Seewölfe - Piraten der Weltmeere 46

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 46
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Impressum

© 1976/2013 Pabel-Moewig Verlag GmbH,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-363-3

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

1.

Die Bewegungen des Schiffes waren von einschläfernder Monotonie. Es herrschte nur schwacher Wellengang, und der Bug der Karavelle hob und senkte sich in entsprechend trägem Rhythmus. Das stete Knarren und Ächzen der Takelage begleitete diesen Rhythmus als gleichbleibendes Geräusch.

Die Männer dösten vor sich hin. Sie sahen das Tageslicht nicht. Die Luft im Halbdunkel der Vorpiek war stikkig und mit Schweißgeruch angereichert. Nur hin und wieder bewegte sich einer der Männer, und dann war das leise Klirren von Ketten zu hören.

Insgesamt vierzehn Männer waren es, die in der britischen Kriegskaravelle „War Song“ in Ketten lagen.

Lediglich einer von ihnen war hellwach.

Sir John Killigrew starrte mit weit offenen Augen in die Düsternis der Vorpiek. Seine Gedanken waren nicht minder düster wie seine Umgebung. Von blindwütigen Rachegefühlen geprägt, kehrten diese Gedanken immer wieder auf den einen Punkt zurück: Es mußte ihm gelingen, sich und seine Männer aus dieser elenden Lage zu befreien.

Wie, das wußte er allerdings beim besten Willen nicht.

Seit einer halben Ewigkeit dachte er darüber nach. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren und wußte nicht mehr genau, wie viele Tage vergangen waren, seit dieser Dreckskerl von einem Bootsmann sich erdreistet hatte, ihn und die Überlebenden aus seiner Mannschaft anzuketten – ausgerechnet ihn, der er kein Geringerer war als der Generalkapitän von Cornwall.

Sir John hatte inzwischen die Erinnerung daran verdrängt, daß dieser selbe Bootsmann ihn erbarmungslos zusammengeschlagen und ihm damit die schlimmste Demütigung seines Lebens zugefügt hatte.

Nein, die gewohnte Selbstherrlichkeit des alten Killigrew war in vollem Umfang zurückgekehrt. Vergessen waren die Schmerzen, die noch bis vor kurzem in ihm getobt hatten, und mit den Schmerzen hatte er auch die Schmach der erlittenen Niederlage abgeschüttelt.

Mit geradezu unbändiger Willenskraft fieberte er danach, die Lage zu seinen Gunsten zu wenden.

Polternde Schritte näherten sich dem Schott der Vorpiek und rissen Sir John unverhofft aus seinen Gedanken.

Auch die übrigen Männer seiner Crew wurden wach, hoben die Köpfe, blinzelten und klirrten mit den Ketten, als sie sich den Schlaf aus den Augen rieben.

Sir Johns hellblaue Augen blitzten. Seine Knollennase dehnte sich in die Breite, während sich ein Grinsen in seine derben Gesichtszüge kerbte. Kettenrasselnd fuhr er sich mit der Linken durch das rote Haar.

Draußen vor dem Schott endeten die Schritte. Ein harter, dumpfer Laut folgte. Dann flutete grelles Tageslicht herein, als das Schott geöffnet wurde.

Sekundenlang schlossen die Männer geblendet die Augen. Sir John kniff die Lider indessen nur einen winzigen Moment zusammen. Angestrengt starrte er in die ungewohnte Helligkeit.

Hölle und Teufel, sollte es tatsächlich gefruchtet haben, daß er sich nichts sehnlicher gewünscht hatte als eine Chance? War es ihm etwa gelungen, die Reaktionen dieser Bastarde da draußen an Deck durch seine Gedankenkraft zu beeinflussen? Hm, schon möglich. Wenn es so etwas wie übersinnliche Kräfte gab, dann war es eigentlich nicht verwunderlich, wenn er, Sir John Killigrew, auch über solche Fähigkeiten verfügte. Gegen ihn war eben kein Kraut gewachsen, auch wenn es manchmal schlecht für ihn aussah.

