Der Schlüssel zur Tragödie

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4.2. Troades

TragödienTroadesSeneca geht in TragödienTroadesden Troerinnen1 einen Schritt weiter als im OedipusTragödienOedipus.TragödienTroadesEuripidesTragödienTroades2 Er nimmt es als gegeben an, dass das fatum nicht immer wohlwollende, helfende Instanz ist, sondern ein grausames Weltprinzip, das den Menschen bis in die Absurdität seiner Existenz hineintreiben kann. Damit sind die TroerinnenTragödienTroades das Stück, das bezüglich der Theodizeefrage am kritischsten wirkt.TragödienOedipus3 Seneca befasst sich in der Tragödie mit einer möglichen Lösung einer hoffnungslosen Situation und mit der Frage nach dem Tod als Ausweg. Laut stoischer Lehre ist in einer determinierten Welt der Tod „die einzige Sache, die der Mensch wirklich in seiner Hand hat.“Epistulae moralesDe providentia4 Doch einfach nach der Maxime: „Wenn das Schicksal unerträglich scheint, bleibt als Ausweg immer noch der Tod“5 scheint es bei Seneca nicht zu funktionieren. Wenn Fischer konstatiert: „Seneca gesteht seinen Dramenfiguren Handlungsfreiheit zu, aber für die besiegten Trojaner kann sich diese nur als Freiheit zum Tod äußern,“6 dann stellt sich hier die Frage, weshalb überhaupt noch Trojaner(innen) am Leben sind und sich nicht schon für den Selbstmord entschieden haben.7 In den TroadesTragödienTroades differenziert Seneca die stoische Sichtweise auf den Selbstmord und relativiert sie, indem er sie auf den Einzelfall anwendet.

Seine Version lehnt sich nur in Teilen an die euripideischenEuripides Vorlagen an und hat hauptsächlich eigenständigen Charakter.8 Dies hatte vielfach eine negative Bewertung des Stückes zur Folge. So resümiert Calder: „Seneca thought that by gathering what he believed good from four earlier versions he could compose a fifth and best play. He was wrong.“Euripides9 Die TroerinnenTragödienTroades gehören sicherlich zu Senecas düstersten Tragödien. Stärker noch als in seinen anderen Stücken wirkt die Handlung hier auf den ersten Blick wie eine Zusammenstellung von Einzelszenen, die allenfalls lose durch die äußeren Rahmengegebenheiten miteinander verknüpft sind. Der Chor ist es jedoch, der diese Vielfalt an Themen ordnet und auf einen gemeinsamen Nenner bringt: Die Frage nach dem Ausweg aus der durch das unbarmherzige und willkürliche fatum regierten Welt.

4.2.1. Der Tod als universell gültiger Ausweg aus dem Leid?

Das Drama beginnt konventionell. In ihrem Eingangsmonolog (1–66) widmet sich Hecuba, die Königin von Troja, vor den Ruinen der gefallenen Stadt einem typisch senecanischen Thema:TragödienAgamemnonTragödienThyestesTragödienTroades1 Dem Topos der Fallhöhe. Troja sei das beste Beispiel für den Wankelmut Fortunas, die besonders die Mächtigen stürze (non umquam tulit / documenta fors maiora, quam fragili loco / starent superbi, 4–6).EuripidesTro.Euripides2 Hecuba beschreibt die mythische Entstehung Trojas und illustriert dessen Größe (6–13), was die folgende Schilderung der Zerstörung durch die Griechen umso drastischer erscheinen lässt (14–27). Da Hecuba Paris geboren und schon während der TragödienTroadesSchwangerschaft vorausgeahnt habe, dass dieses Kind ihrer Stadt Verderben bringen werde (prior Hecuba vidi gravida, 36), sieht sie die Schuld für das Verderben ihrer Stadt und ihrer Familie weniger bei den Griechen als bei sich selbst (meus ignis iste est, facibus ardetis meis, 40). Deshalb beklagt sie, dass sie selbst trotz ihres hohen Alters noch am Leben sei (vivax senectus, 42), während ihre Kinder zu jung gestorben seien (umbrae minores, 33). Ein weiterer Toter, den sie zu beklagen hat, ist ihr Ehemann Priamus. Sie prangert das Verbrechen des Königsmordes an (regiae caedis nefas, 44), da Priamus grausam durch Pyrrhus ermordet wurde (45–50), ohne begraben zu werden. Hecuba beklagt schließlich das Schicksal aller Trojanerinnen (56–62), die an die Sieger verlost werden.

