Der Boden unter den Füssen

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Der Boden unter den Füssen
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Über dieses Buch

Lion, dem fast schon legendären Brückenbauer, ist eine Brücke eingestürzt. Das hat zwölf Leben gekostet, und auch wenn ihn keiner anklagt, einfach weitermachen will er nicht. Lieber unternimmt er aus­gedehnte Wanderungen in seinem Garten, auf dass er sich selbst und auch unserer ­geschundenen Welt auf die Spur komme.

Und siehe, immer öfter erscheinen Menschen im Garten. Gleich zu Beginn ist da Andri, der schlitzohrige Nachbarjunge, der verkündet, seine Mutter sei verschwunden. Wo denn? Im Garten natürlich. Was aber will der Junge wirklich? Nun, Lion, immer schon ein bisschen in Andris Mutter verknallt, macht sich auf die Suche im Garten – und wundert sich schon bald nicht mehr, dass dieser mit jedem seiner Schritte größer wird. Sogar dann, wenn er mit seiner Partnerin und Ökobestsel­ler­autorin am Gartentisch Wein trinkt. Dabei gerät auch die Zeit immer mehr aus den ­Fugen und saugt Lion hinein in das wahre Wesen und das Wunder der Natur. Bis er glaubt, den Boden unter den Füßen wiedergefunden zu haben.

Poetisch und frech zugleich, witzig und elegant entwirft «Der Boden unter den Füßen» nicht eine weitere Dystopie, sondern erzählt von einer Utopie, die Natur und Mensch wieder vereint. Alles wird gut. Ganz sicher.


Fotografie Ayşe Yavaş

Christoph Keller, 1963 in St. Gallen ­geboren, ist Autor zahlreicher preisgekrönter Romane, unter anderen «Gulp», «Ich hätte das Land gern flach» und «Der Beste Tänzer» über sein Leben mit der progressiven Muskelerkrankung Spinale Muskelatrophie. Zuletzt gab er auf Englisch die Anthologien «We’re On: A June Jordan Reader» (mit Jan Heller Levi), «Hip Hops: Poems about Beer» und «Russian Stories» heraus. Im Limmat Verlag ist «Der Stand der letzten Dinge» (gemeinsam mit Heinrich Kuhn) lieferbar. Christoph Keller lebt in St. Gallen.

Christoph Keller

Der Boden unter den Füßen

Eine Fantasie

Limmat Verlag

Zürich

Für Roman, Aleksandra & Ahmed

Niemand weiß, wo der Osten endet.

Jetzt, da alles gut wird, erscheinen die Menschen immer öfter im Garten. Sie tragen zu meiner Zerstreuung bei, und ständig erfahre ich etwas über die Welt.

Tatsächlich steht vor dem Holunder ein etwa neunjähriger Junge. Mir kommt er bekannt vor, doch genauso wahrscheinlich ist, dass ich ihn noch nie gesehen habe. Er steht vor dem Baum wie einer, der seinen Körper nicht begreift. Obwohl es dafür schon zu kühl ist, trägt er kurze Hosen und Sandalen. Immerhin hat er eine Mütze auf. Eine dunkelblaue Wollmütze. Man soll den Kopf warm behalten, das heizt den ganzen Körper. In seiner linken Armbeuge hält er einen roten Luftballon so fest gepresst, dass er bestimmt gleich platzen wird.

Der Holunder, auf den der Junge zeigt, ist in der Tat eine erstaunliche Pflanze. Nebeneinander wachsen drei Stämme aus dem Boden, erst kaum einen Fingerbreit voneinander, dann fächern sie aus. Es folgen zahlreiche armdicke Stammfortsätze, die in hölzerne Handgelenke münden, aus denen wiederum fingerdünne Äste sprießen. Das alles wird bis fast in die Krone von Efeu umrankt, als sei ein Künstler mit seinem Werk nicht zufrieden gewesen und habe Verbesserungen angebracht. Der Baum hat tatsächlich etwas Skulpturales, obwohl es gleichzeitig nichts Natürlicheres gibt als einen Baum, der wächst, wie es am besten für ihn ist. Irgendwo (ich ziehe oft auf der Suche nach Gartenideen durchs Internet) habe ich gelesen, mehrstämmige Bäume lägen wieder «voll im Trend»: Zwillinge oder, in der Baumsprache, Zwiesel, Drillinge beziehungsweise mehrgipflige Zwiesel wie mein Holunder.

