu spät. Habe ich, sagen wir, mit drei – Wunderkind! – mit dem Schreiben angefangen, darf ich nun auf ein vierundfünfzigjähriges Schriftstellerdasein zurückblicken, was mich genauso erfreut wie erschreckt.

Mein erstes Buch veröffentlichte ich mit zehn Jahren, ein stattliches Hardcover mit farbigen Zeichnungen in einer Gesamtauflage von einem Exemplar, gebunden von G. Fischer (nicht zu verwechseln mit S. Fischer, dem Verlag), veranlasst von meinem Vater. Ich zähle es noch heute zu meinen wertvollsten Schätzen.

Ich bin froh, dass es mit dem Schreiben gleich losging, machte ich mir doch als Knirps nicht allzu viele oder präziser: keine Gedanken darüber. Ich tat es einfach. Ich bin ein Drauflosschreiber – wieder Dürrenmatt, der sich so bezeichnete –, einer, der schreibt, um zu sehen, was dabei herauskommt, ein abenteuerlicher Schreiber also, denn was dabei herauskommen kann, ist immer auch ein gescheiterter Text. Immer aber ist es ein Abenteuer, weshalb das Scheitern nicht so schlimm ist. Außerdem gehört das zum Geschäft. Was wäre das Gelingen ohne das Scheitern? Darauf kommen wir noch.

Diese erfreuliche Ausgangslage des – wie soll ich sa­­gen? – Sich-erst-einmal-keine-Gedanken-Machens hat sich schon in meinen ersten Roman «Gulp» eingeschlichen, in welchem ein Zwölfjähriger aus Versehen das Werk eines Goethe nicht unähnlichen Dichterfürsten verfasst: Tatsäch­lich stellte sich mir die Frage, ob ich schreiben sollte oder nicht, nie. Ich tat es einfach. Noch litt ich nicht unter der Last der Kenntnis der Weltliteratur … Ich war unschuldig und unbeeinflusst.

Natürlich sollten Schriftsteller das niemals zugeben. Sie tragen die Last der Welt und wissen es. Sie haben ernst dreinzublicken und Denkfalten zu haben. Immerhin habe ich es zu Augenringen gebracht, das aber liegt an einer Augenkondition. Ich habe den Augenarzt gefragt, ob ich vielleicht zu viel denken würde, der aber hat nur bedauernd den Kopf geschüttelt: Es sei genetisch.

Ist mein Schreiben genetisch? Meine Mutter hat zwar am selben Tag wie Shakespeare und Nabokov Geburtstag, doch von ihr habe ich die Schreiblust nicht. Von meinem Vater, der am selben Tag wie Hitler Geburtstag hat, was ich nie gegen ihn verwendet habe, schrieb ich schon in meinem ersten Roman, dass ich von ihm immerhin seine bizarre Fabulierlust geerbt habe. Fabuliert hat er, mein Vater, mit rabelaisscher Lust, aber nie schriftlich und schon gar nicht druckreif – es sind vom ihm nicht einmal Postkarten überliefert.

«Gulp» ist also weniger autobiografisch oder antiautobiografisch als vielmehr mein erster ernsthafter, in Buchform (und respektabler Auflage) erschienener Versuch, mich in die Richtung einer fiktionalen Wahrheit hinzuschreiben. Oder weiterzuschreiben, aus einer wirklichen Figur – mir! – eine zu machen, die auch in der Fiktion le­­ben kann. Denn (auch) darum geht es doch beim Schreiben – andere sein zu können. Daher kann ich es jetzt ja zugeben: Gulp, ce n’est pas moi!

Aber eben, damals, mit zwanzig, als ich mein erstes Buch schrieb, habe ich mir keine solchen Gedanken gemacht. Ja, ich gebe zu, ich mache mir solche Gedanken erst, seit ich eingeladen worden bin, diese Vorlesungen zu halten. Damals tat ich es einfach, schrieb vor mich hin, und dabei ist es geblieben und wird es hoffentlich auch in Zukunft bleiben, obwohl ich mir jetzt dazu Gedanken gemacht habe. Hoffentlich muss ich das nicht bereuen.