Im ersten AktTragödienTroades beleuchtet Hecuba schlaglichtartig die gegenwärtige Situation der trojanischen Bevölkerung: Einige von ihnen sind tot, anderen droht ein Leben in Leid und Sklaverei. So stellt sich am Ende des ersten Aktes die Frage, ob die Lebenden oder die Toten das bessere Los gezogen haben und ob der Tod nicht, selbst wenn er grausam ist wie der von Priamus, dem Leben in Unfreiheit vorzuziehen ist. Hecuba vollzieht diese Gewichtung bereits durch ihre klimaktische Gliederung der Argumente: Erst die Zerstörung der Stadt, der Tod der Kinder, der Tod des Königs und schließlich an letzter Stelle das Überlebenmüssen.

Das erste Chorlied (67–163)3 streicht diese Fragestellung deutlich heraus, indem es thematisch Hecubas Bitte um den Tod, der sie von ihrem Leid erlösen soll, aufgreift.EuripidesEuripidesTro.4 Es erfolgt als Wechselgesang zwischen Hecuba und dem Chor. Diese Form, in der griechischen Tragödie noch völlig gängig, ist bei Seneca selten.TragödienAgamemnonEuripides5 Für das hier angestrebte Klagelied entfaltet das Amoibaion jedoch eine besondere Kraft. Der gezielte Einsatz des Wechselgesanges an dieser Stelle unterstreicht die soziale Funktion des Chores. Der Chor repräsentiert in diesem ersten Lied eindeutig die Trojanerinnen (turba captivae mea, 63). Dies ist für die Zwecke des Chorliedes besonders eindrucksvoll dargestellt:6 Hecuba appelliert an ihre Gefährtinnen, da sie sich Kameradinnen wünscht, die die Bürde im Leid mittragen (Fidae casus nostri comites, 83). Doch ihr Hoffen auf Trost durch Solidarität scheitert am sozialen Gefälle. Ihre Stellung als Königin verwehrt ihr den Zugang TragödienTroadeszum Chor. Die Frauen verbleiben eine unnahbare Gruppe, die ihre Königin zwar respektiert und ihr gehorcht, sie aber nicht als gleichberechtigt in ihrer Reihe aufnimmt (vulgus dominam vile sequemur, 81). Der Chor ändert sein Verhalten gegenüber seiner Königin auch in der Extremsituation nicht, wodurch Hecuba durch ihre hervorgehobene Stellung vom Chor isoliert bleibt.

