Die Passion Jesu im Kirchenlied

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From the series: Mainzer Hymnologische Studien #28
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Das Evangelium als tragender Grund der Musik

Über die an das Wort gebundene Musik hinaus legt Luther der Musik an sich theologische Qualität bei. Er nimmt die traditionelle Unterscheidung von musica naturalis und artificialis auf: „naturalis“ als die Musik, die als Harmonie des Kosmos a priori existent ist und „artificialis“ als die vom Menschen erzeugte Musik, die später mit der musica instrumentalis, also der durch Instrumente hörbar umgesetzten Musik gleichgesetzt wird. Diese bezeichnen keine unterschiedliche Wertstufe, sondern sind deskriptive Begriffe.

Luther nimmt die Begriffe auf und bewertet sie neu: „Wo aber die natürliche Musica durch die Kunst gescherfft und polirt wird, da sihet und erkennet man erst … mit grosser verwunderung die grosse und volkomene weisheit Gottes in seinem wunderbarlichen werck der Musica“1.

Die musica artificialis als Erkenntnisgrund der göttlichen Vollkommenheit findet zu seiner Zeit in der Musik des Komponisten Josqin dés Pres (1440–1521) ihren Höhepunkt, dessen Kunst als vollkommene Erfüllung des Anspruches der Musik als klingender Kosmos angesehen wird.

Anhand der Musik Josquins führt Luther sein theologisches Anliegen in den Diskurs ein. Er versteht seine Musik als Abbild des Evangeliums: „Was lex ist, geht nicht von stad, was evangelium ist, das gett von stad. Sic deus praedicavit evangelium etiam per musicam, ut videtur in Josquin, des alles composition frölich, willig, milde (freigebig) heraus fleust, ist nitt gezwungen und gnedigt (genötigt) per regulas sicut des fincken Gesang.“2

In seinem Verständnis ist die Musik Josquins, die sich von den einengenden Banden der kompositorischen Regeln befreit hat, Gleichnis für das Evangelium.

Josquin ist bei Luther „Der Noten Meister“ im Gegensatz zu anderen, die er als Diener der Tonsetzungsregeln versteht.

Die interne Stimmigkeit der Musik hängt nicht allein an einer dem Wortsinn angemessenen auslegenden Darstellung eines Textes mithilfe musikalischer Symbole, sondern darin, daß sie diesen „mit den Eigenansprüchen genuin musikalischer Gestaltung paaren kann, (so) gelingt ihr eine artifizielle Dichte, die mehr ist als die Erfüllung reiner Satzregeln“3

Aus der Perspektive der Musikwissenschaft wird die musikgeschichtlich weitreichende Wirkung der Werke Josquins damit begründet, daß er der Musik als Musik, als ästhetisches Kunstwerk, nicht nur als Dienerin eines Textes, eine eigene Ausdrucksmöglichkeiten verschaffte. In der Freiheit der Kunst vom Gesetz, „darin, daß Josquins Musik nicht „per regulas“ konstruiert ist, entdeckt also Luther die Parallelität zum Evangelium.“ Und er sieht in der Faktur der Musik das Evangelium selber verwirklicht.

2.1.2.2 Lieder in den Anfängen der Wittenberger Reformation
„Ein neues Lied wir heben an“

Als erstes evangelisches Lied gilt das Lied Luthers von 1523: „ein Lied von den zween Marterern Christi / zu Brüssel von den Sophisten von löuen verbrant“1.

Zwei Mönche waren der Anlaß: Sie waren auf dem Brüsseler Marktplatz verbrannt worden, nachdem die Inquisition das Kloster der Augustinereremiten in Antwerpen, die sich der Lehre Luthers zugewandt hatten, zerstört und Widerruf gefordert hatte. Diese beiden mußten ihre Weigerung mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen bezahlen.

Dieses Lied kann man exemplarisch für die ersten evangelischen Lieder betrachten:

Es transportiert antirömische Polemik, indem die den beiden abgesprochene römische Priesterweihe als „des teufels larvenspil und spott“ bezeichnet wird oder indem mit dem Vers „Der höchste irrtum dieser war: man muß allein Gott glauben“ römische Theologie lächerlich gemacht wird.