Der Junge, der mittlerweile seinen Ballon fallen gelassen hat und ihn nun überraschend sanft mit seinem rechten Fuß im Gras hält, kann sich nicht entscheiden, auf welchen der Stämme er zeigen soll, fährt also mit seinem spindeligen Arm ständig zwischen ihnen hin und her. Es ist eine hektische Bewegung, die mich jedoch nicht nervös macht, eher hypnotisiert, teile ich doch seine Begeis­te­rung. Der Junge aber wird unruhiger. Bestimmt fragt er sich, was es mit dem rätselhaften Baum auf sich hat. Ho­lunder erwecken den Eindruck, es gebe einen Grund, weshalb sie stehen, wo sie eben stehen, weshalb sie auch wachsen sollten, wie sie eben wachsen, unabhängig vom jeweiligen Baumtrend.

Mir kommt vor, als sei der Baum schon immer hier gewesen, kann mich aber nicht erinnern, ob ich ihn vom Vorbesitzer des Gartens übernommen oder nicht doch selbst gepflanzt habe. Erst kürzlich haben Sarhat und ich ihn aus dem Hasel, der ihn bis zur Krone hinauf zugewachsen hat, freigeschnitten. Es war eine Zeremonie, die Haseläste fielen widerstandslos wie einsichtige Feinde. Holunder sind Grenzbäume. Dieser steht an der nördlichen Grenzlinie des Gartens. Holunder sind Schutzbäume. Sie warnen uns vor Eindringlingen, schützen uns notfalls vor ihnen. Der Junge scheint sich hier sicher zu fühlen.

Ich wusste nicht einmal mehr, dass dieser Holunder hier wächst, sage ich. Es ist nicht meine Gewohnheit, mit einem Eindringling das Gespräch zu suchen.

Aber es ist doch dein Garten, sagt der Junge. Seine Stimme klingt hell wie Vogelgezwitscher.

Ich habe mich so an ihn gewöhnt, dass ich immer we­niger sehe, was mich umgibt. Schau, wie dicht der Hasel links und rechts steht.

Zu dicht, zwitschert er vorlaut.

Erinnerst du dich an den Wintersturm, den wir Ende April hatten?

Dieses Jahr?

Ja.

Nein. Der Junge schüttelt den Kopf.

Etwas stimmt hier nicht. Er verbirgt etwas.

Bist du nicht schlitteln gegangen?

Er antwortet nicht.

Keinen Schneemann gebaut? Deshalb weiß ich jetzt wieder, dass ich diesen Holunder im Garten habe, fahre ich fort.

Wegen des Schneesturms?

Ich nicke. Der Sturm tobte zwei Tage lang. Zwei Tage lang fiel ununterbrochen Schnee. Bist du sicher, dass du dich nicht erinnerst?

Natürlich.

Es schneite, bis mein alter Holunder unter der Last zusammenbrach. Es war nasser, schwerer Schnee.

Ich zeige in die Richtung der oberen Straße. Der gefällte Baum befand sich auch an der Nordgrenze, doch freistehend, auf abschüssigem Gelände gleich neben dem Gehweg, der am Schlafzimmer vorbeiführt und den wir auch benutzen, um zur Straße zu gelangen. Ein gutes Stück des Stamms liegt noch da, schau.

Der Junge schaut nicht.

Ich rede weiter. Wir haben nur jene Teile des Holunders entfernt, die in den Nachbargarten gestürzt sind. Ich wollte ihm diese Ehre erweisen, ihn so etwas besänftigen. Das Gewicht des Schnees hat ihn gebrochen und entwurzelt, und dennoch wachsen immer neue Äste aus ihm heraus. Auch die anderer Bäume. Eine Esche zum Beispiel. Siehst du? Und da ist ein Ahornast.

Der Junge schaut immer noch nicht.

Sarhat begreift das nicht, fahre ich fort. Er hätte den ganzen Stamm entsorgt. Weg damit. Er ist für mehr Ordnung als ich, der ich hier aufgewachsen bin. Dabei steckt noch so viel Leben in ihm.

In Sarhat?

Im Stamm.

Der Junge nickt. Und sagt: Du hast einfach zugeschaut, wie es den Baum vollgeschneit hat, bis er brach.

Von der oberen Straße – nirgendwo von der unteren – kann man in den Garten eindringen, vorausgesetzt, man weiß, wo sich die Lücken in der Buchenhecke befinden, und vorausgesetzt, man nimmt Kratzer in Kauf. Der Junge weist keine auf, nicht einmal an den nackten Unterschenkeln. Wie auch hätte er seinen Ballon heil durch die Hecke gebracht? Es gab hier einmal ein Gartentörchen. Das heißt, es gibt es immer noch, doch habe ich es wie den dreistämmigen Holunder zuwachsen lassen. Irgendwo versteckt es sich im Buchendickicht, bildet innerhalb des Gehölzes, um das ich mich auch kümmern sollte, eine weitere verborgene Skulptur. Gewachsenes Holz, bearbeitetes Holz. Gerne wüsste ich jetzt, aus was für einem Holz das Törchen ge­macht ist.

