Aus dem Leben einer Missgeburt

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Aus dem Leben einer Missgeburt
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Der Autor:

Jahrgang 1958, lebt seit Jahren mit seiner Familie in München. Hauptberuflich in der Elektronik und Elektrotechnik tätig hat er jahrelang Handbücher und detaillierte illustrierte Reparaturanleitungen verfasst. Zuletzt arbeitete er als gefragter Ideengeber für komplizierte elektronische Anlagen und Prozesse. Einige beachtliche Comicbücher und Kurzgeschichten zählen zu seinem Portfolio. Die vierte Dimension Zeit spielt in der Elektronik eine große Rolle. Daher drehen sich die Geschichten in seinen Romanen um das zentrale Thema der Zeit und ihre Auswirkung auf den Menschen.

Ehrgeizig sein Projekt fünf unterschiedliche Romane zu verfassen und zu veröffentlichen.

Die Veröffentlichung der weiteren Titel,

Sterilis

Das zweite Gefühl

Der Steinzeitmensch erfolgt in Kürze. München, 2010

Aus dem Leben einer

Missgeburt

von

CHRISTIAN MANHART

Die ungewöhnliche Biographie eines ungewöhnlichen Menschen

Impressum:

Aus dem Leben einer Missgeburt

Christian Manhart

Copyright : © 2010 Christian Manhart

published by epubli GmbH, Berlin,

www.epubli.de

ISBN: 978-3-8442-0053-9

Schwere Geburt

Am Abend des 2.April 1802 lag im oberbayrischen Schliersee eine Bauersfrau in den Wehen. Es war bereits ihr siebtes Kind. Diese Schwangerschaft hatte aber besonders lange gedauert. Manchmal hatte die werdende Mutter das Gefühl, das Kleine wolle gar nicht auf die Welt kommen. Aber es war nicht tot. Es rührte sich. Sie spürte die Bewegungen jeden Tag in ihrem Bauch. Aber jetzt war es endlich soweit. Schon die ganze Woche quälte sich die Bäuerin mit dem werdenden Kind. Aber als sie mit den Mägden das Abendessen herrichtete, fühlte sie eine Flüssigkeit ihre Beine hinab rinnen. Die Fruchtblase war geplatzt. Eine Magd führte sie nach oben. Ein Knecht setzte sich auf den Einspänner und holte die Hebamme von zu Hause ab. Als sie nach zwei Stunden eintraf, hatte sie als erste Handlung alle aus dem Elternschlafzimmer verbannt. Die zwei Mägde wurden angewiesen unverzüglich ausgekochte, weiße Tücher herzurichten und in der Küche einen weiteren großen Topf mit heißem Wasser vorzubereiten. Kurz darauf lagen die dampfenden Tücher auf einem Stapel in der engen Kammer. Dann ging alles ganz schnell. Als hätte der Kleine nur darauf gewartet bis alles für ihn bereit war. Ein paar kurze feste Presswehen und schon war das Köpfchen zu sehen. Geschickt und routiniert nahm die Hebamme das Neugeborene in Empfang. Sie musste nur ganz wenig helfen. Wie von selbst kam das kleine Kind heraus. Sie begutachtete sogleich den kleinen schrumpeligen Körper. Gott sei Dank war alles an ihm dran.

Dann nahm die Hebamme den Kleinen und wickelte die Nabelschnur um einen Holzstab. Mit einem scharfen Messer schnitt sie das Fingerdicke Ding ab. Geschickt verknotete sie das Ende und drückte es dem Säugling in den Bauch. Sie schüttelte ihn ein wenig, dabei wog sie ihren den Kopf hin und her. Mit misstrauischem Blick mustert sie die Mutter, die noch keuchend auf dem Bett lag. Der kleine Bub hatte dichte, fast pechschwarze Haare. Aber es war etwas anders an ihm. Er war nicht dunkelrot wie die unzähligen Säuglinge die sie schon gesehen hat. Nein, schon wenige Minuten nach der Geburt, war seine Haut straff, samtig weich und glatt. Sie konnte es trotz dem schlechten Licht sehr gut sehen. Er hatte eine ungewöhnliche Farbe. Blau. Ein Blau das aussah als würde er frieren. Ein Blau, das durch die Haut schimmerte, als hätte er am ganzen Körper einen Bluterguss. Sie drückte vorsichtig leicht an seinem Ärmchen um die Adern darunter zu sehen. Ihre Farbe erschien ihr viel zu dunkel. Der Hebamme lief ein Schauer über den Rücken. War er am Ende vergiftet? Sie wusste, dass die Bäuerin weit über der Zeit war. Aber der Kleine bewegte sich. Machte den Mund auf und gähnte herzhaft. Der Mund war innen richtig dunkelblau. Rasch hielt sie ihm den Finger hin. Er begann heftig zu nuckeln. Sie seufzte.