Die Funktion der Lieder als Selbstvergewisserung im neuen Glauben, wenn man singt: „Sie han die kron erworben, recht wie die frommen Gotteskind für sein wort sind gestorben“ oder wenn ihr Martyrertod als Gnade und „rechte“ Priesterweihe bezeichnet wird: „Sich selbs im mußten opfern da und gen im Christen orden“.

Die Funktion der Verkündigung des Wirkens Gottes in der Gegenwart: im Sterben der beiden hat Gott „sein wundermacht bekannt“, denn sie gingen ins Feuer „mit Gottes lob und singen; der Mut ward den sophisten klein für disen neuen dingen, daß sich Gott ließ so merken“. Der Tod der Martyrer wird als Beginn der erneuerten Offenbarung Gottes verstanden: „Wir sollen danken Gott darin, sein wort ist wider kommen. Der sommer ist hart vor der tür, der winter ist vergangen, die zarte blümlin gen herfür: der das hat angefangen, der wird es wol vollenden.“ Hier zeigt sich in Ansätzen die Perspektive, unter der die reformatorische Bewegung schon im 16. Jh. betrachtet werden wird: Reformation als eschatologisches Ereignis, als Anbruch der Gottesherrschaft, die sich u.a. im letzten Aufbäumen des Antichristen zeigt. An das eschatologische Singen erinnert auch die erste Zeile des Liedes „Ein neues Lied wir heben an“, indem es mit dem Begriff des „neuen Liedes“ aus den Psalmen 96, 98, 149 das reformatorische Singen mit dem des zum Heil befreiten Gottesvolkes identifiziert.

Die Verbreitung der Lieder Luthers

Diese drei Eigenschaften des evangelischen Singens prägen die erste Zeit der Ausbreitung der Reformation und die mit ihr einhergehende Verbreitung der entstehenden Lieder.

Im selben Jahr, in dem sein erstes Lied entstand, äußert Luther in seiner Formula missae das Anliegen, daß es mehr Lieder, besonders Psalmlieder, mit deutschem Text geben solle. Gleichzeitig wurde er selber tätig: Es entstehen im Zeitraum Ende 1523 / Anfang 1524 24 Lieder aus seiner Feder.

Die zuerst entstandenen Lieder werden schnell bekannt. Sie sind zunächst als Einzelblattdrucke verbreitet worden, waren dann Bestandteil des ersten Gesangbuches, dem Achtliederbuch, das 1524 in Nürnberg erschien. Darin sind „Nun freut euch“ (1523), in dem Luther balladenhaft die Heilsgeschichte erzählt, und drei seiner Psalmlieder, z.B. „Aus tiefer Not“ (1524) und „Ach Gott vom Himmel sieh darein“ (1524), in denen er Psalmen bereimt und mit einer evangelischen Deutung versieht.

Über die Art und Weise der Verbreitung gibt es Berichte. Sie zeugen großenteils davon, daß das Singen evangelischer Lieder eine Weise des Widerstandes war; so sang 1524 in Magdeburg ein alter Tuchmacher „Aus tiefer Not“ und „Es wolle Gott uns gnädig sein“ und verkaufte Einzelblattdrucke dieser Lieder. Er wurde verhaftet.1 Im selben Jahr wurde aber Magdeburg als erste norddeutsche Stadt evangelisch.

Die Lieder nahmen ihren Weg über die Hansestädte aufgrund ihres regen Kontaktes untereinander. Frühe Tradenten waren zumeist Tuchmacher bzw. Wollenweber, die intensiveren Austausch als andere Handwerker pflegten. In der Hierarchie der Zünfte weit unten angesiedelt, waren sie anfällig für Konflikte und Unruhen innerhalb des städtischen Sozialgefüges. Man kann, bezogen auf die Städte, von einer „Reformation von unten“2 sprechen, die von den unteren Schichten ausging, die durch die reformatorische Predigt auf dem Wege des Liedes erreicht worden waren.

