Déjà-vu des Teufels

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Déjà-vu des Teufels
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Chris MARTIN

Déjà-vu des Teufels

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1.Akt

1. Tag; Montag, 2. September 2012

2. Tag; Dienstag, 3. September 2012

3. Tag; Mittwoch, 4. September

7. Tag; Montag, 10. September 2012

8. Tag; Dienstag, 11. September 2012

14. Tag; Montag, 17. September 2012

16. Tag; Mittwoch, 19. September 2012

2. Akt

17. Tag; Donnerstag, 20. September

18. Tag; Freitag, 21. September

19. Tag; Samstag, 22. September

20. Tag; Sonntag, 23. September

21. Tag; Montag, 24. September

22. Tag; Dienstag, 25. September

23. Tag; Mittwoch, 26. September

24. Tag; Donnerstag, 27. September

25. Tag; Freitag, 28. September

26. Tag; Samstag, 29. September

28. Tag; Montag, 1. Oktober

29. Tag; Dienstag, 2. Oktober

30. Tag; Mittwoch, 3.Oktober

3. Akt

16. Tag – Neu; Mittwoch, 19. September 2012

17. Tag – Neu; Donnerstag, 20. September 2012

18. Tag – Neu; Freitag, 21. September 2012

21. Tag – Neu; Montag, 24. September 2012

22. Tag – Neu; Dienstag, 25. September 2012

23. Tag – Neu; Mittwoch, 26. September 2012

24. Tag – Neu; Donnerstag, 27. September 2012

25. Tag – Neu; Freitag, 28. September 2012

28. Tag – Neu; Montag, 1. Oktober 2012

29. Tag- Neu; Dienstag, 2. Oktober 2012

30. Tag – Neu; Mittwoch, 3. Oktober 2012(Der Tag des Taj-Nu in der „Alten Zeit“)

Impressum

1.Akt

1. Tag; Montag, 2. September 2012

„Meine Damen und Herren Geschworenen, Hohes Gericht, meine sehr verehrte Frau Staatsanwältin. Wir haben nun mehr als ausführlich gehört, wie die Staatsanwaltschaft das Verbrechen meines Mandanten bewertet, wie ach so bestialisch mein Mandant zu Werke ging und welch enorme Gefahr für die Gesellschaft von ihm ausgeht und in Zukunft von ihm ausgehen wird.“

Dr. Ulrich Mekinsky legte eine schöpferische Pause ein und blickte sich im Großen Schwurgerichtssaal des Wiener Landesgerichtes um. Wie ein Raubtier seine Beute mustert, bevor es zuschlägt, so nahm der große, dunkelhaarige Mittvierziger in seinem exquisiten Hugo Boss-Anzug jede Regung der Anwesenden in sich auf. Der Vorsitzende der drei Berufsrichter, Dr. Peter Hartmann, der leicht gelangweilt dem Geschehen zu folgen versuchte, die Staatsanwältin Dr. Theresa Mühlbacher, jung, adrett, ohne aber wirklich hübsch zu sein – die acht Geschworenen, das Opfer und natürlich sein Mandant, der wegen Körperverletzung und Wiederbetätigung angeklagte Neonazi Gustav Brunner.

„Wir haben gehört, dass Herr Brunner am 5. Mai diesen Jahres Herrn Achmed Ben Khaheli vor der Discothek „Passage“ beleidigt und geschlagen hat“, fuhr Mekinsky fort, „und all das bestreitet auch niemand, aber …“, wieder legte der Anwalt eine kurze Pause ein und blickte dabei bewusst und herausfordernd in die Reihen der Geschworenen, „.. haben wir hier wirklich alle Facetten des Falles berücksichtigt? Die Kollegin von der Staatsanwaltschaft sieht in meinem Mandanten einen Schwerverbrecher, einen angehenden Killer, der auf alles Fremde reflexartig reagiert. Ich hingegen sehe einen jungen Mann von gerade einmal achtzehn Jahren, der in seinem Leben mehr erdulden musste, als wir alle uns hier vorstellen können. Die Staatsanwältin sieht in meinem Mandanten einen neuen Himmler, Goebbels oder gar einen neuen Führer – ich sehe einen jungen Mann, der, ohne je Liebe, Zuneigung oder Wertschätzung erhalten zu haben, in eine Gruppe geriet, die für ihn eine Art Familie geworden war.“ Mekinsky legte erneut eine Pause ein, trank einen Schluck Wasser aus dem vor ihm stehenden Glas und wandte sich wieder den Geschworenen zu.