Die Dachstöcke

Ich tat es – das Schreiben – zuerst ganz oben im zweiten Stockwerk unseres zweistöckigen Dachstocks. Dort oben gab es zwei kleine Türen, die in den düsteren, mit Ge­­rüm­pel vollgestellten Korridor zwischen der Dachschräge und der Wand führten. Auf halbem Weg gelangte ich zu einem stets schmutzigen Fenster. Das Licht, das hereindrang, machte meine Heftseiten hell, aber eben auch schmutzig, also schon ein bisschen lebendig und nicht mehr so leer. Dort ganz oben vermutete mich niemand, dort konnte ich mir vorstellen, dass es mich nicht gab, aber viele andere – und viel anderes –, mit anderen Worten: Dort konnte ich schreiben.

Jener «wahre» Dachstock kommt in irgendeiner Form in jedem meiner Bücher vor. Der erste literarische entstand gleich auf den ersten Seiten meines ersten Romans. Eben kein autobiografischer, sondern eine «aberwitzig verschachtelte Burleske, eine federleichte, spielerische Satire», wie die «Weltwoche» fand, als sie noch kein patholo­gisches Hetzblatt war. Durch diesen Wolf habe ich etliche Elemente meiner damals noch sehr jungen Ge­­schichte gedreht.

Was es dort oben in jenem Fantasieland unter der Dachschräge nicht alles gab! Mein Vater hat – doch halt!, ich möchte das alles nicht noch einmal aufzählen. Es reicht und reicht dann doch wieder nicht – ich lasse mich überraschen. Man glaube mir, es war ein surreales Paradies und ich mittendrin. So etwas hinterlässt Spuren, und so bin ich dann auch ein literarischer Fährtenleser geworden. Aus diesem Dachstock bin ich nie herausgekommen. Ich wollte es auch nie. Er ist in mir. C’est moi. Er ist die Quelle meiner Vorstellungskraft, die mit zunehmendem Alter immer ungeduldiger sprudelt. Wenn Sie mich anschließend fragen werden, wo denn meine Ideen herkämen – ich sage es Ihnen jetzt schon: aus dem Dachstock. Denn das war er, dieser mythische Dachstock, und ist es für mich immer noch, ein Ideenorakel, auch wenn er nicht mehr existiert.

Dort oben wird in meinem ersten Roman der Vater erst zum spleenigen Bibliothekar, dann zwar nicht zum Leser – o nein! –, doch immerhin zum radikalen Buchgestalter. Der unerschrockene Nichtleser studiert die englischen Labyrinthe, verwandelt seine Bibliothek in eines. Um sicherzustellen, dass wirklich keiner aus dem Labyrinth herauskam, verriegelte der Vater die Ausgangstür kurzerhand. Ein Trickster war auch diese Figur. Hier eine Stelle aus «Gulp» von 1988:

Natürlich war es [Vaters] größtes Vergnügen, jedermann in seine Bibliothek [im Dachstock] zu führen, und kaum einer unserer Gäste hat nicht wenigstens einige Stunden darin verbracht. Hatte sich wieder einmal jemand zu uns nach Hause gewagt, wurde er erst mit einigen raffinierten Cocktails und Aperitifs verwöhnt. Vater brachte dann gewöhnlich das Gespräch auf die Literatur, wobei er damit rechnen durfte, dass ihn sein Gast früher oder später auf die Bibliothek ansprach. Sie war mittlerweile berühmt geworden: Die Leute kamen von weit her, um sich darin zu verirren.

Vielleicht, weil ich bereits das Gewicht dieses Dachstocks gespürt hatte und man sich auch vor einer allzu sprudelnden Fantasiequelle in Acht nehmen muss, ließ ich ihn in meinem ersten Roman mitsamt dem Haus und dem Vater abbrennen. Es hat nicht geholfen. Bereits in «Ich hätte das Land gern flach» war er wieder da, wenn auch auf nicht gleich erkennbare Weise: der Dachstock wiedergeboren als altes Bündner Chalet, mitsamt einer penetrant dominierenden Vaterfigur. Also konnte – oder musste – ich ihn wieder aus der Asche aufsteigen lassen. Das Chalet allerdings überlebte nicht – es wurde ein frühes Opfer der Kli­maveränderung: von einer Steinlawine verschüttet –, die Vaterfigur aber kam diesmal davon. Diese Stelle stammt aus «Ich hätte das Land gern flach» von 1996:

O Gott, dröhnte mein Kopf! Ich zog mich zurück, drang ins Haus ein, das mir jetzt neu und unerforscht vorkam, stolperte über die Kunstobjekte, die Vater damals baute, öffnete Türen zu Räumen, die sich als Schränke entpuppten, stand vor Weinregalen, vor Bücherstapeln, landete in einer in den Fels geschlagenen Höhle, in der sich Maschinenteile, halbe Fahrräder, ein Lastwagenmotor befanden – es war die ehemalige Garage. Der Geruch von Öl und Fett stieg in mir hoch, Pneus, Farbtöpfe, Veloräder, alte Skier, auf Wanderungen gesammelte Wurzelstöcke, Bachsteine, verformte Äste lagen durcheinander. Ich stand wieder im Freien, auf der anderen Seite des Chalets.

Mir war speiübel. Später begriff ich, dass ich nicht das Haus, sondern meinen ersten Suff erforschte.

Etwas nüchterner mein Umgang mit dem geliebten Dachstock in «Der beste Tänzer». Nüchterner auch, weil es ihn nur noch in meiner Erinnerung gab. Auch wenn unser Haus nach wie vor steht, unter dem magischen Dach befindet sich nun eine luftige Maisonette, in der ein meinen Erinnerungen freundlich gesinnter Professor der Universität St. Gallen wohnt. Überhaupt wohnen dort fast immer Professoren, von denen es zwei zum Rektor ge­­bracht haben und zwei andere Freunde geworden sind. Diesem Umstand aber ist nicht zu verdanken, dass ich jetzt diese Vorlesungen halten darf – ich habe mich erkundigt. Sie meinten, es müsse etwas mit meinen Büchern zu tun haben. Hier aus «Der beste Tänzer» von 2003:

Meine Einrichtung [ganz oben im Dachstock] bestand aus einem mottenzerfressenen Kissen, ein paar antiken Fledermaushäufchen, Zwetschgen-, Pflaumen- und Pfirsichkernen und einem längst verschrumpelten Apfel. Nicht einmal meine Sommerliebe Nora wusste [von meinem Versteck]. Nicht einmal einen Bleistift brachte ich hierher und auch kein Heft für meine Geschichten. Als ich sechs war, konnte ich hier noch aufrecht stehen, mit neun stieß ich mit dem Kopf gegen die Decke, die Balken, das Dach. Ich kauerte in meinem Geheimzimmerchen, das nicht viel größer als die Kommode in meinem Schlafzimmer war, auf einem staubigen Kissen, über mir der Schutz des Lakendaches, und träumte von den Geschichten, die mich reisen ließen, wohin ich nur wollte. Gab es überhaupt einen Unterschied zwischen wirklichen Reisen und erträumten? Prasselte Regen auf die Schindeln, wurde auch mein Held in Amerika nass.

Später, wieder unten, wenn meine Mutter […] in die Kirche gegangen war, schrieb ich die Geschichten auf.

Ist Erinnerung wirklich nüchterner, nicht vielmehr auch ein Rausch und gar ein durchaus gefährlicher? Hier ist der Beweis: Erinnerungen sind falsch. Ich kann mich nicht auf sie verlassen. Eben noch habe ich, knapp siebenundfünf­zig, mich daran erinnert, wie ich, sechs, dort oben schrieb. Gelogen! Den Beweis, den ich, achtunddreißig, festge­halten und, mir vertrauend, veröffentlichte, habe ich eben vorgetragen. Tatsache ist (scheint zu sein), dass ich dort oben meine Geschichten erträumt, sie dann aber unten aufgeschrieben habe. Überführt, abführen!

Schlimmer noch: Die Erinnerung an jene Stelle im Buch ist auch versickert. Die bemühte schmutzige Fensterscheibe, die das leere Blatt nicht so leer aussehen ließ, ist nicht frühreife Metapher für das Schreiben, sondern lediglich eine schmutzige Fensterscheibe. Jenen Stellenwert habe ich ihr später gegeben. Gut für einen Roman, falsch für Memoiren. Das Urteil kann nicht überraschen: Schreib Fiktion!