Zu Beginn des Liedes fordert Hecuba den Chor auf, ein Klagelied anzustimmen (turba captivae mea, / ferite palmis pectora et planctus date, 63–64). Der Chor erinnert zunächst daran, dass Trauer und Klage für ihn aufgrund der vergangenen zehn Kriegsjahre nichts Neues seien (non rude vulgus lacrimisque novum / lugere iubes, 67–68). Sodann erwähnt der Chor einen neuen Grund der Trauer (nova fletus causa, 78). Dieser bleibt zunächst noch im Dunkeln, denn der Chor erteilt das Wort wieder Hecuba, der es vorbehalten sei, ihn zu nennen. Die Königin gibt dem Chor detailliertere Anweisungen für den Trauerritus (83–98).7 Die Tatsache, dass sie spricht, sowie die Erwähnung der toten Gatten (90) schüren die Erwartungshaltung, dass nun Priamus betrauert werden soll. Umso mehr erstaunt es, dass Hecubas Rede mit der Aufforderung endet, den Tod Hectors zu beweinen (Hectora flemus, 99). Dies scheint zunächst überraschend, da Hector zuvor noch keine direkte Erwähnung gefunden hatte.8 Doch die Nennung Hectors verfolgt hier einen konkreten Sinn, den der weitere Verlauf des Liedes zu Tage fördert. Zunächst begeht der Chor, so wie es ihm Hecuba verordnet hat, die Totenklage um Hector (99–116) und stimmt in Hecubas Klageruf ein (Hectora flemus, 116). TragödienTroadesDie Wortwahl spiegelt die Machtlosigkeit der Frauen wider. Es sind nicht sie selbst, die sich beim rituellen Trauertanz schlagen und ihr Haar raufen, sondern Subjekt der Sätze sind stets andere Dinge (z.B. die rechte Hand, die Brust etc.). Hecuba beklagt ebenfalls (117–129), dass Hectors Tod zugleich Trojas Ende bedeutet habe (tecum cecidit summusque dies / Hectoris idem patriaeque fuit, 128–129). Es klingt hier deutlich an, dass Troja im Falle von Hectors Weiterleben noch eine reelle Chance gehabt hätte. Sein Tod kam jedoch zu früh. Sodann fordert Hecuba zur Klage um Priamus auf (Vertite planctus: / Priamo vestros fundite fletus, / satis Hector habet, 130–133). Der Chor beweint seinen grausamen Tod (131–141). Priamus sei erst nach dem Tod seiner Kinder gestorben. Das Bild des Vaters, der vor seiner eigenen Ermordung erst noch die eigenen Kinder zu Grabe tragen muss (post elatos Hecubae partus / regumque gregem / postrema pater funera cludis, 138–139), lässt Priamus noch bedauernswerter als Hector erscheinen, der die Ermordung des eigenen Kindes nicht mehr lebend mitansehen musste. Angespielt wird an dieser Stelle auf die Ermordung des Polites durch Pyrrhus, der nach dem Sohn auch Priamus tötete.VergilAen.Vergil9 Als sich der Chor über den verstümmelten Leichnam des Priamus und die frevelhafte Hinrichtung des Königs auf dem Altar des Zeus Herkeios entrüstet, schneidet Hecuba ihm unvermittelt das Wort ab. Sie, um deren Ehemann es doch geht, verbittet sich weitere Klagen um Priamus und begründet dies überraschend damit, dass dieser nicht zu beklagen, sondern zu beneiden sei (Alio lacrimas flectite vestras: non est Priami miseranda mei / mors, 142–144). Sie behauptet sogar, Priamus sei glücklich (Felix Priamus, dicite cunctae, 145).Pacuvius10 Sie begründet dies damit, dass er niemals das Joch der Sklaverei tragen und den Jubel der griechischen Sieger mitansehen müsse (146–155). Der Chor zeigt sich von der Argumentation der Königin überzeugt und preist Priamus in den letzten Versen des Chorliedes (156–163) überschwänglich glücklich, da er durch den Tod seine Würde habe bewahren können. Der Bogen zu Hector wird geschlagen, indem der Chor erwähnt, dass Priamus nun auch seinen Sohn wiedersehen könne (160). Nach einer letzten Glücklichpreisung des Priamus (161) endet der Chor mit der allgemeinen Sentenz, dass jeder glücklich sei, der alles in den Tod mit sich nehmen könne (felix quisquis bello moriens / omnia secum consumpta tulit, 162–163).Ovidmet.Ovid11 Diese Definition, nach der der Tod als glücklicher Ausweg aus dem Leiden gesehen wird, scheint jedoch nicht für jeden zu gelten. So ist Hector TragödienTroadeshiervon ausgenommen. Hecuba fordert in seinem Fall nicht dazu auf, die Klagen zu revidieren, und Hector wird an keiner Stelle des Chorliedes glücklich gepriesen. Erklären lässt sich dies so: Hector hatte noch eine Aufgabe zu erfüllen. Er hätte Troja retten können, durch seinen Tod lässt er sein Volk gleichsam im Stich. Sein Dahinscheiden kann deshalb nicht befürwortet werden, sondern kommt beinahe einer Vernachlässigung seiner Pflichten gleich. Bei Priamus ist dies nicht der Fall: Troja ist zum Zeitpunkt seines Todes bereits eingenommen, seine Kinder sind tot, die Stadt in Brand gesetzt. Für ihn gibt es nichts mehr auszurichten. Der Tod ist die Möglichkeit, seine Würde zu bewahren, selbst wenn die Umstände eines Königs unwürdig sind. Hector hingegen fällt zwar ehrenhaft im Kampf, doch wäre sein Weiterleben wünschenswert gewesen. Das erste Chorlied nimmt also mit der Gegenüberstellung des Todes von Hector und Priamus und deren Bewertung die Problematik des ersten Aktes wieder auf, in dem darüber reflektiert wird, ob der Tod ein Ausweg aus dem Leid sein kann. Der Chor kommt zu dem Schluss, dass unterschieden werden müsse zwischen Menschen, für die diese Lösung erstrebenswert ist, und zwischen denen, die so ihre Pflichten im Leben nicht zufriedenstellend erfüllen können.12