Daß es nicht nur um Widerstand ging, sondern er auch inhaltlich bestimmt war, zeigt ein Beispiel aus Braunschweig (1527): Ein altgläubiger Prediger, der vom Rat der Stadt gegen die evangelische Bewegung eingesetzt worden war, wurde bei seiner ersten Predigt über die Verdienstlichkeit guter Werke durch den Gesang „Ach Gott vom Himmel“ überstimmt. Auch hier fügte sich derRat der Stadt schließlich dem Mehrheitswunsch der Bürger.

Die reformatorische Bewegung hat sich mithilfe ihrer Lieder ausgebreitet. Dabei hat zu Beginn ihre Bedeutung als Oppositionsmittel eine große Rolle gespielt.

2.1.2.3 Der Sitz im Leben: Der Gottesdienst
Lieder in den Gottesdienstordnungen

In seinen Schriften zum Gottesdienst1 hat sich Martin Luther auch dem Liedgesang gewidmet. Die Formula Missae (1523) behandelt vorwiegend den Wochengottesdienst für Schüler und Theologiestudenten, in dem der lateinische Gesang und die überkommenen lateinischen Ordinariumsstücke zum großen Teil bewahrt werden. Dort schlägt er einige wenige vorreformatorische deutschsprachige Lieder zusätzlich zu den lateinischen Gesängen vor und gibt seinem Wunsch Ausdruck, daß mehr deutsche Lieder vorhanden sein sollen. So schreibt er auch in einem Brief an Spalatin 1524: „Ich bin willens, deutsche Psalmen fürs Volk zu machen, das ist geistliche Lieder, daß das Wort Gottes auch durch den Gesang unter den Leuten bleibe“

In der Deutschen Messe (1526), nach der der Gottesdienst auf deutsch gefeiert wird, schlägt er deutsche Lieder vor: als Introitus ein deutsches Lied oder ein Psalmlied, als Graduale nach der Epistel ein deutsches Lied, nach dem Evangelium sein Lied „Wir glauben all“, während der Austeilung: das deutsche Sanctus, „Jesaja dem Propheten das geschah“, oder sein Lied „Jesus Christus unser Heiland“ oder „Gott sei gelobet und gebenedeiet“, und das deutsche Agnus dei, „Christe, du Lamm Gottes“

In der Wittenberger Gottesdienst-Ordnung (1533) schlägt er schließlich an sieben Stellen deutsche Lieder vor:

(1) Als Introitus: substitutiv, also statt des Psalms (nur zu Festzeiten eine lateinische Psalmodie) (2) Nach dem Graduale und dem Halleluja an hohen Festtagen im Wechsel mit der Sequenz (3) Nach dem lateinischen Credo „Wir glauben all an einen Gott“ (4) Nach der Predigt auf das lateinische „Da pacem“ Luthers „Verleih uns Frieden gnädiglich“ (5) Zu Beginn des Abendmahls statt eines Versikels oder einer Kollekte des Pfarrers evtl ein Lied de tempore (6) Sub communione: nach dem lateinischen Sanctus und Agnus dei „Jesus Christus unser Heiland“ und „Gott sei gelobet und gebenedeiet“ (7) Nach der Austeilung das Agnus dei mit Luthers deutschem Text.

 

Die Wittenberger Ordnung hat vielfach als Vorbild für andere Ordnungen gedient2. Dennoch sagen diese Ordnungen nicht viel über den tatsächlichen Stand des Gemeindegesanges aus: Berichte von Zeitzeugen belegen für einen weiten Zeitraum im 16. Jh., daß in vielen Gottesdiensten weniger deutsche Lieder vorkamen als in den Ordnungen vorgeschlagen. Es ist auch nicht deutlich, inwieweit die von Luther oder in anderen Kirchenordnungen vorgeschlagenen Lieder tatsächlich der Gemeinde zugeschrieben waren oder ob sie allein vom einstimmig singenden chorus choralis gesungen wurden, der den Gemeindegesang führen und tragen sollte. So formuliert Luther in der DM z.B. nur vom deutschen Credo ausdrücklich: „Nach dem Evangelio singt die gantze Kirche den Glauben zu deutsch / Wir glauben all an eynen Gott“3. Zudem gab es an vielen Orten, besonders auf dem Land, einfache Ordnungen, nach denen die Gemeinde nur wenige Lieder zu singen hatte.

