Der Schlüssel zur Tragödie

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Der Schlüssel zur Tragödie
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Caroline Dänzer

Der Schlüssel zur Tragödie

Der senecanische Chor in Jakob Baldes dramatischem Werk

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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Würzburg, Univ., Diss., 2019

© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.narr.de • info@narr.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-8233-8383-3 (Print)

ISBN 978-3-8233-0235-3 (ePub)

Inhalt

  Vorwort

  Einführung

  1. Das barocke Jesuitentheater

  2. Jakob Baldes Chor: Lieder nach dem Vorbild Senecas

  A. Der Chor in den Tragödien Senecas

 1. Grundlegende Prämissen1.1. Aufführbarkeit1.2. Datierung1.3. Theodizee

  2. Die verschiedenen Deutungen der Chorlieder

  3. Die Chorlieder als mise-en-abyme der Tragödie

 4. Fallbeispiele4.1. Oedipus4.1.1. Exposition des Leids4.1.2. Göttliche Strafe für vorsätzlichen Frevel4.1.3. Göttliche Strafe für unabsichtlichen Frevel4.1.4. Utopie: Selbstbestimmung des Menschen4.1.5. Realität: Unausweichliche Determination durch das fatum4.1.6. Oedipus: Einsicht in die existentielle Absurdität4.2. Troades4.2.1. Der Tod als universell gültiger Ausweg aus dem Leid?4.2.2. Ist der Tod besser als das Leben?4.2.3. Weiterleben(müssen?)4.2.4. Der richtige Umgang mit einem ungnädigen fatum4.2.5. Astyanax und Polyxena: ein heroischer Tod?4.2.6. Troades: Die Würde als Ermessensspielraum des Individuums

  5. Seneca und das fatum: Die Tragödien als resignative Reflexion

  B. Der senecanische Chor in Jakob Baldes dramatischem Werk

 1. Chorfunktionen in nicht-tragischen Werken1.1. Was ist ein tragischer Chor: Regnum poetarum1.2. Gattungsmarker: Iocus serius1.3. Ordnende Konstante: Tilly1.4. Emotionale Verstärkung: Philomela1.5. Ohne Chor: Drama Georgicum1.6. Ein Grenzfall: Arion Scaldicus

 2. Chorfunktionen in der Tragödie: Jephtias2.1. Problematik des Stoffes2.2. Jephte (1637) und Jephtias (1654)2.2.1. Der Jephte als Tragödie nach klassischem Ideal2.2.2. Die Einführung der Figur des Ariphanasso2.2.3. Die explizitere Typologie in der Jephtias2.2.4. Jephte und Jephtias als Bühnenstücke2.2.5. Der Chor im Jephte2.3. Die Chorlieder der Jephtias2.3.1. Der Chor nach senecanischem Muster2.3.2. Der Chor auf Abwegen: Verlust der mise-en-abyme-Funktion2.3.3. Die Melodramatica2.4. Die Jephtias als Synthese von Gattungskonzeptionen und Gedankenwelt

  Ergebnisse

  Literatur

  Verzeichnis der Werke Baldes

  Verzeichnis der Werke Senecas

  Namensverzeichnis

Meinen Eltern und Großeltern

Vorwort

Die vorliegende Studie ist die geringfügig überarbeitete Fassung meiner 2019 an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg abgeschlossenen Dissertation.

An erster Stelle möchte ich meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Thomas Baier danken, der mich auf die Verbindung zwischen Seneca und Balde aufmerksam gemacht hat. Er hat mein Interesse am wissenschaftlichen Arbeiten geweckt und meine Forschungen stets begleitet und gefördert.

Für wertvolle Hinweise und die Zweitbegutachtung danke ich Frau Prof. Dr. Claudia Wiener, München.

Die Studienstiftung des Deutschen Volkes hat das Entstehen dieser Arbeit mit einem dreijährigen Promotionsstipendium ideell und finanziell gefördert und auch die Forschungsaufenthalte in Innsbruck und Paris unterstützt. Für das freie und intensive Arbeiten, das mir so ermöglicht wurde, gebührt ihr größter Dank.

Bedanken möchte ich mich außerdem bei der Bibliothèque nationale de France und der Ecole normale supérieure Paris, namentlich bei Frau Prof. Dr. Mathilde Mahé-Simon und Herrn Prof. Dr. Jean Trinquier, die mir Zugang zu ihren Bibliotheksbeständen gewährt haben.