Die Mutter rief nach ihr. Sie möchte ihren Sohn im Arm halten. Sie möchte ihn sehen.

„Gibs mir, is a Bua?“

Der Kleine machte einen glucksenden Quäker.

„Gleich, Anna.“

Die Hebamme hatte ihn schnell gesäubert und in ein festes Wickeltuch eingeschlagen. Das Baby hatte bereits am ganzen Leib gezittert und geschlottert. Mit einem flauen Gefühl im Magen hielt sie ihn der Mutter hin.

Die erschrak beim Anblick des blauen Kindes.

„Um Gottes Willen, der is ja ganz blau, frierts denn den? So koit is doch gar ned.“

‚Jacob’ so wird er heißen, war immer noch blassblau als würde er gotteserbärmlich frieren. Die Hebamme hatte es eben gleich gesehen, dass mit dem Neugeborenen etwas nicht stimmt. Missgeburten waren ihr Tagesgeschäft. Es gab schließlich viele verkrüppelte Kinder, Totgeburten und weitere Behinderungen. Solche Kinder sahen alle Beteiligten als eine große Strafe Gottes an. Im tiefgläubigen katholischen Oberbayern waren die Menschen immer besonders erschüttert, wenn in ihren Familien solche Kinder geboren wurden. Meistens wurden sie vor den anderen Dorfbewohnern versteckt, weil es eben eine Schande für die Familie darstellte. So etwas wie dieses blaue Kindchen deutete auf eine Blutvergiftung hin. Die Hebamme gab dem Kleinen nur ein paar Tage. Wenn er überhaupt die Nacht überlebte. Aber diesmal täuschte sich die erfahrene Hebamme.

Das Kind war eine zufällige Laune der Natur. Es hatte einen genetischen Defekt. Aus unserer Sicht der Normalität war es ein Defekt. Doch diese Sammlung von Anomalien zeigte bei Jakob einige bemerkenswerte positive Fähigkeiten. Die negativen Auswirkungen unter denen der kleine Jacob litt, sollten in gleichsam sein ganzes Leben begleiten.

Da war als deutliches äußeres Merkmal seine bläulich schimmernde Haut. Sie kam vom enorm hohen Stickstoffgehalt in seinem Blut. Er sollte unfassbar langsam wachsen. Seine körperliche Leistungsfähigkeit war nicht mit anderen Menschen vergleichbar. Bei allen schnellen und anstrengenden Tätigkeiten wird er ziemlich eingeschränkt sein. Erst viel später wird er gehen, aber niemals laufen oder Sport treiben können. Noch dazu wird es enorm lange dauern, bis er eine normale Menschliche Reife erreichen wird. Seine Zellen teilten sich dermaßen langsam, dass er weit mehr als doppelt so langsam altert wie ein normaler Mensch. Theoretisch würde ihm dieser Umstand, optimale Bedingungen, vorausgesetzt, ein sehr langes Leben bescheren.

Die Hebamme kam am nächsten Tag wieder und die Stimmung in der Familie Gurrer war gedrückt. Alle hatten natürlich das neue Familienmitglied genauestens in Augenschein genommen. Der Vater hatte ihn sogleich und unverblümt als Missgeburt bezeichnet. Die männlichen Geschwister schlossen sich erwartungsgemäß der Meinung des Bauern an. Schnell war allen bewusst:

Der Neue wird keine wirkliche Konkurrenz, kein Spielkamerad und schon gar keine Hilfe bei der schweren Arbeit auf dem Hof werden. Die Schwestern waren noch zu klein, um das Übel, das Jacob über die Familie gebracht hatte zu verstehen. Einzig in Anna, mit zehn Jahren schon ein großes Mädchen, entbrannte eine richtige Geschwisterliebe zu dem kleinen Kind mit der bläulich schimmernden kühlen Haut. Sie spürte, der Jacob braucht sie. So verband die beiden schon einen Tag nach der Geburt ein unsichtbares Band der Liebe. Außerdem gefiel ihr der Kleine. Er sah in ihren Augen traumhaft schön aus.