 

4.2.2. Ist der Tod besser als das Leben?

Überleitend führt der Chor nun den Griechenboten Talthybius ein (164–167) und befragt ihn, weshalb die Griechen trotz ihres Sieges immer noch nicht abgereist seien (168–201).1 Wie im OedipusTragödienOedipus spielt der Bote zunächst mit dem Topos, die Nachricht sei zu grausam, um sie auszusprechen und erzeugt so besonderen Schrecken.TragödienOedipus2 Den Griechen sei etwas Übernatürliches, der Geist des Achill (umbra Thessalici ducis, 181) erschienen. Zunächst werden seine Heldentaten beschrieben (182–189) und als deren Krönung der Sieg über Hector. Die Formulierung Hectorem et Troiam trahens (189) verweist noch einmal auf den herben Verlust, den Hectors Tod für die Trojaner bedeutet, und zeigt, dass auch aus Sicht der Griechen damit der Fall der Stadt besiegelt war. Es stellt sich schließlich heraus, dass Achills Geist aus Zorn die Abreise TragödienTroadesder Griechen durch eine Flaute verhindert. Achill fordert als weiteres Opfer für seine Heldentaten, dass Polyxena, die Tochter von Hecuba und Priamus, auf seinem Grab geopfert werde, ihr Henker solle Achills Sohn Pyrrhus sein (desponsa nostris cineribus Polyxene / Pyrrhi manu mactetur et tumulum riget, 195–196). Dass sie ihm vor ihrer Ermordung erst angetraut werden solle (desponsa), wirkt in diesem Kontext äußerst makaber. Beinahe paradox erscheint nach der Schilderung der Grauensbotschaft durch Talthybius die Beschreibung der nun wieder trügerisch friedlichen Natur (199–202) und insbesondere der Erwähnung des Chores der Tritonen, der leise ein Hochzeitslied anstimmt, das in Wirklichkeit Polyxenas Totenklage sein wird.

Übergangslos schließt sich an den Abgang des Talthybius ein Streitgespräch zwischen Pyrrhus und Agamemnon an (203–359). Die Diskussion zerfällt zunächst in Rede und Gegenrede. Die beiden Streitenden nehmen Bezug auf die Anordnung des Achill und argumentieren, ob die geforderte Opferung der Polyxena tatsächlich stattfinden solle (Pyrrhus) oder wegen zu großer Unmenschlichkeit nicht auszuführen sei (Agamemnon). Die Argumente des Pyrrhus wirken insgesamt schwächer und von Jähzorn3 und Rachgier4 geleitet.

Agamemnon reagiert hierauf mit einer besonnenen Rede, die wesentlich ausgefeilter konstruiert ist als die des Achillsohnes.5 Er entkräftet die Rede des Pyrrhus zunächst auf affektiver Ebene, indem er ihm Jähzorn, der ein altersbedingter Fehler sei (Iuvenile vitium est regere non posse impetum, 250), unterstellt. Da diese Disposition jedoch von Achill ererbt sei (fervor […] paternus, 251), könne man auch dessen Forderungen nicht vollkommen ernst nehmen. Daran schließt er ein Plädoyer für die clementia an, die einem Sieger zu Ehren gereiche. Schließlich versucht er, Pyrrhus auf persönlicher Ebene anzusprechen und an dessen Gewissen zu appellieren. Die Schuld an Polyxenas Opferung werde letztlich auf ihn selbst zurückfallen, da jemand, der böse Taten nicht verhindere, genauso schuldig sei wie der, der sie begehe (qui non vetat peccare, cum possit, iubet, 291). Die Frage nach Schuld und Verantwortlichkeit ist eines der zentralen Motive in den Tragödien, das bereits im OedipusTragödienOedipus ausführlich behandelt wurde. In den TroerinnenTragödienTroades wird diese Problemstellung vertieft: Wenn man sich seiner Verantwortlichkeit bewusst ist, ab welchem Punkt darf man sich ihr entziehen? Und macht man sich nicht auch schuldig, wenn man die Augen verschließt? Ist man dann nicht genauso schuldig wie der Täter selbst?