Das Ludwig-Boltzmann-Institut Innsbruck hat den Beginn meiner Dissertation mit einem sechsmonatigen Fellowship gefördert und mich später erneut für einen Forschungsaufenthalt unter sein Dach genommen. Das offene Diskussionsklima, die freundliche Atmosphäre und die vielfältige Beschäftigung mit neulateinischen Forschungsfeldern haben mir entscheidende Impulse und viel Freude bei meiner Arbeit gegeben. Dafür danke ich allen Institutsmitarbeitern und insbesondere Herrn Prof. Dr. Florian Schaffenrath.

Ferner gilt mein Dank den Herren Professoren Thomas Baier, Wolfgang Kofler, Eckard Lefèvre und Stefan Tilg für die Aufnahme meiner Dissertation in die Reihe NeoLatina sowie den Herren Tillmann Bub und Arkin Keskin vom Narr Francke Attempto Verlag für die Unterstützung und freundliche Beratung bei der Herstellung der Druckvorlage. Für die Mühe des Korrekturlesens danke ich Manfred und Tobias Dänzer sowie Susanna und Christoph Weber.

Besonders erwähnen möchte ich zudem Herrn AD Ralf Wünsch, der mir als erster ein senecanisches Chorlied zur Analyse vorgelegt hat und für maßgebliche Richtungsentscheidungen meines Lebenswegs Verantwortung trägt.

Schließlich möchte ich von ganzem Herzen meinem Mann Tobias danken, der mich immer darin bestätigt hat, wie wichtig der eigene Blick für das Erstaunliche ist.

Widmen möchte ich dieses Buch meinen Eltern, Susanna und Christoph Weber, sowie meinen Großeltern, Justus und Barbara Krümpelmann. Sie alle haben mir gezeigt, dass die Literatur eine Tür ist, die sich stets zu öffnen lohnt.

Würzburg, im Juli 2020 C.D.

Einführung

Im Jahre 1668, vor gut 350 Jahren, verstarb der Jesuitenpater Jakob Balde, der als einer der wichtigsten neulateinischen Autoren in die Literaturgeschichte eingehen sollte.1 1604 im elsässischen Ensisheim geboren, führte ihn sein Weg nach Ingolstadt, Innsbruck, München, Landshut, Amberg und Neuburg an der Donau. Dort war er unter anderem als Lehrer, Rhetorikprofessor, Hofhistoriograph und Prediger tätig, doch machte er sich vor allem als Dichter einen Namen. Balde hat ein umfangreiches Erbe hinterlassen, das sich auf nahezu alle neulateinischen Gattungen erstreckt und sich in einer schier unüberschaubaren Menge an Erzeugnissen manifestiert.2 Berühmt wurde er besonders für sein lyrisches Werk, das ihm den Titel Deutscher HorazHoraz einbrachte. Auch heute widmet sich die Forschung vorrangig seinen OdenOden und SatirenSatiren.3 Deutlich weniger Beachtung fand hingegen Baldes Betätigung als Dramatiker. Dies steht weder im Verhältnis zur Qualität noch zur Quantität der überlieferten Schriften. Neben den zwei durchgehend dramatischen Stücken, der Tragikomödie Iocus seriusIocus serius und der Bibeltragödie JephtiasJephtias, ist eine Fülle von Werken unterschiedlicher dramatischer Ausprägung erhalten: Das Regnum poetarumRegnum poetarum, der TillyTilly, die PhilomelaPhilomela, das Drama GeorgicumDrama Georgicum und der Arion ScaldicusArion Scaldicus. Insgesamt sind diese Werke nur unzureichend erschlossen. Neben einem grundlegenden Aufsatz von Stroh zum Dramatiker Balde4 existieren vor allem Einzelstudien zu einigen der Stücke, besonders zur JephtiasJephtias.5 Nicht hinreichend untersucht sind jedoch bislang Techniken und Elemente, die für Baldes dramatisches Schaffen insgesamt konstitutiv sind. Dies gilt besonders für den Chor: Bis auf das Drama GeorgicumDrama Georgicum sind alle dramatischen Werke Baldes mit Chorpartien versehen. Je nach Kontext werden ihnen bestimmte Funktionen beigemessen, die Aufschluss darüber geben, wie Balde Stücke strukturiert und Gattungskonventionen definiert. Im Falle der JephtiasJephtias spielen die Chorlieder eine so zentrale Rolle, dass weder Dramaturgie noch Ästhetik und Intention des Werks ohne sie verstanden werden können.Jephtias6 Der Chor stellt ein Kernelement dar, das erschlossen werden muss, um Baldes dramatische Technik zu verstehen.

