Die Passion Jesu im Kirchenlied

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From the series: Mainzer Hymnologische Studien #28
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Die Passion Jesu im Kirchenlied
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Christina Falkenroth

„Die auf ihn sehen, werden strahlen vor Freude …“

Die Passion Jesu im Kirchenlied

Herausgegeben von Hermann Kurzke in Verbindung mit dem Interdisziplinären Arbeitskreis Gesangbuchforschung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie

A. Francke Verlag Tübingen

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© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-7720-0015-7

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Inhalt

  Vorwort

 1 Einleitung1.1 Der Untersuchungsgegenstand1.2 Die Untersuchung1.3 Begriffsklärungen1.3.1 Kirchenlied1.3.2 Frömmigkeit

 2 Das 16. Jh. – Passionslieddichtung im Wirkungsfeld Martin Luthers2.1 Grundlegung2.1.1 Die Passionsauffassung Luthers2.1.2 Die Bedeutung von Liedern zur Zeit der Reformation2.1.3 Passionslieder um 15002.2 Christ lag in Todesbanden2.2.1 Einführung2.2.2 Der Liedtext2.2.3 Die musikalische Gestalt2.2.4 Ergebnis2.3 Christus, der uns seligmacht2.3.1 Einführung2.3.2 Der Liedtext2.3.3 Die musikalische Gestalt2.3.4 Ergebnis2.4 O wir armen Sünder2.4.1 Einführung2.4.2 Die musikalische Gestalt2.4.3 Der Liedtext2.4.4 Ergebnis2.5 O Mensch, bewein dein Sünde groß2.5.1 Einführung2.5.2 Die musikalische Gestalt2.5.3 Der Liedtext2.5.4 Ergebnis2.6 O Lamm Gottes2.6.1 Einführung2.6.2 Der Liedtext2.6.3 Die musikalische Gestalt2.6.4 Ergebnis2.7 Wir danken dir, Herr Jesu Christ2.7.1 Einführung2.7.2 Der Liedtext2.7.3 Die musikalische Gestalt2.7.4 Ergebnis2.8 Ergebnis2.8.1 Vielfalt der Passionbetrachtung2.8.2 Zugänge zur Passion2.8.3 Prägungen der Lieder2.8.4 Passionsbetrachtung als Bewegung in zwei Richtungen: Zueignung und Aneignung

 3 Lieder des 17. Jh. bis zu Löscher3.1 Grundlegung3.1.1 Frömmigkeitspraxis und Passion im 17. Jh.3.1.2 Lieder und ihre Rolle in privater Frömmigkeit und kirchlicher Praxis3.2 O Traurigkeit3.2.1 Einführung3.2.2 Die musikalische Gestalt3.2.3 Der Liedtext3.2.4 Ergebnis3.3 Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen3.3.1 Einführung3.3.2 Der Liedtext3.3.3 Die musikalische Gestalt3.3.4 Ergebnis3.4 O Welt, sieh hier dein Leben3.4.1 Einführung3.4.2 Der Liedtext3.4.3 Die musikalische Gestalt3.4.4 Ergebnis3.5 Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld3.5.1 Einführung3.5.2 Der Liedtext3.5.3 Die musikalische Gestalt3.5.4 Ergebnis3.6 O Haupt voll Blut und Wunden3.6.1 Einführung3.6.2 Der Liedtext3.6.3 Die musikalische Gestalt3.6.4 Ergebnis3.7 Jesu, deine Passion3.7.1 Einführung3.7.2 Der Liedtext3.7.3 Die musikalische Gestalt3.7.4 Ergebnis3.8 Du großer Schmerzensmann3.8.1 Einführung3.8.2 Der Liedtext3.8.3 Die musikalische Gestalt3.8.4 Ergebnis3.9 Ich grüße dich am Kreuzesstamm3.9.1 Einführung3.9.2 Der Liedtext3.9.3 Die musikalische Gestalt3.9.4 Ergebnis3.10 Ergebnis3.10.1 Die Wiederaufnahme der spätmittelalterlichen Passionsmeditation im 17. Jh.3.10.2 Die Umformung der Tradition in den Passionsliedern des 17. Jh.3.10.3 Das Passionslied im 17. Jh.