Auf Agamemnons Rede folgt ein längerer Schlagabtausch zwischen den Kontrahenten (292–359), der letztlich keinen Fortschritt bringt. Pyrrhus beharrt auf seinem Standpunkt, Agamemnons Versuche, ihn umzustimmen, laufen ins Leere.

Als Agamemnon seinen geringen Erfolg sieht, wechselt er die Strategie und schlägt vor, den Seher Calchas hinzuzuziehen, um zu erfragen, was der Wille der Götter sei. Er hofft so, den verbohrten Pyrrhus noch umstimmen zu können, wenn sein Aufruf zur Gnade durch göttlichen Beistand unterstützt würde. Allerdings geht dieser Schuss gehörig nach hinten los: Die Prophezeiung des Calchas (360–370) besagt nicht nur, dass Polyxena geopfert werden soll (mactanda virgo est Thessali busto ducis, 361), sondern fordert noch ein zweites Opfer. Auch Hectors Sohn müsse von Trojas Zinnen gestürzt werden, erst dann werde günstiger Wind eintreten (turre de summa cadat, / Priami nepos Hectoreus et letum oppetat, 367–368). Agamemnons Versuch, die Eskalation der Grausamkeiten zu vermeiden, ist völlig gescheitert. Statt ein Kinderopfer zu verhindern, sollen nun gar zwei ausgeführt werden.

Es stellt sich in diesem Akt die Frage, worauf die lange, letztlich sinnlose Diskussion abzielt. Auch die scheinbare Losgelöstheit von der restlichen Handlung hat dafür gesorgt, dass die Szene von Seiten der Forschung harscher Kritik ausgesetzt wurde. So konstatiert beispielweise Fantham: „Despite its complex argumentation and verbal ingenuity […] the quarrel between Agamemnon and Pyrrhus […] is the weakest dramatic unit in the play. Detached from the action at beginning and end, it also lacks the sense of dramatic direction that we would expect from a good adaptation of any scene by EuripidesEuripides […].“Ovidmet.Ovid6 Versuche, die Szene aufzuwerten, TragödienTroadeswurden vor allem dahingehend unternommen, dass man in dem Rededuell eine Parabel für Senecas Vorstellung eines perfekten Belehrungsgesprächs sehen und ihm so zumindest pädagogischen Wert zuschreiben wollte.7 Diese Interpretation geht fehl: Zwar erinnern einige Stellen zunächst an Senecas mahnende Worte in De clementiaDe clementia, als er den jungen Herrscher in gemäßigte Bahnen zu lenken sucht. Der frustrierende Ausgang des Gesprächs weist jedoch in eine andere Richtung, scheitert doch Agamemnons Überzeugungsversuch völlig. Insgesamt wirkt Agamemnons Rede wie eine rhetorisch ausgefeilte Sammlung von Sentenzen. Er ist Pyrrhus argumentativ und rhetorisch zwar überlegen, kann jedoch gegen dessen Ungestüm und Eigensinn nichts ausrichten.8 Deshalb ist das Rededuell von vorneherein zum Scheitern verurteilt und eignet sich nicht als Muster für ein Überredungsgespräch.9