„Meine Damen und Herren. Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen und ich möchte, dass Sie sich in diese Geschichte hineinversetzen. Erinnern Sie sich bitte an ein schönes Weihnachtsfest ihrer Jugendzeit. An Vater und Mutter, an die Geschenke, den weihnachtlichen Geruch, der sich von der Küche aus durch die ganze Wohnung verbreitete. Erinnern Sie sich an das gemeinsame Stille-Nacht-Singen, an die Sprühkerzen auf der Silbertanne und an den Geschmack des Weihnachtskarpfens. Mein Mandant hat all dies zu Weihnachten nie gehabt. Er musste für seine zwei Brüder sorgen, weil seine Mutter gerade wieder einmal unterwegs war, um irgendeinem geilen Bock für ein paar Euro einen zu blasen …“

„Herr Anwalt, ich möchte Sie höflich bitten, Ihre Wortwahl der Würde dieses Hauses anzupassen, wenn das für Sie nicht zu viel Mühe macht“, unterbrach der Richter spöttisch.

„Verzeihung, Euer Ehren, aber es ist nun einmal die Wahrheit.“ „Wahr ist auch, dass ich solche Ausdrücke in meinem Gerichtssaal nicht zulassen werde, haben wir uns verstanden?“

„Natürlich, Euer Ehren, tut mir aufrichtig leid. Also zurück zum typischen Weihnachtsfest meines Mandanten. Während also seine Mutter nicht da war, musste er sich um seine Brüder kümmern. Kein Spielen, kein warmes Essen, kein gemeinsames Singen – dafür aber die Angst, dass jederzeit sein alkoholkranker Stiefvater heimkommen könnte und es, wie so oft, wieder Prügel für alle geben würde.“

Die Staatsanwältin kämpfte sichtlich damit, ihm nicht ins Wort zu fallen und Mekinsky fuhr auch schon fort.

„Bewiesen, Euer Ehren, durch diese aktenkundigen Anzeigen bei der Bundespolizeidirektion Wien – insgesamt sechsundzwanzig Stück in einem Zeitraum von etwa viereinhalb Jahren.“ Er hielt eine Heftmappe in die Luft und drehte sich einmal im Kreis, damit auch jeder mitbekam, wie umfangreich dieser Akt tatsächlich war.

„Und diese Prügel waren kein perverses Weihnachtsgeschenk. Nein, diese Prügel waren der Alltag für Gustav Brunner. In der Schule war es nicht anders, darüber hat der Sachverständige ausführlich berichtet. Und ich habe keine Zweifel an dem, was wir gehört haben.“

Mekinsky legte erneut eine Pause ein, strich sich mit der Hand über das perfekt rasierte Kinn und stellte fest, dass seine Worte die Geschworenen berührt oder zumindest nachdenklich gemacht hatten.

„Aber dann erschien ein Licht am Ende des Tunnels im Leben meines Mandanten“, setzte Mekinsky fort, „er traf auf die „White Warriors“, eine Neonazi-Gruppierung nach Einschätzung des Staatsschutzes, aber eine neue Heimat für meinen Mandanten. Endlich Anerkennung, endlich Gemeinsamkeiten und, im Hinblick auf die Zeugin Nicole Trettner, auch so etwas wie die erste Liebe. Mein Mandant, meine Damen und Herren Geschworenen, hatte erstmals einen Platz im Leben, einen Ort, an dem er sich akzeptiert fühlte. Natürlich wissen wir hier alle, dass es der denkbar falscheste Ort war. Aber wie, frage ich Sie, hätte das ein Junge von gerade einmal vierzehn Jahren wissen sollen? Die Lebenseinstellung seiner Freunde wurde zu seiner eigenen. Und als man ihm klarmachte, dass in den Augen der „White Warriors“ Ausländer Abschaum sind, war er bereit, seinen falschen Freunden Glauben zu schenken. Wenn Sie, meine Damen und Herren Geschworenen, absolut sicher sind, dass Sie anstelle meines Mandanten anders gehandelt hätten, dann – aber bitte nur dann – sprechen Sie meinen Mandanten der Wiederbetätigung schuldig. Ansonsten beantrage ich für die begangene und - nebenbei - eingestandene Körperverletzung eine bedingte Strafe von nicht mehr als sechs Monaten und zusätzlich 40 Stunden sozialer Dienst in einer noch zu bestimmenden Einrichtung. Ich danke Ihnen.“

 

Bei Mekinskys Schlussworten setzte wieder reges Gemurmel im Gerichtssaal ein. Er merkte, dass sein Plädoyer den gewünschten Eindruck bei den Geschworenen hinterlassen hatte. Mit ernster Miene, aber innerlich belustigt, schritt er würdevoll zu seinem Tisch, legte Brunner wie mitfühlend die Hand auf die Schulter und setzte sich neben seinen Assistenten Markus Kienzl.