Am besten ist es, den Garten durch das Haus zu betreten. Die Glastür im Eingang öffnet ins Freie, zwei weitere Türen finden sich in der Souterrainwohnung, die derzeit allerdings vermietet ist, sodass mir dieser Zugang nicht zur Verfügung steht. Diese Wohnung haben wir vor fünf Monaten an einen mürrischen, trolligen Kerl vermietet, der einmal Geodät gewesen sein will. Cora glaubt ihm, ich nicht. Sobald man an nichts denkt, spukt er herum, kündigt sich aber immerhin mit seinem Raucherhusten an, der mein Haus und seinen Körper wie trockener Donner schüttelt. Im Garten, in dem der Troll sich selten blicken lässt, verweht das verstörende Geräusch schneller als Rauch. Alles aber hinterlässt Spuren, Rauch beißenden Geruch, das Husten akustische Wellen im Trommelfell. Ich schätze sein Alter auf Mitte siebzig, Cora auf fünfzig.

So alt, wie er ist, lachte sie, nachdem wir ihn (auf ihr Drängen) endlich als Mieter akzeptierten, müsste sein Beruf noch Landvermesser heißen. Geodät klingt lächerlich wie ein Hilferuf. Jemand aber, der die Erde vermisst? So, wie es Cora sagte, hat es einen beruhigenden Nachklang.

Der Holunder (zurück zum Holunder) stand nicht zur Straße hin, sondern auf der Grenze zu unserem südöstlichen Nachbarn. Dort klafft nun eine vom Hasel zuvor fast zugewachsene Öffnung. Hasel ist schnell wie Unkraut, war aber in diesem Fall nicht schnell genug. Beide, der Junge und ich, schauen durch die Lücke, die der späte Freakwintersturm geschaffen hat. Wir sehen die weiß geschindelte Fassade des Nachbarhauses, die, schaue ich lange genug, wegen der dicken, schwarzen Fugen, welche die Schindeln zusammenhalten, zu flirren anfängt. Eines Tages werde ich länger schauen, so lange, bis sich eine Schindel um die an­dere von der Fassade löst und davonflattert wie ein Spatz, aufgescheucht von meinem Blick.

 

Im Nachbarhaus wohnt die Wirtswitwe, die sich seit dem Tod ihres Ehemanns und dem daraus folgenden Verlust ihres Restaurants weitgehend zurückgezogen hat. Manchmal erspähe ich sie hinter einem verschlossenen Fenster, und immer, wenn sie sich ertappt fühlt, reißt sie es auf und ruft mir etwas zu. Das unterscheidet sie wohltuend von jenen, die mich heimlich beobachten und sich auch dann nicht zurückziehen, wenn sie entdeckt sind.

Der Wirt war kein Verlust. Die Witwe bestätigt das, am liebsten bei einem Glas Wein. Ich lerne sie nun durch das entstandene Loch im Hasel besser kennen. Sie ist laut, ihre Sprache rüpelhaft, doch von zärtlicher Ehrlichkeit. Verlangt barsch durch die neue Grenzlücke von mir, meinen Kirschbaum zurückzuschneiden, er stehle ihr Sonne und damit manchen guten Augenblick, von denen sie nun wirklich nicht viele habe. Ich aber brauche nur bestimmt Nein zu sagen, schon zieht sie ihr Anliegen zurück. In Sachen Kirschbaum habe ich das auch getan, ihn beschützt, zumal mir die Vorstellung eines Kirschbaums als Sonnendieb gefällt.

Ihr Mann war weit grobschlächtiger als sie, seine Sprache ebenfalls rüpelhaft, jedoch frei von Zärtlichkeit. Ein wüster Säufer. Er kam, berufsbedingt, nach drei Uhr nachts nach Hause und knallte seine Autotür zu. Jedes Mal. Wie leise das auch zu bewerkstelligen war, hatte je­weils seine Frau vorgemacht, ihr leises Autotürenschließen ein vorwurfsvolles Echo des seinen. Nun hat sie mir schon mehrfach gestanden, wie peinlich ihr das Verhalten ihres Mannes gewesen sei, doch habe sie nichts ausrichten können, auf nichts habe er gehört, am wenigsten auf sie. Darauf (nach dem Autotürenzuknallen) steckte er sich eine Zigarette an, vielleicht als Triumphgeste.