Es existiert eine keinesfalls marginale Verbindung der Szene zum restlichen Stück. Offensichtlich wird diese jedoch erst, wenn man das zweite Chorlied hinzuzieht. Der erste Akt hatte die Frage beantwortet, ob der Tod einen Ausweg aus einer hoffnungslosen Lage bedeuten kann, und war zu dem Schluss gekommen, dass dies nicht für jeden gelte. Der zweite Akt nimmt Personen in den Blick, die unausweichlich sterben müssen. Polyxenas Schicksal steht bereits fest und kein Versuch, dies zu ändern, fruchtet. Auch das zweite Chorlied hat den Tod als Thema und befasst sich mit der Frage nach dessen Beschaffenheit. Senecas Asklepiadeen10 fassen den Inhalt des langen Rededuells zusammen: Der Chor reflektiert über den Sinn des Todes. Er betont zunächst die eigene Machtlosigkeit, was im zweiten Akt durch das Scheitern von Agamemnons Argumentation TragödienTroadesgegenüber dem jähzornigen Pyrrhus deutlich geworden war. Der Chor stellt zuerst die Frage nach einem Leben nach dem Tod (Verum est […] / umbras corporibus vivere conditis, 371–372). Im Anschluss folgt sogleich die an das erste Chorlied anknüpfende Frage, ob der Tod einen Vorteil gegenüber dem Weiterleben darstelle (non prodest animam tradere funeri, / sed restat miseris vivere longius?, 376–377) und ob der Tod die völlige Existenzvernichtung bedeute (an toti morimur nullaque pars manet / nostri, 378–379): In mythisch-lyrischen Bildern malt er sodann aus, dass ein jedes Lebewesen sterben müsse und der Tod unausweichlich sei (382–396). Wie stets ist das fatum der zentrale Begriff (hoc omnes petimus fata, 390), das als lenkendes Prinzip alles regiert. Auffällig ist allerdings, dass die Antworten epikureisch anmuten.LucrezHoraz11 Auf den ersten Blick mag die Conclusio des Chores ernüchternd klingen: Nach dem Tod gebe es kein Weiterleben und der Tod selbst sei nichts (Post mortem nihil est ipsaque mors nihil, 397). Die Menschen, die auf ein Leben nach dem Tod hofften, würden enttäuscht, doch die Menschen, die sich fürchteten, könnten dies getrost aufgeben (spem ponant avidi, solliciti metum, 399). Die Geschichten über die Unterwelt seien reine Phantasie (402–406). Das Lied endet mit den rätselhaften Versen, dass der Tod da sei, wo auch das Ungeborene sei (quaeris quo iaceas post obitum loco? / quo non nata iacent, 407–408).