„Die Damen und Herren Geschworenen haben nun beide Seiten gehört,“ stellte Richter Hartmann fest, „bitte wägen Sie in Ihrer nun folgenden Juryberatung alle Argumente, Zeugenaussagen und Beweise nach bestem Wissen und Gewissen ab und treffen Sie danach Ihre Entscheidung. Gerichtsdiener, begleiten Sie die Geschworenen in das Beratungszimmer.“

Der Gerichtsdiener erhob sich und lotste die Geschworenen aus dem Saal. Mekinskys Blick kreuzte zufällig jenen von Ben Khaheli, das Opfer Brunners Gewalttätigkeiten, und der Anwalt konnte dessen Verachtung fast körperlich spüren. Schnell drehte er sich zu seinem Assistenten um.

„Lust auf einen Cappuccino, Markus?“

„Klar, wenn Sie zahlen.“

„Aber sicher. Schöne Erfolge soll man doch gebührend feiern, findest du nicht?“

„Was macht Sie so sicher, dass die Sache durch ist?“, fragte der Assistent, während er die Unterlagen in seinem Aktenkoffer verstaute und seinem Chef nachhetzte. Mekinsky hatte schon zwei Schritte Vorsprung blieb aber abrupt stehen. In der vorletzten Reihe saß ein Mann, dessen äußere Erscheinung nirgendwo unpassender erschien als in einem Wiener Gerichtssaal. Der Mann trug ein Stirnband mit seltsamen, rotgelben Symbolen, ähnlich jenen, die von Indianern oder Hippies getragen werden. Sein langes, schmutziggraues Haar umrahmte ein wettergegerbtes, braungebranntes Gesicht, dem nur schwer ein genaues Alter zuzuordnen war. Das weiße Hemd umhüllte einen schlanken, drahtigen Körper, der so im Widerspruch zum Gesicht des Mannes stand wie die Sonne zum Mond. Mit stechendem Blick aus schwarzen Augen, die ebenso gut ein Tor direkt in die Hölle sein konnten, musterte der Mann den Anwalt.

„Gut gemacht, Staranwalt“, wandte sich der Fremde an Mekinsky, „beeindruckend, wie Sie sich für Ihren Mandanten einsetzen.“

„D-Danke“, erwiderte Mekinsky verwirrt. Die Anrede Staranwalt irritierte ihn. Okay, er war ein Staranwalt. Mit allen Facetten, die dazugehörten. Aber er verbot jedem, ihn so zu nennen, auch wenn es ihm insgeheim schmeichelte. In seiner Kanzlei Griess, Mekinsky & Partner jedenfalls kam diese vermeintliche Bescheidenheit gut an. Wie, zum Teufel, kam der Alte dazu, ihn so zu nennen? Ehe er sich ein genaueres Bild machen konnte, schob ihn Markus weiter.

„Wir sollten uns beeilen, sonst bleibt nur ein Stehkaffee“, drängte Markus. Das Argument zog. Hastig schritten die beiden Juristen Richtung Cafeteria, wo sie gerade noch den letzten freien Tisch ergattern konnten.

„Zwei Cappuccino, Claudia“, bestellte Mekinsky in Richtung Theke und wandte sich an seinen Assistenten. „Hast du den Alten mit dem Stirnband und den grauen Haaren gesehen?“

„Nein, was ist mit dem?“

„Nichts – aber der hat mich angesehen, als würde er mich fressen wollen und nannte mich Staranwalt.“

„Na und – Sie sind doch einer“, grinste Markus frech.