 4 Die Theologie der Passionslieder in ihrem systematisch-theologischen Zusammenhang4.1 Deutekategorien zum Tod Jesu4.1.1 Opfer4.1.2 Das stellvertretende Leiden Christi4.1.3 Loskauf und Herrschaftswechsel4.1.4 Die Konzepte als Annäherung4.2 Gründung der Person in Christus4.2.1 Ontologie der Person bei Luther4.2.2 Die Person des Menschen in der Begegnung mit dem Gekreuzigten4.3 Die wiedergewonnene Imago dei4.3.1 Begegnung vor dem Kreuz ohne Scham4.3.2 Jesus Christus als Schlüssel zur Ebenbildlichkeit4.3.3 Imago dei als „Gott entsprechendes“ Sein und als relationaler Begriff4.3.4 Die Inkarnation als Ort der imago4.3.5 Gottebenbildlichkeit als Teilgabe an der Herrlichkeit Gottes4.3.6 Die eschatologische Perspektive als Erkenntnisgrund der imago4.3.7 Imago dei als Selbstdefinition Gottes und als Einführung ins Menschsein4.3.8 Zusammenfassung4.4 Die Kreuzesbetrachtung als Rechtfertigungsgeschehen4.4.1 Die Lehre von der Rechtfertigung als Auslegung des Ereignisses am Kreuz4.4.2 Von der Ontologie zur Relationalität: Der Glaube als Haltung des Empfangens4.4.3 Die Heilsgewißheit als Kennzeichen reformatorischer Rechtfertigungslehre4.4.4 Der Glaube rechtfertigt, weil Christus in ihm gegenwärtig ist4.4.5 Rechtfertigung und Erneuerung4.4.6 Gott ist gerecht, denn er macht gerecht4.4.7 Schluß4.5 Die Überwindung der Sünde4.5.1 Was wird über das Wesen der Sünde gesagt?4.5.2 Die Rede von der Sünde als Rede von Christus4.5.3 Die neue Lebensgestalt des der Sünde entzogenen Menschen4.5.4 Was ist die Sünde?

 5 Schlußfolgerung: Passionslieder und die Praxis des christlichen Lebens5.1 Der Weg durch die Tiefe als Befreiung zum Leben5.1.1 Der Weg durch die Tiefe5.1.2 Sterben als biographische Erfahrung: Abschied vom Leben5.1.3 Der Tod als theologische Kategorie: die Sünde als Stachel des Todes5.1.4 Der Weg durch die Tiefe als Ereignis5.1.5 Die Begegnung mit dem Gekreuzigten in der Tiefe als Befreiung zum Leben5.1.6 Der Weg durch die Tiefe – bleibende Anfechtung5.2 Die Rede von Schuld und Vergebung als der Kirche aufgetragene Botschaft5.2.1 Hinführung5.2.2 Das Phänomen der Schuld5.2.3 Die Christus-Begegnung als Befreiung von der Last der Schuld5.2.4 Die Begründung der Kirche im Kreuz Christi als Aufgabe, von Schuld und Vergebung zu reden5.3 Zueignung der Passion im Singen5.3.1 Die Wirkung des Singens in Gemeinschaft auf den Einzelnen5.3.2 Singen als Form der aktiven Aneignung5.3.3 Das antwortende Geschöpf5.3.4 Transzendierung5.3.5 Zueignung5.3.6 Das Singen und die Passionslieder5.4 Passionsfrömmigkeit als Leben aus der Zukunft5.4.1 Der Sermon Luthers und die Passionslieder5.4.2 Vita passiva – Das neue Sein als Verheißung5.4.3 Passionsfrömmigkeit als Lebensweise

  Quellen

  Sekundärliteratur

Vorwort

Diese Arbeit ist 2015 als Dissertation mit dem Titel „‚Die auf ihn sehen, werden strahlen vor Freude …‘ (Ps 34,6). Die Passion Jesu Christi in den Liedern der evangelischen Kirche. Untersuchungen zur Theologie der Passion in Liedern des 16. und 17. Jh“ von der Kirchlichen Hochschule Wuppertal-Bethel angenommen worden.