Die Einordnung des zweiten Chorliedes hat vielfach Probleme bereitet:12 Als unlogisch wurde bemängelt, dass der Chor hier auf der einen Seite das Weiterleben nach dem Tod negiere, auf der anderen Seite jedoch Achills Geist sein Unwesen treibe. Lefèvre tut Achills Erscheinung als bloße Einbildung des Pyrrhus ab, der so seine eigenen Wünsche rechtfertigen könne.13 Bei dem Auftritt von Geistern handelt es sich jedoch in erster Linie um ein Theaterelement.TragödienOedipus14 Es geht hier nicht darum, eine Aussage über das Weiterleben nach dem Tod zu treffen, sondern um ein imposantes Gruselmotiv.TragödienOedipusTragödienHercules furens15 Der Effekt, der hierdurch erzielt wird, ist rezeptionsästhetisch gesehen ungleich eindrucksvoller, als wenn ein lebendiger Grieche die Forderungen überbringen würde.16 Diese dramaturgischen Mittel dienen theatralischen Effekten, stehen nicht in Zusammenhang mit der Interpretation des Stückes und TragödienTroadeshaben mit der eigentlichen Argumentationslinie der Tragödie und damit auch der des Chores nichts zu tun. Wichtig ist zudem die Feststellung Kugelmeiers, das Drama sei zunächst ohne die Chorlieder konsistent. Die Lieder müsse man von der dramatischen Handlung „losgelöst als fortlaufende gedankliche Entwicklung zum zentralen Thema des Stücks […] betrachten: der Reflexion darüber, welche Kraft die […] bedrohte menschliche Existenz noch aus dieser unausweichlichen Vernichtung zu ziehen imstande ist.“17 Man müsse den Chor somit als „kontinuierlichen gedanklichen Strom neben der Handlung“18 begreifen. Schwieriger gestaltet sich das Problem, dass Priamus im ersten Chorlied als glücklich im Tode bezeichnet wurde, da er nun im Elysium weile und Hector wiedersehen könne.19 Um die Widersprüche zwischen erstem und zweitem Chorlied aufzulösen, nimmt Kugelmeier an, es würden zwei unterschiedliche Meinungen des Chores präsentiert. So sei der Chor nicht als didaktisches Mittel zu begreifen, der eine philosophische Meinung widerspiegle, sondern gebe lediglich aus verschiedenen Blickwinkeln „Anstöße zur weiteren Reflexion über einen Themenkomplex […], mit dem letztlich weder philosophische Lehren noch das Theater zu einem abschließenden Ende kommen.“20 Ähnlich gehen auch Fischer, Stroh und Heil vor, wenn sie hier zwei verschiedene Chöre annehmen.21 Doch liegt gerade in der Offenlegung des Gedankenganges des Chores die didaktische Stärke der Lieder: Der schrittweise vorgenommene Reflexionsprozess ermöglicht, dem Chor gleichsam in den Kopf hineinzusehen, und macht nur so seine Schlussfolgerungen TragödienTroadesam Ende nachvollziehbar. Zudem ist der Bruch zwischen erstem und zweitem Chorlied weniger gravierend als angenommen: Lefèvre argumentiert zutreffend, dass das erste Chorlied nur dazu diene, Priamus als glückselig zu beschreiben.22 Wie bereits gezeigt, ist die Hauptaussage des ersten Chorliedes die Kontrastierung von Hector und Priamus, die darauf abzielt, zwei verschiedene Gruppen zu illustrieren, für die der Tod unterschiedlichen Stellenwert einnimmt. Das Hauptanliegen des zweiten Liedes ist es hingegen, die Wertung des Todes als positiv zu begreifen: Die komplette Existenzvernichtung bedeutet zwar, dass aus dem Tod nicht insofern Hoffnung geschöpft werden könne, als er ein besseres Weiterleben biete, aber auch, dass es keinen Schmerz und kein Leid mehr gebe.23 Dies ist zwar epikureisch, aber für Seneca nicht unbedingt ungewöhnlich, denn auch in stoischer Auslegung wird dem Tod als Ausweg aus dem Leiden eine hohe Bedeutung beigemessen. Bei LucrezLucrez soll die Nichtigkeit des Todes der Furcht vor den Göttern entgegenwirken, bei Seneca werden die Götter durch das fatum ersetzt.24 Dass es die fata sind, die den Tod von Polyxena und Astyanax fordern, mag für einen Stoiker, der das fatum als positive Macht empfinden sollte, erstaunlich klingen. Tatsächlich ist Senecas Blick auf das fatum wie schon im OedipusTragödienOedipus kritisch. Das fatum ist zu einer Macht geworden, die keinen Trost spendet, sondern Angst macht. Gerade in den TroerinnenTragödienTroades zeigt sich, dass es hier keine Hoffnung mehr gibt, die eigene Situation verbessern zu können, sondern nur die Möglichkeit, eine gewisse innere Freiheit zu bewahren. Der freie Wille besteht also höchstens darin, sich freiwillig dafür zu entscheiden, das fatum anzunehmen.25 Essentiell ist, dass Seneca die Macht des fatum nicht für nichtig erklärt. Gerade seine unvermeidbare Präsenz lässt die Figuren scheitern. Seneca negiert das fatum und die stoische Philosophie somit nicht,TragödienMedea26 sondern nimmt eine Umwertung von einem positiven zu einem negativen Konzept vor. Ob er nun im ersten Lied ein Weiterleben im Elysium in Freiheit oder die vollkommene Auflösung im zweiten Lied proklamiert – dies sind lediglich unterschiedliche Konzeptionen, die zum selben Ziel führen: Seneca sieht im Tod die Erlösung vom fatum und nicht das Aufgehen darin. Das zweite Chorlied porträtiert so in wenigen Versen die Spannung zwischen unbedingtem Fatumsglauben und dem Verzweifeln daran und gibt eine epikureische Antwort als Trost für ein stoisches Weltprinzip.

 

Der rote Faden des Stückes erscheint mit Abschluss des zweiten Chorliedes luzide: Im Fokus des zweiten Aktes stand die Diskussion über Polyxenas Opferung, also über den Tod als Strafe. Nach dem vorhergehenden ersten Akt, der in einer Art Exposition klargemacht hatte, dass unterschieden werden müsse in die, die den Tod als Ausweg wählen können, und die, denen diese Möglichkeit nicht offensteht, beschäftigt sich das zweite Chorlied nun generell mit der Frage nach der Beschaffenheit des Todes. Hier tritt die Überlegung zu Tage, ob Polyxenas Opferung wirklich als Strafe oder nicht vielmehr als Gnade zu sehen und ob der Tod nicht generell dem Leben vorzuziehen sei.