Er war immer wieder ans Tageslicht gekrochen. Und dann hatte er denjenigen, die ihn ins Dunkel gestoßen hatten, derartig Feuer unter dem Hintern gemacht, daß sie auf allen vieren vor ihm gekrochen waren.

Allerdings – ob dies die passende Gelegenheit war, mußte man abwarten. Sir John hatte nicht mehr vor, sich zu Unbedachtheiten verleiten zu lassen. Seine Männer waren instruiert. Sie wußten, unter welchen Voraussetzungen sie zu handeln hatten.

Der klotzige Schattenriß eines Mannes schob sich durch das helle Rechteck des offenen Schotts.

Er blickte in die Runde, nickte beruhigt, brummelte etwas und schleppte einen gußeisernen Kübel herein, den er im Mittelgang zwischen den beiden Reihen der Angeketteten abstellte.

„Eigentlich sollte man euch vor die Hunde gehen lassen“, sagte er mit einem verächtlichen Blick auf die Gefangenen in seiner unmittelbaren Nähe. „Aber unser Bootsmann ist nun mal ein Mensch. Durch und durch. Wenn’s nach mir ginge, könntet ihr verhungern. Aber, na ja ...“ Er zog die Schultern hoch, ließ sie wieder sinken und trottete hinaus. Mit einer Schöpfkelle und Blechnäpfen, die an einem Lederseil baumelten, kehrte er kurz darauf zurück.

Sir John blieb äußerlich völlig ruhig. Innerlich vibrierte er.

O verdammt, besser konnte es nicht kommen.

Keiner seiner Männer antwortete auf die Bemerkungen des Bulligen. Sie alle empfanden die gleiche innere Anspannung. Denn jeder von ihnen wußte, was jetzt bevorstand.

Der Mann hieß Sharkey und war Koch an Bord der „War Song“. Die Tatsache, daß eine Steinschloßpistole unter dem handtellerbreiten ledernen Hüftgurt des Kochs steckte, störte niemanden aus der Killigrew-Meute. Sharkey sollte keine Gelegenheit mehr haben, die Waffe noch einzusetzen.

Die Blechnäpfe schepperten bei jedem Schritt, als er ohne sonderliche Eile auf den Kübel zuging. Deutlich war an Sharkeys Miene abzulesen, daß es ihm wenig Freude bereitete, diesen wilden Haufen mit Essen zu versorgen – diese Halunken, die dem Bootsmann Sullivan und seiner Stammcrew unendliche Schwierigkeiten bereitet hatten.

Der narbengesichtige Corduroy und Hanks, ein Mann mit kantigem Schädel und blaßgrauem Stoppelhaar, hockten nebeneinander in unmittelbarer Nähe des Kübels.

Sir John verständigte sich mit den beiden Männern durch einen Blick. Corduroy und Hanks waren die Verläßlichsten in der zusammengeschmolzenen Killigrew-Mannschaft. Fanatische Kämpfernaturen, die ihrem Herrn ebenso blind ergeben waren wie die anderen.

Ihre Gesichter blieben unbewegt und ausdruckslos, als Sharkey heranschlurfte.

Blitzartig streckte Corduroy das rechte Bein aus. Die Kette ermöglichte ihm nur einen knappen Bewegungsspielraum. Aber es reichte.

Sharkey hakte mit dem linken Fuß hinter Corduroys Knöchel. Der Schiffskoch stieß einen erschrockenen Knurrlaut aus. Er stürzte vornüber, ruderte mit den Armen und versuchte vergeblich, sein Gleichgewicht zu behalten. Blechnäpfe und Kelle wirbelten durch die Luft und landeten scheppernd auf den Planken.

Im letzten Moment versuchte Sharkey noch, sich abzustützen. Aber er reagierte nicht schnell genug und schaffte es nicht mehr.