Allen voran danke ich Herrn Prof. Dr. Martin Ohst und Herrn Prof. Dr. Hellmut Zschoch: Sie haben meine Arbeit betreut und mich durch ihr Interesse an der Fragestellung in meinem Vorhaben bestärkt.

Mein herzlicher Dank gilt auch Dr. Sven Arnold für seine Beratung im Schreibprozeß, Dr. Matthias Lotzmann in musikalischen Fragen, und darüber hinaus meiner Familie und den Wegbegleitern, die durch ihr treues Nachfragen mir stets neue Energie zur Weiterarbeit gegeben haben.

Die Evangelische Kirche im Rheinland, die VELKD, der Kirchenkreis Wuppertal und die Gemeinde Wuppertal-Langerfeld haben die Veröffentlichung großzügig unterstützt. Dafür bedanke ich mich sehr herzlich.

Wuppertal, im Januar 2017

1 Einleitung
1.1 Der Untersuchungsgegenstand

Passionslieder bilden einen wesentlichen Teil des Lebens der Kirche und der Christen in ihr. Sie haben einen Ort im liturgischen Jahr. Sie sind, vornehmlich in der Passionszeit, Teil des gefeierten Gottesdienstes. Sie haben darüberhinaus als Lieder, aber auch in ihrer Textfassung, einen Ort in der persönlichen Frömmigkeit. Sie sind ein Teil der Tradition, aus der die gegenwärtige Kirche hervorgegangen ist.

 

Ihnen ist darüberhinaus eine starke Präsenz im Leben der evangelischen Kirche zueigen: Sie sind Teil der evangelischen Kirchenmusik, die sie vielfältig vertont und sie so im Bewußtsein der Christen verankert, die sich durch die kirchliche Verkündigung prägen lassen. Diese Prägung sucht sich einen eigenen Weg, über den Weg des gelehrten Glaubens hinaus: auf dem Weg des Hörens und des Singens, der Emotionen, der ästhetischen Wahrnehmung.

Die Passion bildet die theologische Mitte der Kirche. Passionslieder blicken darum auf das Zentrum des christlichen und besonders des evangelischen Glaubens: Im Ereignis von Kreuz und Auferstehung nimmt die christliche Kirche ihren Anfang. Die reformatorische Theologie Martin Luthers findet hier ihre Mitte. Christologie, Soteriologie, Gotteslehre, Anthropologie, Hamartiologie, Sakramentstheologie sind durch die Passion Jesu Christi geprägt.

Seit dem 4. Jh. hat sich das Passionsgedenken zu einem Teil der rituellen Handlungen der Kirche und Teil der individuellen Vollzüge des eigenen Glaubens entwickelt. In den Berichten der Pilgerin Egeria ist der Weg durch Jerusalem überliefert, unter Gebeten und Gesängen und unter Verlesung des Passionsberichtes nach Matthäus, zu den verschiedenen Stätten der Erinnerung an Christi Leben; der Ritus fand seinen Höhepunkt in der Verehrung des „Wahren Kreuzes“ durch Betrachtung und Kuß.1 Das Verständnis der Passion ist im Laufe der Zeit einem starken Wandel unterworfen gewesen. Nachdem in der Alten Kirche Christus am Kreuz als der triumphierende Weltenherrscher dargestellt worden war, verlagerte sich im Laufe des Mittelalters das Interesse auf sein Leiden, so daß die biblische Passionsgeschichte ausgestaltet wurde und z.B. einzelne Szenen wie das Gebet Jesu in Gethsemane mit Inhalt gefüllt oder das Gespräch zwischen Pilatus und Jesus über die biblische Quelle hinaus breit ausgeführt wurde oder Legenden der Passionsdarstellung hinzugefügt wurden. Bezugnehmend auf die Leidensmystik des Bernhard von Clairvaux (1090–1153) und seinen Weg der Meditation der Wunden Jesu entstand seit dem 14. Jh. an verschiedenen geistlichen Zentren eine Methodik der Betrachtung des Leidens Christi. Dabei meditierte man in der Folge der monastischen Gebetszeiten verschiedene Leidensstationen. In der Reformationszeit wiederum lag der Schwerpunkt auf dem Auferstandenen und dem Dank für sein Leiden; später fand man im Mitleiden den Identifikationspunkt mit ihm. Die Passion hat so im Lauf der Entwicklung der Kirche und des christlichen Glaubens eine Vielfalt an Ausdrucksformen gefunden, in denen Menschen sich und ihre Existenz mit dem Sterben Christi verbinden.