In der Kammer der Eltern betrachtete die Hebamme den kleinen Jakob noch einmal ausführlich. Die Mutter war noch erschöpft und nutzte die Gelegenheit sich auf dem Bett etwas auszuruhen.

Wohlproportioniert war sein Körper. Er hatte strahlend, eisblaue, wache Augen. Ein sehr hübscher Junge. Das sehr dunkle, tiefschwarze Haar hatte jetzt einen Tag nach der Geburt einen seidigen Glanz, angenommen. Es war fest und von einer glatten Oberfläche. Es fühlte sich an wie feinste Glasfäden. So ein Haar hatte die Hebamme noch niemals gesehen oder gefühlt. Er sah aus wie eine Porzellanpuppe. Nur seine Haut störte das Bild. Oder besser: was durch diese inzwischen dünne weißliche Haut durchschimmerte. Dieser dunkle rotblaue Ton des Neugeborenen war über Nacht verschwunden. Jetzt gab dieser blassbläuliche Farbton dem kleinen Jacob einen fast vornehm anmutenden Teint. Die Hautoberfläche war sehr glatt und fest. Sie fühlte sich sehr angenehm an. Aber er atmete sehr langsam. Viel zu langsam. Sie wiegte ihn in den Armen. Er knarrte und quiekte ein wenig – das war ein typisches Neugeborenengeräusch.

Doch alles in Ordnung? Nein, seine Atmung war viel zu langsam und unregelmäßig. Die Hebamme befühlte seine winzigen Händchen. Seine Fingerspitzen. Sie fühlten sich kalt an. Aber Jacob war in mehrere Lagen Tücher eingewickelt und es war sehr warm in dem Raum. Sie legte ihn auf das Bett und befreite ihn von den Tüchern. Als er so fast nackt vor ihr lag erschreckte sie sich förmlich. Diese bläuliche Haut. Sie beugte den Kopf zu ihm herunter und legte ihr Ohr auf den ihrer Erfahrung nach zu kühlen Brustkorb des Säuglings. Sein Herz schlug genauso langsam wie er atmete. Seltsam. Sie befreite ihn weiter von den Windeln. Da nahm sie einen sonderbaren Geruch war. Der Kleine stank unangenehm. Seine Windel war voll. Der Geruch wurde stärker. Die Hebamme kämpfte mit sich. Eine Übelkeit stieg in ihr auf. Dieses Gemisch aus Fäkalien und Verwesung erfüllte mittlerweile den ganzen Raum. Sie schluckte, versuchte die Übelkeit zu unterdrücken. Mit schnellen Schritten war sie am Fenster und riss es energisch auf. Tief atmete sie die frische Frühlingsluft ein. Sie liess das Fenster offen und ging wieder zu dem Säugling. Sie zuckte zusammen.

 

Ihr war plötzlich alles klar! Sie kannte diesen Geruch. Es war der eklige Gestank des Todes. Sie säuberte den Kleinen. Dabei beruhigte sie sich langsam wieder. Vielleicht erledigte sich die Sache ja auch von selber. Die Kindersterblichkeit war sehr hoch in Bayern. Und dieser durchdringende Verwesungsgeruch deutete auf abgestorbenes Gewebe in seinem Inneren hin.

Doch die Frau täuschte sich. In Jakobs Inneren war nichts abgestorben. Es waren lediglich seine Ausscheidungen die so stanken. Die Bakterien in seinen Gedärmen zersetzten die Nährstoffe wesentlich effektiver. Der dabei produzierte Kot stank im wahrsten Sinne des Wortes gottserbärmlich. Die Bäuerin war wieder aufgestanden und wollte von der Hebamme wissen:

„Was meinst? Is des normal?“

„Mhmm, also so fehlen tut ihm nix. Trinkt er?“

„Ja, aber so langsam, des konn i ned braucha.“

„Weißt du Bäuerin, a bissl schwach ist er schon, der Jacob. Wenn er aber die ersten zwei Wochen überstanden hat, dann brauchst dir keine Sorgen mehr machen.“

Traurig senkte die Bäuerin den Kopf und streichelte über das Köpfchen von Jakob.