Gesangbücher

Nach dem og. Achtliederbuch folgten in kurzer Zeit viele weitere Gesangbücher. Zu ihnen gehören das sog. Erfurter Enchiridion von 1524, mit 24 Liedern, davon 18 von Luther, und im selben Jahr das „Geystliche gesangk Buchleyn“ mit 38 deutschen Liedsätzen von Johann Walter und fünf lateinischen Motetten; hier sind 24 Lieder von Luther aufgenommen.

Ein erstes Gesangbuch für die Gemeinde war das „Enchyridion geistlicher gesenge vnd psalmen fur die leyen“, in Wittenberg seit 1525 aufgelegt. Von Luthers Hand kam schließlich das „Klugsche Gesangbuch“, „Geistliche Lieder auffs new gebessert zu Wittenberg“ von 1529. Dieses hat Luther durch Gliederung in die Rubriken Kirchenjahr, Katechismus, Psalmen und liturgische Gesänge für den Gebrauch im Gottesdienst gestaltet. Durch viele Nachdrucke gelangten die hier versammelten Lieder in die Gemeinden und bildeten so allmählich einen Liedstamm für den lutherischen Gottesdienst. Dieser wurde dann für annähernd zwei Jahrhunderte gefestigt, indem ein letztes Gesangbuch durch Luther gestaltet wurde: Das bei Valentin Babst 1545 herausgekommene Buch „Geystliche Lieder“.

Auch in anderen Liedzentren entstanden Gesangbücher: Bei den böhmischen Brüdern, in Straßburg, in Konstanz und in Genf. Auch in diese wurden z.T. Lieder aus dem Umkreis der Wittenberger Reformation aufgenommen.

Mit dem Singen im Gottesdienst war immer auch der pädagogische Gedanke verbunden, mithilfe der Lieder den Glauben zu lehren. Melanchthon formuliert, die „teutschen Gesänge“ dienten dazu, „das Volk damit zu lehren“ wie „alle Ceremonien furnehmlich darzu dienen sollen, daß das Volk daran lerne, was ihm zu wissen von Christo not ist“1. Diese Absicht setzte Nikolaus Herman um, als er 1560 „Die Sontags Evangelia vber das gantze Jar / Jn Gesenge verfasset/Für die Kinder vnd Christlichen Haußveter“ in Wittenberg veröffentlichte. In ihnen hatte er alle Predigtperikopen in Form von gereimten Erzählliedern in einfache Sprache gebracht, um sie damit für Kinder leichter erfaßbar zu machen.

Das Singen

Erst im Laufe des 17. Jh. wurde es üblich, im Gottesdienst aus Gesangbüchern zu singen. Vorher sang man auswendig. Lernort für die evangelischen Lieder war zum Einen die Hausandacht, die zum evangelischen Leben gehörte, auf die schon der og. Titel der Sonntagsevangelia N. Hermans hinweist. Für das häusliche Singen waren die Gesangbücher des 16. Jh. in erster Linie bestimmt; so wurden sie zunächst als Hausgesangbücher, später erst als Kirchengesangbücher bezeichnet.

Zum Anderen lernten die Schüler die neuen Lieder in Schule und Kurrende. Die Schüler waren es auch, die als „chorus choralis“ den Gesang im Gottesdienst anführten. An den Stellen im Gottesdienst, an denen gemäß der Agende Gesang vorgesehen war, aber die Gemeinde noch nicht mitsang, waren die Schüler allein für den Gesang verantwortlich.

Ein Kanon von den Gottesdienstteilnehmern bekannten Liedern entwickelte sich langsam; Luthers Klage aus dem Jahr 1545 über die, die beim Gesang „murmelten und brummeten“1, ist überliefert. Zu den Fragen, die Visitatoren in der zweiten Hälfte des 16. Jh. zu stellen hatten, gehörte die an den Pfarrer, welche „teutsche lobgesenge (er) mit der schul und gemeiner kirchen gebrauche und ob auch die gemeine mitsinge“2.