Das war das Übelste an dieser sich nächtlich wiederholenden Geschichte, seine ihm nicht auszurottende Ge­wohnheit, vor seiner Haustür, egal bei welcher Witterung, noch eine zu rauchen. Mit dem Rauchen stieg das Gebrüll in ihm hoch. Sogleich schrie er los, manchmal schrie er seine Frau an, manchmal schrie er nur. Es ging immer um gewaltige Ungerechtigkeiten, die ihm angetan wurden. Der Staat mit seinen Auflagen, seine Gäste mit ihren Wünschen, seine Frau, die mit nichts zufrieden war. Jetzt war sie zumindest zufriedener, allein, ein bisschen einsam, ein bisschen verloren, doch, sagte sie mir einmal, selbst schon ein bisschen angeheitert von dem Wein, den ich mit ihr trank, zurückwünschen täte sie sich den Armin nicht. Sie heißt Ida. Ida Walser.

Ja, es ist wahr, ich habe zugeschaut, wie der Schnee den Baum allmählich geknickt hat, fahre ich fort und versuche, den Jungen mit meinem Blick zu durchdringen. Es hörte an jenen beiden späten Apriltagen des Jahres 2019 nicht mehr auf zu schneien. Fünfundsiebzig Zentimeter fielen. Das war zu viel für unseren armen Freund. Mir brach es fast das Herz, und als der Holunder dann eben brach, glaubte ich, ihn aufstöhnen zu hören. Dieser Baum hat mich beschützt, ich aber habe mich nicht um ihn gekümmert. Immerhin habe ich ihn nicht vergessen wie diesen hier, den dreistämmigen. Aber vielleicht macht das die Sache ja noch schlimmer. Ja, du hast recht, sage ich, ich hätte nur hinausgehen und den Schnee von den Ästen dieser gefährdeten Kreatur schütteln müssen. Wer seinen Schutzbaum nicht schützt, dem ist nicht zu helfen. Holunder sind Hexenbäume, und Hexen rachsüchtig. Wusstest du, dass man aus Holunderholz Hexenbesen macht? Holunder ist das flugtüchtigste Holz. Als ich Sarhat davon erzählte, hat er gelacht. Du hast doch noch andere Holunder. Sie sind überall im Garten.

Wer ist Sarhat?, fragt der Junge.

Ein Freund. Er hilft mir im Garten.

Ein Gärtner?

Das auch, sage ich. Ich bezahle ihn für seine Arbeit.

Dann ist er kein Freund, sagt der Junge.

Weshalb sagst du das?

Er zuckt mit den Achseln. Freunde bezahlt man nicht. Das sagt meine Mutter.

Manchmal reden wir auch nur, sage ich. Wir trinken Bier zusammen. Dann ist Sarhat mein Freund. Bier schmiedet Freundschaften. Auch wenn ich seine Zeit bezahle. Und das Bier. Aber er ist viel mehr wert als das, was ich ihm be­zahle. So ist er zum Freund geworden. Vor allem, seit Sarhat angefangen hat, mir die anderen Holunder zu zeigen. Sobald er wieder einen entdeckt, kommt er angerannt, will, dass ich ihn mir sofort anschaue. Auch diesen dreistämmigen hier, den wir gemeinsam aus den Stauden geschnitten haben, hat er mir gezeigt. Es war gespenstisch, wie er vor unseren Augen aus dem Hasel enstanden ist. Und wunderbar. Bis es die drei Stämme waren, die du nun sehen kannst. Was für ein Dickicht das war, so viel totes Holz hing da drin, das kannst du dir gar nicht vorstellen.

Ich habe meine Eltern verloren, sagt der Junge.

Was? Hier?

Das weiß ich natürlich nicht.

Ich schaue mich dennoch um. Der Garten ist heute größer als üblich. Das mag daran liegen, dass in den vergangenen Tagen ungewöhnlich viele Blätter gefallen sind und die Bäume mehr Sicht freigeben. Es ist November, die Luft ist kühl, das Licht trügerisch klar. Auf der Südseite sind die Berge zu sehen. Deren Spitzen sind mit Schnee bedeckt. Dennoch streben die Wälder geradewegs auf diese Spitzen zu.

Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?

Heute Morgen.

Dann sind sie vielleicht lediglich zur Arbeit gegangen, und alles, was du tun musst, ist warten. Etwas Geduld haben.

Er geht nicht darauf ein.

Wo hast du sie das letzte Mal gesehen?

Der Junge zeigt am Holunder vorbei auf die Anhöhe, hinter der sich die obere Straße befindet. Wir beide schauen auf die Buchenhecke. Dass sich darin ein Gartentörchen verbirgt, weiß niemand, nicht einmal Cora. Dennoch stelle ich mir vor, dass der Junge es ahnt. Ich sehe ihn vor dem Törchen stehen. Es ist lange her, und er ist natürlich viel jünger. Er macht es auf, trotz des Widerstands der Hecke. Kurz steht das Törchen offen, dann schnappt es mit einem Knall, den wohl nur ich hören kann, wieder zu, und der Spuk ist vorbei. Dafür kann ich mich jetzt nicht daran erinnern, wie die Straße heißt. Die Straße, an der ich wohne? Das kann nicht sein. Auch dieser Zustand währt nicht lange. Schon kommt mir der Name wieder in den Sinn.