 

Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, die Konzeption des Chores in Baldes dramatischen Werken zu untersuchen. Hierfür ist es nötig, zunächst zwei Einflussfaktoren zu benennen, die Balde Referenzpunkt und Reibungsfläche gleichermaßen bieten: Erstens den institutionellen Rahmen des Jesuitenordens, in dem Baldes schriftstellerische Tätigkeit verortet ist, und zweitens die Tragödien Senecas, die als literarisches Vorbild für die tragischen Werke, insbesondere für die JephtiasJephtias, fungieren.

1. Das barocke Jesuitentheater

Der Kontext, in dem Jesuiten Theaterstücke verfassten, war vornehmlich ein schulischer. Dies manifestierte sich auch in der Tatsache, dass die Autoren oft Lehrer der Rhetorikklassen waren und jährlich ein Stück für die Schulaufführung vorlegen mussten.1 Gerade diese Einordnung in den Ordenskontext und in die Tradition des Jesuitentheaters ist für das Verständnis von Baldes Dramatik nicht zu vernachlässigen: Das Theater diente den Jesuiten als Mittel zum Spracherwerb des Lateinischen, das wiederum gezielt mit pädagogischer Wertevermittlung kombiniert werden konnte,2 und wurde zur Paradedisziplin. Der 1540 durch Ignatius von LoyolaLoyola, Ignatius von gegründete Orden3 sah sich mit der schwierigen Situation konfrontiert, dass die Reformation immer mehr Anhänger gewann, die sich von der katholischen Religion abwendeten. Damit einher ging ein gravierender Priestermangel, der den Einfluss der Katholiken auch quantitativ schwächte.4 Da der rege Zulauf zu den Protestanten unter anderem ihrem hervorragenden Ausbildungswesen geschuldet war,5 wurden als Gegengewicht hierzu in ganz Europa eigene katholische Ausbildungsstätten gegründet. Es waren vor allem die Jesuiten, die von den Landesherren mit dieser Aufgabe betraut wurden.6 Und tatsächlich stellten sich schon bald die erhofften Erfolge ein: Die durchdachte Organisation, die ab 1599 verbindlich geltende Ratio studiorum,7 die über nationale Grenzen hinweg ein gleiches und geordnetes Curriculum ermöglichte, der hohe Bildungsstandard der Lehrenden und nicht zuletzt der Zugriff auf weitreichende finanzielle Mittel aus kirchlichen Quellen sowie privater Gönner etablierte die Institutionen bald als Bildungsorte par excellence.8 Dabei war die Gewichtung der jesuitischen Ausbildung immer klar festgelegt: Alle Disziplinen waren der Ausbildung von (katholischen) Theologen untergeordnet und stellten mehr oder weniger ein Mittel zum Zweck dar. Auch wenn Bildung letztlich also als Weg zu Höherem im Sinne des Grundsatzes omnia ad maiorem Dei gloriam galt,9 war deren Standard so hoch, dass die Jesuitenkollegs neben ihren internen zunehmend auch externe Schüler aufnahmen, die vor allem an der Grundausbildung interessiert waren. Die Kollegs wurden oftmals so beliebt, dass den Jesuiten die Leitung alteingesessener Universitäten übertragen wurde oder sie gar Schüler aus protestantischen Haushalten für ihre Schulen abwerben konnten.10