„Hast’ du’s auch gerochen? Der stinkt ja wie zehn Odelgrubn zusammen.“

„Ja, Bäuerin, vielleicht kommt des, weil du schon über der Zeit warst.“

Die Bäuerin nickte verständnisvoll.

Die Hebamme holte nun eine Dose aus ihrer Tasche und schmiert den Jacob die Händchen und das Gesicht mit dem Inhalt ein. Die Dose gab sie der Mutter Gurrer.

„Er hat halt a bissl a dünne Haut, dass die Leut ned reden, schmierst ihn damit ei... und... Bäuerin, der Kloane is ned krank oder damisch, es is oas dro an eam. Vielleicht ist er was Besonderes. Aber nimms ned zu schwer wenn er es wirklich ned packen sollt.“

Die Bäuerin schaute die Hebamme fragend an. Die wickelte den Jacob wieder ein und legte ihn ihr auf die Brust. Jetzt sah der Jacob ganz normal und zufrieden aus. In der Salbe war eine Farbe reingemischt, wie in modernem Rouge. Die Mutter lächelte.

„So gfallt a ma schon viel besser.“

„Siehst du Bäuerin.“

Anders als die Hebamme befürchtet hatte, stirbt Jakob nicht. Im Gegenteil. Er lag in seinem Bettchen und schlief friedlich. Er erfreute sich bester Gesundheit. Er liess sich mit dem Trinken an der Brust unheimlich viel Zeit. Und wenn er die Stoffwindel füllte, war es fast nicht auszuhalten.

Wann immer der kleine Jacob fremden Personen gezeigt wurde, schmierte ihn seine Mutter vorher mit der roten Salbe ein. Die Familie findet sich notgedrungen mit seiner blauen Hautfarbe ab. Nicht jedoch mit seiner sonstigen Behinderung. Vor allem der Bauer selber beklagt mit den Jahren den zusätzlichen Esser, der ihm auf dem Hof nie wird helfen können. Außerdem fürchtet er das Gerede der Leute im Dorf. Ihnen allen wurde schon sehr bald nach seiner Geburt bewusst, dass er völlig anders als alle anderen Menschen ist.

Jacob musste deshalb den größten Teil seiner Kindheit im Haus verbringen. Man kann sagen, dass er von seinen Eltern und den Geschwistern regelrecht versteckt wurde.

Von seinen Schwestern wurde er allerdings geliebt und beschützt. Mädchen und Frauen wurden von seinem Aussehen und seiner seltsamen Art förmlich angezogen. Jacob wurde immer hübscher, je älter er wurde. Er hatte ein engelhaftes, fast androgynes Aussehen. Rein und unverdorben. Kühl und unnahbar. Sie verehrten ihn, weil er so anders war. Als wenn die Frauen und Mädchen wüssten welche Wirkung er als erwachsener Mann auf sie ausüben würde.

Seine Langsamkeit war für seine Mutter eine riesengroße Belastung, die sie jedoch gewillt war zu meistern. Kind war Kind, da machte sie keinen großen Unterschied. Das Anlegen an die Brust dauerte im Vergleich zu ihren anderen Kindern eine kleine Ewigkeit. Auch seine Bewegungen waren unendlich langsam. Richtig gegraust hat es der Mutter aber nur beim Wickeln des Säuglings. Sein Urin und Kot verbreitete einen ungeheuerlichen Gestank. Sein Urin den er in der Windel hinterließ war eher bräunlich und roch richtig unangenehm. Aber sein großes Geschäft, das war auch für die Mutter eine Herausforderung. Von grauer bis fast schwarzer Farbe war der Kot eingefärbt. Und der Gestank war eine ekelhafte Mischung aus Fäkalien und Verwesung. Das lag vielleicht wirklich daran, dass er nicht wie andere Kinder dauernd die Hosen voll hatte, sondern nur alle zwei, drei Tage oder noch länger. Es war aber wirklich abstoßend.