„Willst du deinen Kaffee aus der Schnabeltasse schlürfen?“

Markus Kienzl schmunzelte, was den spitzbübischen Ausdruck seines jungen Gesichtes noch verstärkte. Er war Ende zwanzig, groß gewachsen, etwas schlaksig, aber durchaus der Typ Mädchenschwarm. Ein Image, das ihm bei Griess, Mekinsky & Partner auch durchaus anhaftete, obwohl niemand je einen Beweis für die Richtigkeit gehabt hätte. Das Du-Sie-Verhältnis zwischen seinem Chef und ihm ging darauf zurück, dass Mekinsky seinen Assistenten von Anfang an duzte und Kienzl das Du-Wort erst dann zugestehen wollte, wenn dieser einen entscheidenden Hinweis in einem Fall beigesteuert hätte. Markus Kienzl nahm es mit Ironie, denn in der Realität hatten schon einige Fälle des Chefs durch ihn einen oft unerwarteten positiven Ausgang genommen.

Die beiden Anwälte diskutierten, während sie ihre Getränke konsumierten, über eine neue Idee der Wiener Grünen betreffend Verkehrspolitik und waren sich alsbald einig, dass es sich dabei um kompletten Schwachsinn handelte.

„Ich bin gespannt, wie sich die Jury entscheidet“, wechselte Kienzl das Thema, „die Geschworenen haben nach Ihrem Plädoyer auf mich mehrheitlich überzeugt gewirkt.“

„Kann man nie wissen, aber in Kürze sind wir schlauer.“ Wie auf ein geheimes Zeichen hin ertönte eine Glocke in der kleinen Cafeteria, die signalisierte, dass die Verhandlung fortgesetzt wurde. Mekinsky legte fünf Euro auf den Tisch und die beiden Juristen begaben sich in den Gerichtssaal zurück. Beim Eintreten ertappte sich Mekinsky dabei, wie er als erstes dorthin blickte, wo vorhin der Fremde gesessen hatte. Doch der Platz war leer.

Brunner wurde von zwei Justizwachebeamten hereingeführt und nahm zwischen seinen Verteidigern Platz. Mekinsky und Kienzl versuchten aus den Gesichtern der Geschworenen abzulesen, wie es gelaufen sein könnte, doch die meisten blickten nur starr zu Boden.

„Sehr geehrte Damen und Herren, erheben Sie sich bitte für die Urteilsverkündung“, forderte der Gerichtsdiener und alle im Saal leisteten, von Spannung erfüllt, Folge. Richter Hartmann eröffnete das Finale.

„Meine Damen und Herren Geschworene, sind Sie zu einem Urteil gekommen?“

Der Vorsitzende der Geschworenen erhob sich.

„Ja, Euer Ehren, das sind wir.“

Der Gerichtsdiener schritt würdevoll zur Geschworenenbank, wo ihm der Vorsitzende ein Stück Papier überreichte. Der Beamte gab es an den Richter weiter. Hartmann setzte sich die Lesebrille auf, faltete das Schriftstück auseinander und verkündete: „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Herr Gustav Brunner ist schuldig der fahrlässigen Körperverletzung gemäß § 88 des österreichischen Strafgesetzbuches. Herr Brunner ist weiter betreffend die Anklage nach dem Verbotsgesetz 1947– Wiederbetätigung – nicht schuldig.“ Heftiges Stimmengemurmel setzte ein. Ben Khaheli stieß einen Schrei aus und sprang, wie viele andere auch, auf.

„Ruhe im Saal, Ruhe!“, forderte Richter Hartmann, und zum Zeichen des Nachdrucks hämmerte er lautstark auf seine Tischplatte. „Ruhe, oder ich lasse den Saal räumen!“

Brunner fiel Mekinsky in die Arme, und Kienzl folgte seinem Beispiel. Die drei Männer hinter dem Tisch der Verteidigung benahmen sich wie Fußballspieler nach dem erlösenden Tor.

„Gustav Brunner wird daher zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, davon drei zur Bewährung ausgesetzt, verurteilt“, verkündete der vorsitzende Richter weiter. „Die verbüßte Zeit in der Untersuchungshaft wird angerechnet. Gegen dieses Urteil kann binnen vierzehn Tagen schriftlich Berufung erhoben werden. Damit ist die heutige Sitzung beendet.“

Der Hammer sauste wie zur Bestätigung auf die Tischplatte des Richters und wirkte wie ein Signal. Brunner löste sich von seinem Anwalt und dieser erkannte Tränen in den Augen des Neonazis. Dieser hartgesottene Mann, der keinerlei Skrupel kannte, einen anderen Menschen nur wegen dessen Herkunft zu verprügeln, hatte tatsächlich feuchte Augen. Angewidert wandte sich Mekinsky ab, zog Kienzl hinter sich her und kämpfte sich durch die Menge der Prozessbesucher Richtung Ausgang.