Trotz des theologischen Utilitarismus nahm der lateinische Sprachunterricht im jesuitischen Lehrplan eine Zentralstellung ein, da er für alles Weitere die Basis bildete. Man bemühte sich jedoch, ihn schon früh in Beziehung zu seinem rhetorischen Nutzen zu setzen, um das Ziel einer sapiens et eloquens pietas nicht aus den Augen zu verlieren.11 Neben den Schuldeklamationen wurden auch Theaterstücke aufgeführt.12 Man erhoffte sich einen gleichsam synästhetischen Lernprozess, in dem sich literarische, politische, rhetorische und religiöse Bildung den noch jungen und beeinflussbaren Schülern vermitteln ließ.13 Diese Methode war zunächst kopiert von den Humanistendramen, die im Erziehungswesen der Protestanten einen festen Sitz hatten.14 Allerdings wurden diese oft in der Muttersprache verfasst, während die Jesuitenstücke „erbarmungslos lateinisch“ waren.15 Gleichwohl erfreuten sie sich großer Beliebtheit und zogen trotz ihrer ursprünglich für den schulischen Rahmen vorgesehenen Konzeption ein immer breiteres Publikum an. Neben Veranstaltungen für Angehörige der Schüler gab es öffentliche Darbietungen an Festtagen sowie Sondervorstellungen zu Ehren eines adeligen Gastes, wenn sich dieser in der Stadt befand.16 Die sprachliche Barriere vermochten die Jesuiten einerseits durch das Voranstellen von Periochen zu überwinden, die wichtige Informationen meist in zweisprachiger Form zusammenfassten.17 Andererseits verfügten die Aufführungen der Jesuiten oft über einen komplexen Bühnenaufbau, teure und aufwändige Ausstattung und Kostümierung und präsentierten Stücke von beträchtlichem Aufwand.18 So verschmolzen sie in vielen Teilen mit den Ansprüchen des Barocktheaters und wurden zu einer von der Gesellschaft akzeptierten Marke auf der kulturellen Landkarte. Als Themen waren besonders religiöse Motive beliebt, die sich gleichsam als parodia christiana, als antike Stoffe im neuen Gewand präsentierten.19 Rein humanistische Dramen blieben bei den Jesuiten, anders als bei ihren protestantischen Kollegen, eine Seltenheit.20 Diese Wahl war dem Ziel geschuldet, gleichzeitig missionarische Inhalte zu transportieren und die Bedeutung des Katholizismus zu untermauern. Während die frühen Stücke noch stark polemisch waren, wurde später die Methode vorgezogen, „nicht so sehr die Position des Gegners [zu] erschüttern, als vielmehr die eigene überzeugend oder gar überwältigend darstellen“21 zu wollen. Den größten Einfluss hatten die Jesuiten und ihr Theater deshalb im süddeutschen Raum und Österreich, wo sich die Gegenreformation besonders erfolgreich durchgesetzt hatte.22 Es hieße allerdings die Qualität der Stücke beträchtlich herabsetzen, wollte man sie allein auf ihre Funktion als Bollwerk gegen den Protestantismus beschränken: Dies mag zunächst zwar die Hauptintention gewesen sein, doch ist der dramaturgische und literarische Wert der Stücke in einigen Fällen so hoch, dass sie zu Recht auf sämtlichen Bühnen Europas gespielt wurden. Allerdings darf bei einem Jesuitendrama nie aus dem Blick geraten, dass Stücke dieses Genres im Sinne des bloßen ‚l’art pour l’art‘ nicht existierten. Ein gewisses didaktisches Ziel haftete ihnen stets an, es konnte sich hierbei auch um die Vermittlung von Bildungsinhalten oder ganz allgemeiner christlicher und charakterlicher Werte handeln.23 Eben diese Ausrichtung ist es, die das Jesuitentheater zu einer Einheit bringt: Mögen sich die Stücke aufgrund ihrer unterschiedlichen Entstehungskontexte und ihrer Vielfalt an Verfassern kaum zu einem homogenen Gattungsbegriff vereinen lassen, so bleiben sie doch stets einer übergeordneten Maxime treu: der Pädagogik.24

Wenngleich sich Baldes dramatische Werke aufgrund ihrer hohen sprachlichen Qualität deutlich vom Durchschnitt der barocken Jesuitendramen abheben, bleibt für seine Stücke der pädagogisch-vermittelnde Charakter des Jesuitentheaters konstitutiv. Besonders gilt dies für die JephtiasJephtias, in der Balde seine Deutung des biblischen Jephte-Stoffes für eine breite Öffentlichkeit aufbereitet. Ein essentielles Mittel, um dies zu erreichen, ist der tragische Chor, den er nutzt, um die Interpretation der Tragödie zu liefern und ihre Aussage zu entschlüsseln. Dass Balde seinem Chor eine so zentrale Funktion zukommen lässt, ist in der zeitgenössischen Dramatik keineswegs gängiger Usus.