Nach gut einem halben Jahr war Jacob nur unmerklich größer geworden. Die herbeigerufene Hebamme untersuchte das Baby ein weiteres Mal ausgiebig. Sie konnte aber wieder nichts Krankhaftes feststellen. Seine Haut war noch fester geworden, genauso wie seine Ärmchen und Füße. Wenn er schrie, dann nur sehr kurz und mit langen Pausen dazwischen. Dabei wurde er fast dunkelblau im Gesicht. Das verlangsamte Wachstum konnte sich auch die erfahrene Hebamme nicht erklären. Dergleichen war ihr bis jetzt noch nicht begegnet. Sie war außerstande der Familie einen Rat zu geben, wie sie mit dem kleinen Jacob umgehen sollten. So blieb alles beim Alten. Denn zu einem ordentlichen Arzt oder ins Hospital, das konnten sich die Gurrers keinesfalls leisten.

Anna, seine Schwester kümmerte sich anstelle ihrer Mutter um Jakob, sooft und so gut es ging. Die anderen hatten genug mit sich selbst und der Bewirtschaftung des Hofes zu tun. Freie Zeit war sehr knapp auf dem Bauernhof. Jede Hand wurde gebraucht.

Zwei Jahre später lag Jacob immer noch in seinem Wiegebettchen. Er war jetzt schon erheblich größer geworden. Er konnte auch schon sitzen. Ein erheblicher Fortschritt in seinem Leben. Wenn es die Zeit zuließ, wurde er gerne von seinen älteren Schwestern herumgetragen. Wobei seine älteste Schwester Anna weiterhin ein besonderes Verhältnis zu ihm entwickelte. Sie war inzwischen auch die einzige, die es schaffte ihn zu säubern wenn er in die Windeln gemacht hatte. Die Mutter oder die Mägde wurden bei dieser Tätigkeit von einem nicht zu unterdrückenden Brechreiz befallen.

Ansonsten gingen sie mit ihm um wie mit einem Spielzeug. Wenn sie ihn auf den Boden legten, drehte er sich in Zeitlupentempo auf den Bauch. Dort verharrte er schwer atmend minutenlang. Bis er sich dann mühsam aufstützte und mit abgehakten Bewegungen wie eine Echse loskrabbelte. Immer mit Pausen zwischen jeder Bewegung. Nach ein paar Metern, war er meist so erschöpft, dass er zu Boden sank und einschlief. Die anderen Kinder lachten. Der Ton auf dem Bauernhof war ausgesprochen derb. Die männlichen Mitglieder dieser Gemeinschaft hatten nicht nur im wörtlichen Sinn die Hosen an. So wurde Jacob von ihnen nur als unnötiges Spielzeug, als Puppe für die Mädchen angesehen. Akzeptiert wurde Jacob von den Männern jedenfalls nicht im Geringsten. Da waren die Männer, jung wie alt, alle auf einer Linie. Für sie war Jacob ein lästiges Anhängsel. Eine Missgeburt. Ein unnötiger stinkender Esser. Etwas, wofür man sich zu schämen hatte. Auf Jakob brauchte man keinen der männlichen Gurrers ansprechen. Wenn außerhalb des Hofes, in der Dorfwirtschaft, oder bei anderen Feiertagen ein abfälliges Wort über den schwächlichen jüngsten Bruder fiel, flogen schon mal die Fäuste.

In der Bauernfamilie schliefen die Kinder, solange sie noch kleiner waren, normalerweise alle in einem Bett. Nur mit Jacob wollte keiner in einem Bett schlafen. Das lag natürlich hauptsächlich an seiner gelegentlichen Ausdünstung. Den Jacob war auch mit zwei Jahren immer noch nicht sauber. Deswegen konnte es passieren, dass er im Schlaf einen ziemlichen unangenehmen Geruch verbreitete. So zog die Anna mit Jacob in eine Gesindekammer. Ihr machte Jacob keine Angst und ihr grauste es auch nicht vor seinen körperlichen Absonderungen. Sie liebte ihn so wie er war. Für sie war Jacob etwas ganz Besonderes. Ein Geschenk Gottes. Für alle anderen eine Schande, eine Missgeburt.