Auf der Straße hast du deine Eltern zum letzten Mal gesehen?

Der Junge nickt.

Und du meinst, sie sind im Garten?

Ich bin es, der ungeduldig wird.

Der Junge nickt erneut. Meine Mutter jedenfalls.

Heißt, sie ist sehr sportlich.

Ich weiß nicht, weshalb ich das sage. Man muss nicht sportlich sein, um durch die Hecke in den Garten einzudringen. Habe ich diese Bemerkung gemacht, weil ich an Corinna denke? Unsere Nachbarin, die in der Tat die Mutter des Jungen ist. Die ich mir wiederum, denke ich an sie, im weißen Tennistrikot durch unsere Hecke schlüpfend vorstelle? Dabei habe ich Corinna noch nie in einem weißen Tennistrikot oder überhaupt Tennis spielen gesehen. Ich habe sie überhaupt schon lange nicht mehr gesehen.

Meine Mutter füllt für andere Leute Papiere aus, sagt der Junge.

So kann man das sagen, sage ich.

Ich weiß jetzt, wer er ist. Hätte es gleich wissen können, als seine Mutter vor meinem inneren Auge im klischierten Tennistrikot erschienen ist. Wo sie sich langsam auflöst wie eine Erscheinung, die in zu viel Licht geraten ist. Corinna Bannwart-Spescha, eine Grenzbereichmil­len­ni­al, in den frühen Achtzigerjahren geboren (schätze ich), Partnerin in einer Anwaltskanzlei, Sitz im Großen Rat, Mutter, ein paar Häuser weiter nördlich wohnend, in Nummer 38. In die ich mich ein bisschen verknallt habe.

Und dein Vater?, frage ich.

Hockt am liebsten vor seinem Computer. Oder schläft.

Er hat noch immer keine neue Arbeit gefunden?

Ich weiß, dass Reto Bannwart für eine Sicherheitsfirma gearbeitet hat. Hat nachts Fabrikareale vor Mardern und Globalisierungsgegnern geschützt. Dabei ist er aufs Trinken gekommen. Was er am Computer macht, will ich nicht wissen.

Oder schläft, vor seinem Computer, sagt der Junge.

Etwas klingt daran falsch. Ich zögere. Ich kann nicht entscheiden, ob mir der Junge zu viel oder zu wenig sagt. Ob er überhaupt ein Junge ist. Wieder versuche ich, ihn mit meinem Blick zu durchdringen, um seinem Wesen auf die Spur zu kommen, wieder gelingt es mir nicht.

Ich habe deine Eltern nicht gesehen. Nicht hier, nicht sonst wo, sage ich trotzig.

Als wäre plötzlich ich der neunjährige Knirps, der seine Eltern sucht. Meine sind längst verstorben, die Mutter zuerst. Beide an Herzversagen. Woran sonst. Weil sie sich das Leben zu sehr zu Herzen genommen haben. Geblieben ist mir ein Bruder, zurzeit ein Problem, das ich aber für lösbar halte.

Wann habe ich Corinna das letzte Mal gesehen? Es war an einem frühen Abend. Ich stand am Küchenfenster, von wo aus ich ein gutes Stück der oberen Straße überblicken kann. Sie hat ihr drahtiges Nervenmuskelpaket von Labradoodle spazieren geführt. Vermochte ihm locker zu folgen, sportlich eben. Ich habe erwogen, meinerseits den beiden zu folgen, den Gedanken aber nicht in die Tat umgesetzt. Mich hat sie nicht gesehen. Sie hat nicht einmal zu mir hochgeschaut, aber genau auf meiner Höhe ohne Grund die Leine von der rechten in die linke Hand gewechselt. Mehr nicht, und es ist lange her. Hin und wieder ruft sie mich an, um sich meiner Existenz zu versichern, ich sie nie. Unser Business wickeln wir schriftlich ab, dafür umso leidenschaftlicher. Viel Elektronisches, lieber noch Briefe oder auch einmal eine handgeschriebene Notiz, von Corinnas Hand drei Häuser weit westlich ge­tragen und in meinem Briefkasten (nie in meine Hand) gelegt.