„Dafür möge der Teufel Sie verfluchen und Ihre Seele in die ewige Verdammnis stürzen!“, schrie Ben Khaheli Mekinsky nach. Der tat so, als höre er nichts und schlüpfte, Kienzl wie einen treuen Hund im Schlepptau, aus dem Gerichtssaal. Die beiden Anwälte hasteten durch einen Nebenausgang aus dem Gerichtsgebäude, überquerten die Alserstraße und näherten sich der Tiefgarage.

„Kann ich mir noch schnell Zigaretten besorgen?“, fragte der Assistent.

„Gut, wir treffen uns dann hier. Ich hole inzwischen den Wagen.“

Mekinsky ging durch die Treppe ins Untergeschoß des Parkhauses, zahlte am Ticketautomaten und fuhr mit dem Lift in Ebene -4. Er verließ den stickigen Lift, orientierte sich kurz und wandte sich dann nach links. Am Morgen, unter der Anspannung des auf ihn zukommenden Prozesses, hatte er nicht auf die Parkplatznummer geachtet. Jetzt blieb nur Suchen, aber zum Glück war das Parkdeck nicht all zu dicht besetzt.

„Kompliment, Staranwalt, ER ist zufrieden mit dir.“ Mekinsky fuhr herum, sah aber weit und breit niemanden.

„Hallo, ist da jemand? Wer ist da?“

Nichts. Totenstille. Nur das leise Surren der Lüftung. Vier Stockwerke unter der Erde. Eine eigene Welt.

Ich glaube, ich bin überarbeitet.

„Hallo!“, versuchte es Mekinsky nochmals. Keine Antwort. Er drückte die Fernbedienung seines Wagens und die Blinker einer schwarzen Mercedes S-Klasse, nur wenige Meter von ihm entfernt, flackerten auf. Hastig öffnete er die Fahrertür, warf seinen Aktenkoffer in den Fond und stieg ein. Mit einem Kavalierstart katapultierte sich der Mercedes aus der Parklücke und raste die Auffahrt Stockwerk um Stockwerk empor.

Mekinsky konnte sich plötzlich wieder erinnern, wem diese Stimme gehörte.

Dem alten Mann mit dem Stirnband aus dem Gerichtssaal!

Der Fremde wurde ihm, je länger er an ihn dachte, immer unheimlicher. Und der Umstand, dass er ihn in einer menschenleeren Parkgarage gehört, aber nicht gesehen hatte, trug auch nicht gerade zu seiner Beruhigung bei. Oben angekommen musste er heftig bremsen, um seinen Assistenten nicht anzufahren.

„He, nicht so hurtig, was ist denn in Sie gefahren?“, fragte Kienzl während er einstieg, ersparte sich aber jeden weiteren Kommentar als er das aschfahle Gesicht seines Chefs sah.

„Nichts, alles okay“, log Mekinsky, „fahren wir ins „Känguruh“. Zur Feier des Tages gönnen wir uns ein gutes, kühles Bier.“ Kienzl erwiderte nichts. Er wusste, dass es bei seinem Boss selten bei einem Bier blieb, schon gar nicht nach einem Erfolg vor Gericht. Mekinsky steuerte schweigend den Mercedes in Richtung des Lokals. In Gedanken war er immer noch bei dem alten Mann aus dem Gerichtssaal. Kienzl dachte an einen schönen Abend mit seiner Freundin Elisabeth, den er wohl heute vergessen konnte, außer, Mekinsky kam irgendwann auf die Idee, allein weitertrinken zu wollen. Dass Mekinsky das Känguruh-Pub nüchtern verlassen würde, war unwahrscheinlicher als ein Weltmeistertitel für die österreichische Fußballnationalmannschaft.

Kienzl hatte die rettende Idee, als Mekinsky vor dem Pub in der Bürgerspitalgasse umständlich einparkte.

„Was halten Sie davon, wenn wir Bettina und Claudia herbestellen?“, fragte er scheinbar harmlos, „nette Damen an einem Tag zum Feiern haben noch nie gestört, oder?“

„Gute Idee. Sag den beiden, sie sollen sich ein Taxi nehmen und so rasch es geht herkommen. Ausreden gelten nicht“, antwortete Mekinsky gönnerhaft. Kienzl rief in der Kanzlei an und lud die beiden Gehilfinnen ein.