Doch ist das Wort vom Kreuz von Beginn an Stein des Anstoßes; Ärgernis den Juden, den Griechen eine Torheit und in der Gegenwart ruft es Kritik hervor: am Gottesbild, das die Kritiker dahinter vermuten, das einen strafenden und den Tod des Sohnes wollenden und herbeiführenden Gott vorstellt; an dem Paradox, daß Heil aus dem Unheil hervorgehen soll, daß in einem schmerzvollen, gewalttätigen, lebenzerstörenden Ereignis sich der liebende, lebenschaffende Gott offenbaren soll. Innerhalb der Theologie findet eine Debatte statt, die sich mit der in der biblischen Tradition begründeten Deutung des Todes Jesu als Opfer oder als Sühne oder mit dem Anselmschen Modell von dem satisfaktorischen Sterben Jesu auseinandersetzt2. Des Weiteren spielt auch die Schwierigkeit eine Rolle, über die Sünde in einer Weise zu reden, mit der sich Menschen in ihrem Selbstverständnis identifizieren können. Es wird oft eine Deutung des Kreuzes unter Absehung von den überlieferten Kategorien versucht.3

Diese Arbeit soll ein Beitrag sein, sich dem Verständnis der Passion Jesu und ihrer heilsstiftenden Bedeutung zu nähern.

Das soll ausgehend von Passionsliedern geschehen. Lieder bilden als gesungener Glaube einen eigenen Zugang zu Passionstheologie und -frömmigkeit. Sie sind ein Teil des Glaubensvollzuges in Gottesdienst oder Andacht oder im individuellen Meditieren. Sie haben doppelte Wirkrichtung: Sie sind einerseits Ausdruck des Glaubens und prägen andererseits den in der Kirche und von den Einzelnen geglaubten Glauben. Sie sind Produkt menschlicher Frömmigkeit und sie gestalten den persönlichen Umgang von Menschen mit der Passion. Sie lehren und verkündigen, sie trösten und üben in den Glauben ein. Sie transportieren ihre Inhalte auf dem Weg der Musik und indem sie von Menschen selber zum Klang gebracht werden. So finden sie anders Eingang in Denken und Empfinden eines Menschen als ein katechetischer oder diskursiver Text.

Passionslieder begleiten die Passionsfrömmigkeit von Menschen durch die Zeiten hindurch. Im Wandel der Frömmigkeit von Menschen mit den Zeiten bilden sie doch eine Kontinuität. Sie spiegeln den Umgang mit der Passion zu ihrer Entstehungszeit, denn sie sind Ausdruck des je zu ihrer Zeit Geglaubten4. Sie haben durch die Entwicklung der Kirche und der Theologie hindurch ihre Bedeutung gewahrt. Denn die hier behandelten Passionslieder sind i.d.R. immer Teil des Liedbestandes der gängigen Gesangbücher gewesen, wenn es auch häufig Umdichtungen der Texte, dem Zeitgeschmack entsprechend, gegeben hat.

Sie sind auch heute von Bedeutung. Sie sind als Lieder des EG Teil der gegenwärtigen Liedkultur und darum in der Lage, das Singen, Glauben und Hoffen der gegenwärtigen Christen zu prägen. Aufgrund dieser Kontinuität haben sie eine besondere Beständigkeit in ihrer Präsenz im Leben der Glaubenden. Darum sollen sie hier bei dem Fragen nach dem Paradox der Passion, „Wie kann aus dem Sterben des einen das Leben des anderen hervorgehen?“, nach ihrem Beitrag gefragt werden.