Mit Reto verbindet mich sonst nichts. Obwohl er es tut, hat er nichts von mir zu befürchten. Er ist mir so egal, dass ich mir nicht einmal wünsche, er trinke so viel, wie mir sein Sohn weismachen will. Dennoch erscheint er in meinem Kopf, teigig und träg, wie er nun einmal ist, trollig (auch er) und mit einer Stirnglatze, die er nun einmal hat. Er neigt zu heftigen Schweißausbrüchen, ich habe es im Garten einmal selbst miterleben müssen. Es war kühl, er saß im Schatten, sagte nichts, trank nichts, und doch quoll auf einmal Schweißwasser aus seinem Haaransatz hervor, rann seinen Hals hinunter in seine Kleidung, tropfte aber auch auf seine Schultern und Beine und goss so das Gras. Reto Bannwart, der lebende Rasensprenger.

Ich bezweifle, dass ich ihn auf der Straße erkennen würde. Er ist Corinnas einzige Lebensfehlentscheidung. Sie hätte mir früher begegnen sollen, was dann aber Cora verunmöglicht hätte. Ich liebe Cora über alles. Eine angenehmere Zwickmühle kann ich mir nicht vorstellen.

Habt ihr euren Hund noch?

Der Junge schüttelt den Kopf.

Das tut mir leid.

Sam ist auch in deinem Garten verschwunden. Auch Tiere gehen hier verloren.

Ich schüttle den Kopf.

Du irrst dich. Nichts geht hier verloren. Es ist genau umgekehrt. Im Garten tauchen die Menschen auf, wie du eben. Wie Gedanken. Tatsächlich kommt mir immer mehr in den Sinn.

Geh, sagt Andri (da!, da ist sein Name endlich!).

Geh, wiederholt er mit fester, nicht mehr vogelleichter Stimme. Du musst meine Eltern finden. Es ist dein Garten, also ist es deine Aufgabe. Ich weiß, wie du meiner Mutter hinterherschaust!, wirft er mir an den Kopf. Auch er ist in seine Mutter verknallt.

Ich werde mein Bestes tun, sage ich verunsichert. Was für ein seltsames Wesen dieser Andri ist. Ich unterdrücke den Wunsch, dem Neunjährigen einfach zu Füßen zu fallen. Ich, Lion, bin das seltsame Wesen.

Der Junge bückt sich nach seinem Luftballon, knetet ihn selbstvergessen, als wolle er ihn nun doch platzen lassen, lässt ihn dann aber los. Wir schauen ihm nach, wie er seine rote Spur in die größer werdende, weißblaue Leinwand des Horizonts legt.

Geh nicht auch noch verloren, sage ich.

Im fahl werdenden Sonnenlicht wirkt Andri transparent, als stehe er unter Wasser.

Fick dich, sagt er.

Was sagst du da?

Werd ich nicht, habe ich gesagt, zwitschert Andri und entfernt sich, ohne sich zu verabschieden.

Ich schaue ihm nach, die Windungen des Gartens nehmen ihn auf. Noch einmal taucht sein Kopf auf, noch einmal sehe ich den roten Ballon hoch am Himmel. Irgendwann wird Andri auf die Tür im hinteren Teil stoßen. Sie ist nie verriegelt.

Die Adda Valsömmi war eine simple Bogenbrücke, so häufig in unserem an entlegenen Tälern reichen Land anzutreffen, wie es in unseren Wildbächen einst Biberburgen waren. Nur drei Wochen nach der Eröffnung ist sie eingestürzt und hat neun Menschen «in den Tod gerissen», als sei sie eine Krake aus Beton und Stahl, die gerade noch packt, wen sie im Sturz zu packen kriegt, um beim Sterben nicht allein zu sein.

 

Neun Menschen in vier Autos. Ein rotes, zwei blaue, ein silbernes. Drei davon waren auf der Brücke, als sie kollabierte. Das vierte (das silberne), aus südlicher Richtung kommend, konnte nicht mehr rechtzeitig stoppen und fuhr in den plötzlichen Abgrund. Die vier Autos stürzten mit den neun Menschen, die sich in ihnen befanden, siebzig Meter in die Tiefe. Lisa, 9, Rita, 14, Jürgen, 22, Sigrid, 24, Giovanna, 37, Ricardo, 42, Slavo, 72, Olga, 77, Slawomir, 93. Ein Hund. Lisas Hund. Um sie herum fielen Betonbrocken und Stahlträger, rechts und links die vorzeitliche Kulisse von Felsen, Bäumen, Stauden, Bächen, vielleicht Gemsen und Murmeltieren, die all dem Stürzenden verwundert nachblickten, bevor sie mit verzögertem Schreck davonstoben. Ein absurdes Spektakel, in 3-D.