Die Anwälte nahmen in dem dunkel getäfelten Bier-Pub an einem Ecktisch Platz. Irische Folklore drang aus einer unsichtbaren Lautsprecherbox. Dezent, aber doch irgendwie die Stimmung des Lokals mittragend. Kienzl steckte sich eine Marlboro-Light an, Mekinsky zupfte an seiner Krawatte und nahm sie schließlich ab.

Das Pub unweit des Raimund-Theaters war noch nicht wirklich gut besucht. Ein paar Tische weiter unterhielten sich einige Studenten lautstark über einen schrulligen Professor, nahmen aber von den Anwälten keinerlei Notiz.

„Tag, die Herren, was darf´s denn sein?“, fragte Ritchie, der Kellner des Pubs, freundlich. Der Stammgast Mekinsky bedeutete für ihn Umsatz und Trinkgeld der Extraklasse. Zumindest dann, wenn dieser einen Fall gewonnen hatte. Er reichte die Karte, die beide Anwälte aber nicht nahmen.

„Ein großes Murauer“, orderte Kienzl.

„Und für mich ein Chimay Bleue“, fügte Mekinsky hinzu. Ritchie wusste nun, dass der Topanwalt einen Sieg errungen hatte.

Wann immer dem so war, bestellte Mekinsky das schwarze, belgische Trappistenbier - und meist blieb es nicht bei einem. Der Strafverteidiger liebte das exotische Bier, dass ursprünglich nur in den Niederlanden und in Belgien von Mönchen gebraut wurde. Irgendwo hatte Mekinsky vor kurzem gelesen, dass nun auch Trappistenmönche in Oberösterreich das Recht erhalten hatten, dieses rare Bier herzustellen. Aber er hatte sich den Ort nicht gemerkt.

 

Die beiden Männer unterhielten sich über Belangloses, Mekinsky bestellte ein weiteres Trappistenbier und schließlich trafen die beiden Mitarbeiterinnen der Kanzlei Griess, Mekinsky & Partner ein.

Bettina Hofer war Mitte zwanzig, elegant, aber nicht protzig gekleidet und verfügte nach Meinung Mekinskys über das charmanteste Lächeln überhaupt. Ihr schwarzer Pagenschnitt passte hervorragend zu ihrem Jungmädchengesicht. Optisch das Gegenteil dazu bildete Claudia Trinkl: etwas älter als ihre Kollegin, Typ Business-Blondine. Ihr Stil war eleganter, ihre Art zu sprechen distanzierter. Trinkl war erst seit kurzem in der Kanzlei beschäftigt, Mekinskys Partner Gernot Griess zugeteilt, aber sie bildete mit ihrer Kollegin trotz der Unterschiede schon jetzt ein gutes Team. Kienzl und sein Boss nannten die beiden unter sich „Black & White“, hüteten sich aber, diese scherzhafte Bezeichnung gegenüber anderen Kollegen laut auszusprechen.

Ritchie brachte unaufgefordert zwei Vodka-Red Bull, ein weiteres Chimay Bleue und schaute Kienzl fragend an, der nur stumm verneinte.

„Mädels, schön, dass ihr da seid“, ergriff Mekinsky das Wort, „ich darf verkünden: Der Fall Brunner ist positiv abgeschlossen.“ Die beiden Sekretärinnen applaudierten synchron und spontan.

Mekinsky erhob sich und rief in den Raum: „Ein Hoch auf unsere Justiz – ein dreifaches Hoch – hoch, hoch, hoch!“ Die anwesenden Studenten ignorierten ihn, aber Kienzl zog seinen Chef trotzdem auf den Sessel zurück.

„Wie haben Sie es denn geschafft, das Ekelpaket raus zu pauken?“, fragte Bettina neugierig.

„Der Chef hielt ein Plädoyer, da griffen die Geschworenen samt Berufsrichter zum Taschentuch“, warf Kienzl schmunzelnd ein, „das hättet ihr sehen sollen.

„Naja, er ist und bleibt unser Staranwalt“, stellte Claudia fest. Mekinsky erstarrte. Wieder fiel ihm der alte Mann ein.