Die lateinischen Gesänge der Messe waren neben den deutschen Liedern in liturgischen Gesängen und lateinisch-deutsche Hymnen noch bis ins 17. Jh. im Gebrauch.

Es zeigt sich also an der Geschichte der Kirchenlieder, daß die Reformation auch im Blick auf das evangelische Singen und den Gottesdienst sich nicht als radikaler Bruch mit der Tradition, sondern als ein allmählicher Prozeß vollzog.

2.1.3 Passionslieder um 1500
Gemeindelieder um 1500

Neu am evangelischen Singen ist, daß der Gesang zum konstitutiven Bestandteil der Liturgie wird. Nun ist es die Gemeinde, die zusammen mit dem Liturgen den Gottesdienst vollzieht.

Dennoch mußten die Gesänge der Gemeinde nicht aus dem Nichts entstehen, denn es gab eine Tradition deutschsprachiger geistlicher Lieder und eine Tradition des Singens der Gemeinde. An diese Tradition hat sich die evangelische Lieddichtung angelehnt.

Es gibt aus der Zeit vor der Reformation frühe Zeugnisse für eine Beteiligung der Gemeinde oder der Schola Cantorum an der Liturgie durch Gesang. Dazu gehören Kyrieeleison-Akklamationen, Leisen, Credo-Rufe oder ein Predigtlied. V.a. aber sind deutsche Gesänge aus kirchlichen Vollzügen außerhalb der Messe wie Prozessionen oder den Stundengebeten hervorgegangen. Zu den ältesten und bekanntesten dieser Gesänge gehört aus dem Osterfestkreis das Lied „Christ ist erstanden“, das bei der sich an den Ostergottesdienst anschließenden visitatio sepulchri, einer Prozession zum Grab Jesu, gesungen wurde.

Im 12. Jh. ist es zum ersten Mal erwähnt; die vollständige erste Strophe überliefert eine Klosterneuburger Handschrift von 1325.1

Lieder zur Passion

Auch im Blick auf die Passion findet man zu Beginn des 16. Jh. eine Tradition vor.

Es gab lateinische Passionshymnen, einer davon ist „Rex christe factor omnium“, der seit der Reformation vielfach ins deutsche übertragen wurde. Eine Übertragung findet sich als „Christe, du Schöpfer aller Welt“ im EG.

Es gab lateinische Lieder aus dem 12.u 13. Jh, die unter dem Einfluß der Passions- und Brautmystik des Bernhard von Clairvaux entstanden sind und den leidenden Menschen Jesus besingen, seine Marter und Wunden. Im Mitleiden lag der Zugang zu seinem Leiden. Das Passionssalve des Arnulf von Löwen hat später die evangelische Lieddichtung stark beeinflußt.

Eine Gelegenheit für den Gesang der Gemeinde bot das mehrfache Kyrieleison am Ende der Karfreitagsliturgie. Seit dem 12. Jh. ist der Brauch einer Prozession am Karfreitag belegt.

An diesem Ort hat sich seit dem 11. Jh. der „Leis“, eine vierzeilige Strophe mit einem angehängten Kyrieleis, entwickelt. Leisen konnten responsorische Antworten auf Gesänge der Messe, z.B. der Sequenzen sein.

Ein bestimmter Leis ist im Laufe der Entwicklung mit dem Passionshymnus „Rex christe factor omnium“ verbunden worden, der seit dem 10. Jh. belegt ist. Seit dem 12./13. Jh. ist „Rex christe“ als Prozessionshymnus nachweisbar1. Auf ihn wird seit dem 14. Jh2 nach jeder Strophe mit dem Leis „Gelobet seist du christe“ geantwortet, in lateinischer Fassung „Laus tibi christe“. Dieser Gesang wurde zur Vorlage für ein größeres Gedicht zur Passion: Das „Eya der großen Liebe“ mit seiner Judasstrophe, „Ach du armer Judas, was hast du getan?“, die sich verselbständigt hat und bald als Bezeichnung der Weise diente, wenn man später darauf einen neuen Text machte. Diese Tradition ist in der evangelischen Liedstrophe „Ehre sei dir Christe“, bzw. dem Lied „O wir armen Sünder“ aufgegangen.