Rasch dann und heftig der Aufprall in der Sömmi. Die Wagen zerdrückt, die Insassen zerquetscht. Bäume, Felsen und Wasser blieben stumm. Drei dem ersten nachfallende Autos, das zweite auf das erste, das dritte auf das zweite und erste, das vierte in die Leere eines Felsens krachend. Bei solch physikalischem Wüten war an Überleben nicht zu denken.

Der Tod ist unrealistisch, dachte ich, als ich Fotos von der Katastrophe zu sehen bekam. Unnatürlich. Artifiziell. Ich dachte an eine Kunstinstallation, die plakativ und mit großem Aufwand dafür plädierte, es mögen Natur und Mensch behutsamer miteinander umgehen. Vielleicht würde es sich sogar der Tod anders überlegen. Vor allem aber dachte ich: Ja, Cora hat recht, wir bauen wirklich in alles die Zerstörung gleich mit ein.

Die Brücke brach in der Mitte auseinander, dort, wo die Belastung auf den Bogen das höchste Maß erreicht. Sie klappte in die Tiefe, öffnete sich nach unten, formte ein V und war weg. Der auch gleich einbrechende Bogen löste sich in seine Bestandteile auf, pfeilschnell folgten die Steher, es schlidderte die zweigeteilte Fahrbahn nach und löste sich noch im Sturz in ihre Fertigteile auf. Beiderseits dann hoch über der Sömmi die Straße, ausgefranst wie ein zerrissener Teppich aus Asphalt und Stahl. Am Ende ­fehlten der Brücke von ihren insgesamt zweiundsechzig Metern deren dreiundfünfzig.

Auf beiden Talseiten bremsten die nachfolgenden Fahrzeuge scharf. Die Fahrer gehorchten ihren Reflexen, der Unglaube kam danach. Es kam zu Auffahrunfällen, Blechschäden, Gehirnerschütterungen. Auf beiden Seiten leerte sich die Gegenfahrbahn sofort. Es wäre interessant herauszufinden, wer es als Letzter gerade noch über die einstürzende Brücke geschafft hatte. Niemand hielt an. Das deutet darauf hin, dass niemand bemerkte, was sich im Rückspiegel abspielte.

Während sich auf der einen Seite zwei kilometerlange Staus bildeten, leerten sich die Fahrbahnen auf der anderen. In den Stahlkabinen wird man sich über die rasche Veränderung der Verkehrslage gewundert haben. Die Meldung über das Unglück machte rasch die elektronische Runde, worauf ein Rucken durch die beiden Staus ging. Ohne weitere Zeit zu verlieren, wurden die Autos herumgerissen, trat man die Rückfahrt an. Der Umweg würde lange dauern, für einige Übernachtungen nach sich ziehen. In der nördlichen Richtung kam es zu einer Karambolage (ein gebrochener Arm, eine weitere Hirnerschütterung), die für weitere Verspätungen sorgen würde. Es dauerte drei Stunden, bis sich der Stau aufgelöst hatte und der kleine Faden, der im Verkehrsnetz nun fehlte, kompensiert wurde.

Die Unfallstelle wurde rasch gesichert. Es wurden Absperrungen aufgestellt, Sanitäter ließen sich in den Ab­grund abseilen, während auf der kaputten Straße die Triage vergeblich auf Kundschaft wartete. Die Bergung der Überreste «kostete» zwei weitere Leben: Einer der Heli­kopter, der schließlich eingesetzt werden musste, geriet ins Trudeln, krachte ebenfalls in die Sömmi und musste auch geborgen werden.

Weshalb die Brücke eingestürzt ist, weiß keiner. Es könnte ein Berechnungsfehler unseres Ingenieurteams ge­wesen sein. Ein in ein Fertigteil eingebauter Konstruktionsfehler. Falsch gelesene, falsch umgesetzte Zahlen. Müdes Material. Fehlerhaft gemischter Beton. Überbelas­tung. Müde Arbeiter. Unter Druck errichtet: Ja, es muss immer schneller gehen, doch ist die Adda Valsömmi keine eitle Architektenbrücke, vielmehr die Routinearbeit eines routinierten Ingenieurbüros. Dieser Druck, wenn auch unerwünscht und ideentötend, hat nicht zum Einsturz geführt. Das Gleichgewicht, diese erhabene Größe meines Lehrers, des großen Schweizer Brückenbauers Christian Menn, hat gestimmt. Physikalisch und bildlich haben sich Balance, Harmonie und Ausgewogenheit die Waage ge­halten. Hätten es müssen, heißt das, denn sie taten es ja be­kanntlich eben nicht. Was also war es? Weshalb steht diese praktisch-elegante Brücke bereits nicht mehr?