„Was haben Sie eben gesagt?“, fragte er nach. Claudia schaute Mekinsky nur verlegen an. „Ich bin verdammt noch mal kein Staranwalt, ist das klar?“

„Tut mir leid, Herr Doktor, ich wollte nicht …“, stammelte Claudia.

„Schon okay, alles in Ordnung“, bremste Mekinsky seinen eigenen Wutausbruch, besänftigt auch durch den Nachschub an Bier, den Ritchie vor ihm abstellte. Die Gruppe unterhielt sich noch über belanglose Themen und Bettina erzählte ihrem Chef, dass er morgen einen Termin mit einem neuen Klienten habe, dem ein Prozess wegen Satanismus bevorstand.

„Nur gut, dass ich heute mit Mönchsbier meine Immunität gegen die Teufelskinder gestärkt habe“, lachte Mekinsky.

Die gute Stimmung nutzend, verabschiedete sich Kienzl. Offiziell, um ins Bett zu gehen, in Wahrheit aber, um zu seiner Freundin zu fahren. Auch die beiden Mädchen verließen Mekinsky, der, nun allein, noch ein Fluchtbier bestellte.

Danach beglich er die Rechnung von sechsundachtzig Euro gönnerhaft mit einem Hunderter und verließ das Pub.

Schwankend näherte er sich seinem Wagen, zupfte einen Strafzettel von der Windschutzscheibe und warf ihn achtlos auf die Straße. Er startete den Mercedes und fuhr Richtung Oberlaa zu seinem Haus. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, dass sein Alkoholkonsum weit über dem erlaubten Maße für das Lenken eines Fahrzeuges lag. Seine Gedanken kreisten vielmehr um das, was Bettina vorhin erzählt hatte.

Satanisten. Teufelsanbeter. Was können die wohl schon großartiges angestellt haben?

Beim Matzleinsdorfer Platz kontrollierten zwei Polizisten vorbeifahrende Autos, waren aber zu beschäftigt mit anderen Lenkern, um Mekinsky gefährlich werden zu können. Unbehelligt kam er bis zu seinem Haus, parkte den Mercedes in der Garage und begab sich ins Innere. Er machte kein Licht, um seine Frau Katrin und Lisa, seine Tochter, nicht zu wecken. Über die Treppe im großen Wohnraum schlich er in den ersten Stock, öffnete die Badezimmertür, zog sich aus und stieg in die Dusche. Das heiße Wasser rann über seinen noch immer durchtrainierten, solarium-gebräunten Körper. Mit sich und der Welt zufrieden stieg Mekinsky aus der Dusche, trocknete sich komplett ab und verharrte vor dem mannshohen Spiegel.

Nach ausgiebiger Selbstmusterung verließ er das Badezimmer, schlich zu Lisas Zimmer, öffnete es leise und sah von der Tür aus seine Tochter schlafend im Bett liegen. Lisa war sein ein und alles. Für sie würde er alles tun. Sie war nun schon fast siebzehn, praktisch eine voll erblühte Frau. Daran konnte auch ihr oftmals mädchenhaftes Gehabe nichts ändern. Es war ihm klar, dass der Tag, an dem sie selbst eine Familie gründen und damit ein eigenes Leben jenem bei Katrin und ihm vorziehen würde, bald anstehen würde. Obwohl er noch nie etwas davon mitbekommen hatte, war ihm auch bewusst, dass Lisa schon jetzt von Verehrern heftig umschwärmt wurde. Aber wer konnte es den jungen Männern verübeln? Ihre langes, blondes Haar, ihr feengleiches Gesicht und die von ihrer Mutter geerbte perfekte Figur ließen wohl viele Männerherzen höher schlagen. Dazu kam ihre natürliche, charmante und herzliche Art. Der Umstand, dass sie aus einer angesehenen und wohlhabenden Familie kam, wirkte sich vermutlich auf potentielle Verehrer auch nicht unbedingt negativ aus.

Mekinsky schloss leise die Tür und ging Richtung Schlafzimmer. Bevor er eintrat, blickte er noch auf seine Rolex Submariner.

Halb zwei Uhr früh. Ihn plagte ein kurzer Anflug von schlechtem Gewissen, ehe er die Tür öffnete und hineinging. Katrin schlief schon und er legte sich rasch ins Bett, küsste seine Frau auf die nackten Schultern und raunte ihr ein „Gute Nacht, Schatz“, zu.

Katrin murmelte „Wäh, du hast getrunken!“ - Mekinsky schlief in der Sekunde ein.