1.2 Die Untersuchung

Im Rahmen der Untersuchung soll im Blick auf das Verständnis der Passion und der diesbezüglichen Botschaft der Lieder diesen Fragen nachgegangen werden:

In welchem historischen Kontext ist das Lied entstanden und hat es zuerst gesprochen? Vor welchem theologischen Hintergrund ist es gedichtet, d.h. welche dogmatischen Voraussetzungen prägen es? Welche Aussagen macht es darüber, wer der Gekreuzigte für seinen Betrachter ist? Wer ist der Mensch vor dem Gekreuzigten? Was ist das eigentliche Geschehen am Kreuz und was bedeutet es für den Menschen vor ihm? Wie wird es ihm zugeeignet? Worin besteht demzufolge sein Potential, einen Menschen anzusprechen und seinen Lebensvollzug mit der Botschaft vom Kreuz zu verweben?

Die Untersuchung richtet sich also auf die Texte der Passionslieder in ihrem theologischen Zusammenhang, auf die Melodien, die Dichter und Melodisten.

Es liegen bisher einige Arbeiten vor, die eine einzelne Liedkategorie ausführlich in ihren theologischen Zusammenhang stellen. Dazu gehören Untersuchungen zu Abendmahlsliedern, Adventsliedern und Taufliedern1. Lieder zur Passion haben bisher erst in überblicksartigen Aufsätzen Beachtung gefunden2.

Als Ergebnis der im 19. Jh. entstandenen kritisch-systematischen Hymnologie liegen Liedkompendien vor3, in denen Melodien und Texte von Kirchenliedern gesammelt und kurz kommentiert sind. Wo der Kontext beleuchtet wird, liegt der Schwerpunkt auf der biographischen Darstellung der Lieddichter4, weniger auf dem Lied selbst in seiner eigenen Aussage. Darüberhinausgehend veröffentlichte Johannes Kulp im Handbuch zum EKG kurze Analysen von Text und Melodie von Kirchenliedern5. Als entsprechendes Nachfolgewerk zum EG ist die „Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch“ entstanden, in der diese Methode verfeinert und ausführlicher durchgeführt wird.

Erst seit den 50er Jahren sind Einzelstudien zu Kirchenliedern entstanden, in denen der Werdegang von Liedern und ihr theologischer Kontext dargestellt werden. Als Monographie, die den Zusammenhang von Kirchenlied, Frömmigkeit und Theologie beleuchtet, ist seit 1957 das Buch von Ingeborg Röbbelen6 bestimmend gewesen, die allerdings – geprägt von der dialektischen Theologie und ihrem Verständnis von Frömmigkeit – Lieder des Barock theologisch als eher minderwertig beurteilt.

Nachdem sich zunächst die germanistische Forschung erneut auf Lieder des Barock konzentriert hat7, ist innerhalb der Theologie das Interesse an theologischer Liedforschung gewachsen. Hierzu liegen Arbeiten von Elke Axmacher u.a.8 vor, in denen Lieddichtung und Gesangbuch nicht nur biographisch, sondern auch theologisch eingeordnet und analysiert werden. Mit Passionsfrömmigkeit und ihrem Niederschlag in Passionsliedern befaßt sich Anne-Madeleine Plum9. Dazu gibt es einzelne Aufsätze, die sich in dieser Weise auch auf die Theologie der Passionslieder z.B. Paul Gerhardts gerichtet haben10.

Als Quelle für die hier untersuchten Passionslieder dient der Stammteil des Evangelischen Gesangbuches, das seit 1996 EKD-weit eingeführt ist. Dessen Lieder sind als Teil des gegenwärtigen Singens geeignet, die Frömmigkeit der Gegenwart zu prägen. Wie der Einzelne sein Glaubensleben in Bezug auf die Passion vollzieht, ist bei der Diversität christlicher Lebensentwürfe und -vollzüge schwer zu eruieren. Aber die Lieder des EG haben durch dessen Verbreitung in den Gemeinden der EKD und durch ihre Verwendung im Gottesdienst einen hohen Wirkungsgrad. Deshalb sind sie am ehesten als Träger einer Passionsfrömmigkeit der Gegenwart anzunehmen oder haben das Potential, Träger zu werden.