In den Passionsspielen gab es Gelegenheit zu einer der Hauptformen des Passionsliedes vor der Reformation in lateinischer und deutscher Sprache: die Lamentatio. Hier wird die Wehklage Jesu, die Klage Mariae oder der Maria Magdalena oder auch des Betrachters in Gesang gebracht.

Gebetbücher tradierten die liedhafte Kreuzesbetrachtung mystischen Einschlages und fördern einen neuen Typus des Passionsliedes: Ein Gebetslied in Form der kurzen Bitte oder des Dankens.3

Nach der Darstellung von O. Brodde gab es im frühen reformatorischen Singen, anknüpfend an vorreformatorische Vorläufer, den Typus der Liedpassion, in der ohne betrachtende Elemente die Passionsgeschichte erzählt wird4; Sebald Heyden knüpft mit „O Mensch, bewein dein Sünde groß“ daran an.

Die evangelische Passionslieddichtung konnte also auf eine breite Tradition von Dichtungen zur Passion und Liedern aus der Volksfrömmigkeit zurückgreifen. Diese Tradition hat auf diese Weise eine Vielfalt an Formen für das Singen zur Passion ermöglicht.

2.2 Christ lag in Todesbanden

MARTIN LUTHER, 1524

1. Christ lag in todes banden / fuer unser sund gegeben / Der ist wider erstanden / und hat uns bracht das leben / Des wir soellen froelich sein / Gott loben und danckbar sein / und singen Haleluia / Haleluia.

2. Den tod niemand zwingen kund / bey allen menschenkinden / Das macht alles unser sund / kein unschuld war zu finden / Davon kam der tod so bald / und nam uber uns gewalt / hielt uns in seim reich gefangen / Haleluia.

3. Jhesus Christus Gottes Son / an unser stat ist komen / Und hat die sunde abgethan / damit dem tod genomen / All sein recht und sein gewalt / da bleibt nichts denn tods gestalt / den stachel hat er verloren / Haleluia.

4. Es war ein wunderlich krieg / da tod und leben rungen / Das leben behielt den sieg / es hat den tod verschlungen / Die schrift hat verkuendet das / wie ein tod den andern fras / ein spot aus dem tod ist worden / Haleluia.

5. Hie ist das recht Osterlamb / davon Gott hat geboten / Das ist hoch an des creutzes stam / in heisser lieb gebroten / Des blut zeichnet unser thuer / das helt der glaub dem tod fuer / der wuerger kann uns nicht rueren / Haleluia.

6. So feiren wir das hohfest / mit hertzen freud und wonne / Das uns der HERR scheinen lesst / er ist selber die Sonne / Der durch seiner gnaden glantz / erleucht unser Hertzen gantz / der sunden nacht ist vergangen / Haleluja.

7. Wir essen und leben wol / in rechten osterfladen / Der alte sawrteig nicht sol / sein bey dem wort der gnaden / Christus wil die koste sein / und speisen die seel allein / der glaub will keins andern leben / Haleluia.1

Im EG ist der Liedtext fast im Originaltext wiedergegeben. Abgesehen von kleinen Unterschieden in der Schreibweise sind erwähnenswert die abweichenden Formulierungen

(5) davon Gott hat geboten … in heisser lieb gebroten;

(7) Wir essen und leben wol im rechten osterfladen

Dieses Lied soll unter den Passionsliedern behandelt werden, da in ihm die Passion Jesu einen breiten Raum einnimmt. Sie wird von Ostern her betrachtet.

Der Blick richtet sich im gesamten Lied immer einerseits auf die Situation des Christus am Kreuz bzw. des Gestorbenen: z.B. „Christ lag in Todes Banden“, und deutet diese. Andererseits wird ebenso die Perspektive des Glaubenden von Ostern her formuliert: z.B. „der ist wieder erstanden“, von dem Ort her, an dem „wir“, die Singenden, darauf blicken. Diese beiden Orte, das Kreuz Christi und der Standort des befreiten Menschen, sind Inhalt das Liedes; sie werden einander jeweils überblendend betrachtet.