2. Jakob Baldes Chor: Lieder nach dem Vorbild Senecas

Generell bietet der Chor im neulateinischen Drama der Frühen Neuzeit kein einheitliches Bild. Die Verwendungsformen sind je nach Stück und Autor verschieden. Besonders im Laufe des 17. Jahrhunderts wird er weniger systematisch eingesetzt, kommt seltener zu Wort oder wird schließlich ganz weggelassen. Insofern ist allein die Verwendung eines dramatischen Chores bei Balde nicht selbstverständlich.1

Einen ersten Schritt zur Erschließung des Chores im neulateinischen Drama hat Volker Janning in einer umfassenden Monographie unternommen. In der Arbeit sammelt er im Wesentlichen Leitmotive der Chorlieder und erstellt eine thematische Kategorisierung, die Aufschluss über zeitgenössische Diskussionsthemen gibt. Anhand ausgewählter Autoren untersucht er die Integration des Chores in die Dramen. Seine Funktion umschreibt er allgemein als eine relativ technische: „Die neulateinischen Dramatiker nutzten […] die durch den Chor eröffneten Möglichkeiten zur Darbietung von Ruhepunkten in der Handlung und zur künstlerischen Gestaltung der Aufführungen durch Musik, Tanz, und den Vortrag bzw. Gesang chorlyrischer Partien.“2 Insgesamt seien vor allem zwei Nutzungsmöglichkeiten des Chores in der Frühen Neuzeit hervorzuheben: Erstens werde ihm ein starker Unterhaltungswert zugewiesen, der bisweilen ein pompöses Ausmaß annehme und als Vorstufe zur Oper gesehen werden könne. Neben diesem „Prozess der Veroperung“3 sei eine zweite Funktion besonders relevant: So leiste „der Chor einen wichtigen Beitrag zur Sozialisierungs- und Belehrungsfunktion des neulateinischen Dramas, das vielfach als Medium der Moraldidaxe fungiert und zur Propagierung der jeweiligen […] Wertvorstellungen instrumentalisiert“ werde.4 Dass in Bezug auf Balde weder die eine noch die andere Deutung des Einsatzes des Chores ausreicht, wird bei der Betrachtung seiner Chorpartien schnell deutlich: Sie übersteigen eine solche funktionale Ausrichtung in vielerlei Hinsicht.5

Um die Rolle des Chores bei Balde adäquat einzuordnen, muss das Vorbild beachtet werden, das für die JephtiasJephtias Pate gestanden hat: Im Vorwort bekennt sich Balde explizit zu Senecas Tragödien als Inspirationsquelle, die ihm als Richtschnur für sein eigenes Schaffen gedient hätten.6 Es ist also zu erwarten, dass sich Balde auch bei der Konzeption seiner Chorlieder an Seneca orientiert hat. Dass sich ein barocker Autor wie Balde Seneca als Vorbild wählte, ist wenig erstaunlich. Das 17. Jahrhundert hielt Seneca tragicus stets in großen Ehren.7 Fanden sich im 16. Jahrhundert noch eher Komödien, in denen vor allem auf PlautusPlautus und TerenzTerenz Bezug genommen wurde, kamen im 17. Jahrhundert zunehmend Tragödien hinzu.8 Hier berief man sich auf Seneca, den einzig erhaltenen römischen Tragiker.9 Praktisch gesehen waren Lateinkenntnisse besser etabliert als Griechischkenntnisse, selbst wenn die griechischen Tragiker erschlossen waren.10 Lefèvre weist außerdem darauf hin, dass das Christentum bei Senecas Bevorzugung eine wichtige Rolle spielte: „Denn so wie das Christentum in vielen Punkten große Verwandtschaft zur stoischen Philosophie zeigt, waren es gerade die christlich geprägten Epochen vom ausgehenden Mittelalter bis zum Barock, die sich von Senecas Weltanschauung angesprochen fühlten.“11 Der Einfluss von Senecas Chorliedern auf das neulateinische Drama ist bei Janning allerdings nur kurz angesprochen und auf relativ mechanische Aspekte (Metrik, Themenwahl etc.) beschränkt. Meist handle es sich bei Seneca, nach Friedrich Leos veralteter These, um „Zwischenaktlieder“ mit rein überbrückender Funktion. Der Zusammenhang zwischen Lied und Handlung sei allenfalls über lose philosophische Verbindungen herzustellen, wenn stoisches Gedankengut vermittelt werde.12