Da hilft auch alles Recherchieren nicht. Im Gegenteil. Wer glaubt, seinem eigenen Leben so auf die Spur zu kommen, der, nun, ist ein Romanschriftsteller. Dokumente aufspüren und dann wahre Erinnerungen daraus basteln? Zeitzeuginnen befragen? Bringen Sie mich nicht zum Lachen. Die wohl beste Zeugin meiner Kindheit, meine Mutter, hat mich eines Besseren belehrt. Ich beschreibe etwas, das sie immer wieder erzählt hat, liebevoll in «Der beste Tänzer», doch als sie mich daraus jene Stelle vorlesen hörte, sagte sie: Aber Junge, das ist nicht uns passiert, sondern Freunden. Überführt, abführen!

Dabei ist es durchaus möglich, dass meine Mutter sich nach jener Lesung getäuscht, sich die Szene in meinem Erinnerungsroman also durchaus in unserer Familie er­­eignet hat. Wenn auch wiederum nicht genauso, habe ich sie doch dadurch, dass ich sie niedergeschrieben habe, geformt, also verfälscht. Der Fiktion übergeben ist sie der Erinnerung entronnen.

 

Da haben wir es wieder: Die Erinnerung ist eine Falle. Wer das nicht weiß, schreibt schlechte Memoiren. Wer es weiß, hat etwas Grundlegendes über das Romaneschreiben begriffen. Im Roman «Das Steinauge» fragt sich Philip, der Protagonist, ob er denn letztlich sein eigenes Leben, nicht jenes seines früh verunfallten Jugendfreundes gelebt habe. Ein Extremfall, ganz klar, gar ein klinischer Fall, so wie der Roman eine extreme Versuchsanordnung ist.

Philip, ein Schauspieler, verkriecht sich in dem Haus, in dem sein verstorbener Freund aufgewachsen ist und in dem er selber seine halbe Jugend verbracht hat. Das Haus stattet er mit Lautsprechern aus, wie minimalistische Skulpturen hängen sie überall. Kontrolliert werden sie – natürlich – vom Dachstock aus. Dorthin zieht sich Philip zurück, um seine Erinnerungen in das Intercom zu sprechen. Lili, die einen Film über Philip dreht, hört ihm in ihrem Zimmer zu, aber auch dem Haus entgeht kein Wort. Er­­in­ne­run­gen, wahr oder falsch, die den Gegenständen gewidmet sind, die sie einst ausgelöst haben und jetzt wieder auslösen. Aus «Das Steinauge» von 2016:

– schon stand ich vor der Tür, die in den Dachstock führte, und zog den schweren Vorhang weg, hinter dem sich ein Stich verbarg, der unsere Stadt im 16. Jahrhundert zeigte – man musste nahe heran, um die alte Klosteranlage zu studieren – und um dabei gar nicht erst auf die Idee zu kommen, dass sich hinter diesem gelüfteten Geheimnis das eigentliche Geheimnis verbergen könnte – ein labyrinthischer, paradiesisch verspielter dreistöckiger Dachboden, von dem man in der Stadt schon Gerüchte gehört haben mochte und der sich einem hier lediglich mit einem leichten Druck gegen die Mitte des Stiches eröffnet hätte – eben dort, wo sich das Klosterareal befand – schon wandte sich der Besucher, dessen oberflächliche Neugier befriedigt war, ab, ohne den eigentlichen Schatz zutage gefördert zu haben – ein heftiger Wind blies mir entgegen, denn mit dieser klinkenlosen Tür öffnete man auch den Windkanal des Hauses – es wehte so heftig, dass ich mich gegen den zunehmenden Druck an­stemmen musste, der Wind fuhr mir durch die Haare, raste durchs Haus – in fernen Zimmern knallten Türen zu – vom Küchentisch flatterten die Zeitungen, manchmal bimmelte sogar die ­Hausglocke, die, längst durch eine elektrische ersetzt, nur noch zur Zierde neben der Haustür hing – es fielen Vasen – es schepperte und bebte – es lebte das Haus – und niemand konnte den Dachstock heimlich betreten oder verlassen –

Hier also ist aus dem realen zweistöckigen Dachstock meiner Kindheit ein erfundener dreistöckiger geworden. Zwei- oder dreistöckig: Das ist der gemessene Unterschied zwischen Realität und Fiktion. Wahrer ist die Fiktion, um mindestens ein Stockwerk.

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