Während der drei Wochen, während derer die Adda Valsömmi existiert hat, wurde wegen Reparaturarbeiten an einer anderen, nicht von uns konzipierten Brücke der Nordsüdverkehr über unsere neue umgeleitet, inklusive Schwerverkehr, und das während der Hochsaison. Ist es möglich, dass die stetig ansteigende Anzahl Touristen, die stetig schwerer werdenden Lastwagen, die verrückter werdenden Wetterverhältnisse unsere Valsömmi überfordert haben? Die Antwort lautet: Ja, es ist möglich. Allein in jenen drei Wochen kam es zu drei ungewöhnlichen Temperaturstürzen, die der Brücke allerdings nichts hätten anhaben dürfen.

Alles ist möglich, alles muss untersucht werden. Man wird zu einem Schluss kommen. Vielleicht kommt es zu Schuldzuweisungen, gar Entlassungen und Frühpensionierungen. Wenigstens waren wir bislang von Vorverurteilungen, wie es etwa unsere amerikanischen Freunde und auch unsere italienischen Nachbarn immer lieber praktizieren, verschont. Aber vielleicht sind diese Vorverurteilungen insgesamt gar nicht so übel, auch wenn sie oft genug den Falschen (oder den Richtigen zu hart) treffen? Denn immerhin ändert sich etwas, während es bei unseren Un­tersuchungen darum geht, das eine oder andere zu verbessern, insgesamt aber eben nichts zu verändern. Am System ändert sich nichts, wenn ein paar Rädchen ausgewechselt werden, es muss schon krachen im Gebälk.

Vorerst aber fährt nun auch der Verkehr, den unsere Brücke hätte absorbieren sollen, über jene reparierte und wieder in Betrieb genommene alte Brücke. Ob sie der Mehrbelastung gewachsen ist, wird sich zeigen. Es ist kein gutes Zeichen, wenn die Ingenieure hoffen.

Morgennebel nistet sich in meinem Kopf ein. Der Druck, der sich in mir breitmacht, ist leicht und beschwingt, das Dröhnen einer fernen Trommel. Schwindel wiegt mich wie Wind einen Ast. Im Sonnenlicht wird sichtbar, wie schmutzig die Bürofenster sind.

Fensterreinigen ist keine leichte Sache, zumal es sich um Doppelfenster handelt, die nicht mehr freigeben, was sich zwischen ihnen abspielt. Ich habe mir dieses Zwischenreich unbelebt vorgestellt, aber natürlich ist nichts unbelebt. Wo Luft eindringt, ist Feuchtigkeit, also Wasser, und wo Luft und Wasser zusammentreffen, ist Leben. Was auf Planeten zutrifft, gilt erst recht für den Innenraum von Doppelfenstern. Was dort entsteht, bleibt oft unsichtbar oder manifestiert sich als Fensterschmutz. Die Luft hin­terlässt Spuren, ebenso die Feuchtigkeit. Ich mache etwas aus, was ein unsichtbarer Wurm hinterlassen haben könnte. Sporenspuren. Lebensschleim. In Zeitlupe weggewaschener Staub. Vielleicht auch Kotspuren. Beim Gedanken, zwischen den Scheiben hausten unsichtbare Lebewesen, die sichtbaren Kot ausscheiden, verstärken sich der Schwindel und auch der Druck in meinem Schädel.

An der Innenseite klebt eine vertrocknete Fliege beziehungsweise, was von ihr übriggeblieben ist: Blut, Fliegenkörperflüssigkeit, transparenter Teil eines Flügels. Also auch auf meiner Seite der Scheibe Leben, das sich ins Un­sichtbare verflüchtigt, wie alles Leben. Hätte ich die Geduld dazu, könnte ich dabei zusehen (und dabei besser Sehen lernen): wie sich die Fliegenspuren in Zeitspuren, wie sich Zeit in etwas noch Unsichtbareres verwandelt. Stattdessen stelle ich mir Kolonien unsichtbarer Wesen vor, wie sie sich zwischen diesen Scheiben eingerichtet haben, wie sie wohnen, schlafen, miteinander umgehen, kommunizieren, wie sie essen, trinken, zeugen. Auf einmal vermeine ich, ihre Lieder zu hören, ihre Gedichte und ihre Klagen. Ich begreife, dass sie die Fliegenüberreste, die sie durch die Scheibe wahrnehmen, aber nicht berühren können, anbeten. Jäh sehe ich mich selber vor mir (mich in der Scheibe spiegelnd), wie ich hochgeschossen bin und die Fliege mit einem genauen Schlag getötet habe, wie ich darauf ins Bad gerannt bin, von einem ungewohnten Brechgefühl ereilt. Das hatte aber nichts mit der Fliege zu tun, es war der Vorbote eines Kieferhöhlenkatarrhs.