Tatsächlich besteht beim senecanischen Chor Erklärungsbedarf: Rituell-kultische Elemente, die dem Chor in der griechischen Tragödie noch zu eigen sind,13 gehen ihm bei Seneca bis auf wenige Ausnahmen ab.14 Ferner ist seine Persönlichkeit nicht einheitlich gezeichnet, sodass seine Rolle auf der Bühne nicht konsistent zu definieren und in Hinblick auf eine etwaige Aufführung schwer zu besetzen scheint.15 Diese Auffälligkeiten sind jedoch nur als problematisch zu bezeichnen, wenn man den senecanischen Chor als direkte Replik auf den griechischen Chor versteht.16 Dies erscheint jedoch nicht überzeugend: Vielmehr ist anzunehmen, dass Seneca die Chorlieder – wie auch insgesamt seine Tragödien – mitnichten als reine Rezeptionsprodukte der griechischen Stücke verstanden hat. Die Chorlieder haben bei Seneca einen stücktragenden, literarischen Wert, der ihre Eignung als Modell ausmacht: Der Chor wird zu einer maßgeblichen Erklärinstanz des Stückes, die dessen Interpretation verdichtet darlegt.

 

Im ersten Teil der folgenden Untersuchung wird deshalb eine Neubestimmung des senecanischen Chores vorgenommen. Nach einer Darstellung grundlegender Forschungsprämissen sowie einer theoretischen Beschreibung des senecanischen Chorkonzeptes soll dieses anhand von Fallbeispielen verdeutlicht werden. Die Untersuchung bleibt aus Gründen der Übersichtlichkeit exemplarisch auf zwei Stücke beschränkt.17 Für die detaillierte Analyse bieten sich der OedipusTragödienOedipus und die TroadesTragödienTroades an, da die Stücke bezüglich der Thematik, die besonders in den Chorliedern zu Tage tritt, verwandt sind. Beide behandeln im weiteren Sinne die Frage des Determinationsprinzips und der Theodizee.18 Dieser Themenkreis ist für Baldes JephtiasJephtias von grundsätzlicher Bedeutung, da die Fragestellung hier aus Drama Georgicumchristlicher Perspektive beleuchtet wird und zahlreiche Motivübernahmen erkennbar sind.19 Durch die ausführliche Behandlung des senecanischen Chores leistet die vorliegende Arbeit einen Beitrag zum Verständnis der Seneca-Tragödien.

Im zweiten Teil der Arbeit wird sodann gezeigt, dass Jakob Balde die Funktion des senecanischen Chores, einen Schlüssel zur Interpretation des Stückes zu liefern, erkannt, in sein dramatisches Werk aufgenommen und weiterentwickelt hat. Da explizite Aussagen, in denen Balde sich über sein Verständnis des Chores äußert, nicht vorliegen, ist es geboten, sein Chorverständnis aus allen seinen Werken dramatischen Charakters herauszuarbeiten. Nur in dieser Gesamtschau ist es möglich einzuordnen, wie Balde die Funktionen des Chores definiert und als wesentliches Element in seiner Dramatik verankert. Hierzu soll ein Blick auf den Chor des Iocus seriusIocus serius, des TillyTilly, der PhilomelaPhilomela und des Arion ScaldicusArion Scaldicus geworfen werden. Weiterhin erfolgt eine knappe Besprechung des Drama Georgicum, bei dem gerade das Fehlen eines dramatischen Chores aufschlussreich ist. Für Baldes Auffassung der Chorlieder Senecas und die Konzeption eines tragischen Chores ist außerdem die Untersuchung des Seneca aus dem Regnum poetarumRegnum poetarum unabkömmlich. Dieser steht der JephtiasJephtias sehr nahe, auf der das Hauptaugenmerk liegen wird, da es sich um die einzige komplette Drama GeorgicumTragödie im eigentlichen Sinne handelt. Mittels der Analyse der Chorpartien können entscheidende Erkenntnisse für die Interpretation und Struktur der Stücke insgesamt und damit über den Dramatiker Balde erlangt werden.