Mit vier Jahren versuchte Jacob seine ersten Schritte. Das Gleichgewicht halten konnte er sehr gut. Aber sein Tempo sich zu bewegen, konnte man nicht als agile, kindliche Mobilität bezeichnen, eher als das Gegenteil. Die Mädchen sahen darüber hinweg, denn er war ein unglaublich hübscher Junge. Sein pechschwarzes Haar war sehr, sehr dicht und stets seidig glänzend. Auch ohne Waschen verfilzte es niemals. So glatt war es. Und fest. Man brauchte eine sehr scharfe Schere um es zu schneiden. Das Innere seines Mundes und seine Zunge waren gleichfalls von blauroter Farbe. Dazu die eisblauen leuchtenden Augen und sein bläulicher Teint. Diese Mischung gab ihm etwas mystisches, ja Exotisches. Und er entwickelte eine sehr freundliche, liebevolle Art. Wenn er lachte, blitzten seine makellosen weißen Zähne zwischen diesen blauroten Lippen hervor. Es verlieh ihm ein unwirkliches Aussehen.

So mancher Besuch, der ihn zu Gesicht bekam, schreckte vor ihm zurück. Ein kleiner hübscher Junge, der nicht redete, für sein Alter viel zu klein war und diese kühle Hautfarbe besaß, das war doch ziemlich unheimlich. Er lernte aber doch zu reden, sehr langsam und abgehackt. Das Keuchen zwischen den Worten wurde zu seinem Markenzeichen.

Wenn er abends mit Anna im Bett lag erzählte sie ihm immer Geschichten. Sie erzählte ihm von den Arbeiten auf dem Hof und was sie den ganzen Tag gearbeitet hatte. Geschichten aus der Schule interessierten ihn besonders. Bald merkte sie, dass Jakob diese Geschichten begierig aufnahm. Er verstand jedes Wort. Sein Körper passte nur nicht so richtig zu seinem Geist. Sie trug ihm in unzähligen Übungen kurze Sätze vor und Jakob versuchte sie flüssig nachzusprechen. Es fehlte ihm nicht am geistigen Verständnis, nein, er schaffte es nur nicht, mehrere Wörter hintereinander zu sprechen ohne Luft zu holen. Es klang sehr seltsam wenn er ein Gedicht aufsagte. Trotz seiner Fortschritte schickten sie ihn nicht auf die Schule. Schulpflicht gab es in Bayern erst seit wenigen Jahren. 1806 wurde sie eingeführt. Auf dem Land gab es verständlicherweise große Widerstände dagegen. Die Kinder wurden als Arbeitskräfte gebraucht. Deshalb wurde die allgemeine Schulpflicht bei der Landbevölkerung nicht flächendeckend eingehalten. Die staatlichen Behörden hatten große Nachsicht mit den Schulunwilligen. So war es nicht verwunderlich, dass Jakob von den Behörden gar nicht erst erfasst wurde.

Sein gesamtes Wissen und seine Bildung vermittelte ihm seine Schwester Anna. Dazu muss man wissen, es war üblich nur ein oder zwei Kinder zur Schule zu schicken, das genügte meistens, denn diese gaben ihren Lernstoff an die anderen Geschwister weiter. Ohne Anna hätte Jakob niemals Lesen und Schreiben gelernt. Sie war diejenige, die dafür sorgte dass ihr kleiner Bruder von der Welt da draußen etwas mitbekam. Jakob durfte, als er selber gehen konnte nur bei diversen familiären und kirchlichen Feiern dabei sein. Die restliche Zeit verbrachte er in der Kammer seiner Schwester. Manchmal, im Sommer, meistens am Sonntagnachmittag, da wurde nicht auf den Feldern oder im Haus gearbeitet, half Anna dem kleinen Jungen mit der blauen Hautfarbe ins Freie, an die frische Luft zu kommen. Das freute ihn besonders. Das Grün, die Blumen, das Geschwirr von Insekten, Jakob konnte sich nicht satt sehen.

Die Jahre vergingen. Die Kindheit dehnte und streckte sich über viele Jahre hinweg. Zäh und langsam waren die Tage für Jakob. Er wurde größer und größer, aber alle hatten das Gefühl er würde sein ganzes Leben lang ein Kind bleiben. Auch Jakob selber wusste nicht so recht ob er jemals die Größe und das Erscheinungsbild seiner Brüder oder seines Vaters erreichen würde. Wie er seine Tage als Erwachsener gestalten sollte, darüber hatte er keinerlei Vorstellung. So blieb ihm nichts anderes als zu warten.