Die untersuchten Lieder stammen aus zwei Zeiträumen:

Das 16. Jh., die Zeit der sich ausbildenden reformatorischen Theologie und der Konstituierung der evangelisch-lutherischen Kirche im Raum der deutschen Länder.

Das 17. Jh., die Zeit des Dreißigjährigen Krieges und der nachfolgenden Jahrzehnte. Das zuletzt entstandene Lied stammt aus dem Jahr 1722; es steht am Ende der Entwicklungslinie, auf der sich die zuvor betrachteten Lieder des 17. Jh. bewegen; es ist, auch im Blick auf seinen Dichter, dem Dresdner Superintendenten Löscher, im Gottesdienst der Kirche beheimatet und in ihm sind orthodoxes Luthertum und innige Jesusfrömmigkeit miteinander verbunden. Zu diesem Zeitpunkt hat aber mit dem Gedankengut des Pietismus und der Aufklärung und der damit verbundenen Wandlungen in Kirche und Frömmigkeit auch schon eine neue Entwicklung in der Lieddichtung begonnen.

In dieser Untersuchung werden zunächst die Passionslieder in der Reihenfolge ihrer Entstehung als in sich vollständige und eine eigene Botschaft tragende Kunstwerke betrachtet, und zwar in zwei Abteilungen, den beiden Zeiträumen des 16. und 17. Jh.

Dabei wird die früheste belegte Fassung zugrunde gelegt. I.d.R. dienen als Quelle die Werke von Zahn und von Wackernagel, soweit sie die ursprüngliche Fassung vorliegen hatten. Von der ursprünglichen Fassung abweichende Lesarten in der gegenwärtigen, also der EG-Fassung werden benannt.

Es werden zunächst die Zusammenhänge beleuchtet, in denen das Lied jeweils entstanden ist: Dichter, Komponist, Ort und Zeit.

Seine Botschaft wird in Form eines Kommentars zum Text herausgearbeitet.

Die Art und Weise, wie es in Musik gesetzt ist, und die Korrespondenz von Ton und Wort, von musikalischer und theologischer Botschaft, werden untersucht.

Die Botschaft wird in Zusammenhang mit dem gelehrten Glauben und der gelebten Frömmigkeit zur Zeit der Entstehung gebracht.

Daraus wird die Idee erschlossen, die das Lied über die Zeiten hinaus in sich trägt: die Botschaft über den Weg, auf dem dem Glaubenden das am Kreuz erworbene Heil vermittelt wird.

Die Einzeluntersuchungen sind eingebettet in einen Rahmen:

Vorangestellt wird Luthers „Sermon von der Betrachtung des heyligen leydens Christi“ von 1519 (WA 2, 136–142). Dazu werden zwei andere sermones de passione dargestellt. Dabei wird Luthers Umgang mit der Passion und ihre Einordnung in sein theologisches Denken herausgestellt. Luthers Verständnis von der Passion Christi und vor allem von der Art und Weise der Aneignung durch den Menschen, der sie betrachtet, spiegeln den Neubeginn, den er mit seiner Theologie macht. Es werden anhand der drei Sermones Weg und Inhalt, Absicht und Zielrichtung der Passionsbetrachtung nach Luther dargestellt. Die in der Arbeit untersuchten Passionslieder sind ein Teil der vom Denken und von der Theologie Luthers geprägten reformatorischen Entwicklungen. In der Untersuchung soll deren Aussage ans Licht gestellt werden, doch Luthers inhaltliche Schwerpunkte der Passionsbetrachtung sollen dabei im Hintergrund stehen und einen hermeneutischen Kanon bilden, an dem sich die Fragen an die Lieder ausrichten.

 

Nachdem die Lieder einzeln untersucht worden sind, wird das Liedkorpus in seiner Gesamtheit betrachtet: Wo ist seine Botschaft in der biblischen Theologie vom Kreuz und wo ist sie in der dogmatischen Theologie zu verorten?

In der Schlußfolgerung soll mit Blick auf die Gesamtheit der Lieder der Frage nachgegangen werden, was ihre Aussage und Bedeutung für die Existenz des Einzelnen und im Leben der Christlichen Kirche ist.