Mit der Stirn schlug er auf den scharfkantigen oberen Rand des heißen Kübels. Ein Zucken lief durch den bulligen Körper des Mannes. Der Schrei, den er hatte ausstoßen wollen, verstummte im Ansatz. Er rollte auf den Rükken, Hanks vor die Füße. Nur noch ein Stöhnen drang aus Sharkeys Kehle. Seine hochgekippten Augen und das hervorquellende Weiße seiner Augäpfel zeigten, daß er mit der aufwallenden Bewußtlosigkeit kämpfte.

Hanks brauchte sich nur vorzubeugen. Tückisch grinsend hob er beide Hände mit den schweren eisernen Manschetten, an denen die Ketten befestigt waren.

Und erbarmungslos, immer noch grinsend, ließ Hanks die Eisenschellen herabsausen.

Einmal, zweimal, dreimal.

Der Körper des Kochs streckte sich und erschlaffte. Sein Gesicht war nur noch eine blutige Masse. Keiner der Männer brauchte zweimal hinzusehen, um zu erkennen, daß Sharkey die furchtbaren Hiebe nicht überlebt hatte.

Aufgeregtes Gemurmel setzte ein. Die Gesichter der Männer leuchteten in wilder Freude.

„Ruhe halten!“ mahnte Sir John leise. „Und jetzt her mit dem Kerl, damit er vom Schott aus nicht zu sehen ist.“

Behutsam, um die Ketten nicht übermäßig klirren zu lassen, packten die Männer zu. Stück für Stück schoben sie den Toten in den dunkleren Teil der Vorpiek, wo Simon Llewellyn Killigrew neben seinem Vater ein ungeniertes, lautstarkes Gähnen von sich gab.

Sir Johns Kopf ruckte herum.

„Halt den Rand!“ sagte er zischend. „Radau veranstalten kannst du später, du Trottel.“

Simon Llewellyn zog beleidigt die Stirn in Falten, klappte den Mund zu und schmatzte mit seinen wulstigen, aufgeworfenen Lippen, die seiner unteren Gesichtspartie – zusammen mit der platten Nase – das Aussehen einer Ferkelschnauze gaben. Die Haut Simon Llewellyns war. ständig leicht gerötet. Seine Statur war bullig wie die seines Vaters, und seine struppigen Haare hatten das gleiche leuchtende Rot.

Sir John packte den toten Schiffskoch am Kragen, knapp unterhalb der blutigen Masse, die einmal das Gesicht des Mannes gewesen war, und zog ihn zu sich heran. Er riß die Pistole aus Sharkeys ledernem Hüftgurt, überprüfte die Ladung und das Pfannenpulver der Waffe und nickte zufrieden.

 

„In Ordnung“, sagte der alte Killigrew halblaut. „Warten wir ab, was passiert. Und absolute Ruhe, verstanden? Irgendwann müssen die Hurensöhne sich rühren.“

Sir John grinste tückisch und richtete den Lauf der schweren Steinschloßpistole probeweise auf das offene Schott der Vorpiek.

Sullivan, breitschultrig und stämmig, spähte vom Deck des Achterkastells über das Vorschiff weg zur Küste. Der Wind wühlte in den rotblonden Haaren des Mannes, der an Bord der Kriegskaravelle mit eiserner Faust aufgeräumt und der habgierigen Killigrew-Brut die entscheidende Niederlage zugefügt hatte.

Die „War Song“ segelte bei rauhem Wind auf Nordostkurs.

Es war der Nachmittag des 25. Februar 1580.

Sullivan hob das Okular des Spektivs ans Auge. Die messerscharfe Optik zeichnete den rauhen Küstenverlauf mit seinen Klippen und der gischtenden Brandung wie ein stimmungsvolles Ölgemälde. Ablandiger Wind trieb Wolkenbänke auf das Meer hinaus, und wie blaue Farbtupfer zeigte sich zwischen diesen Wolken der Himmel. Dort hinter den Klippen und der Steilküste begann Cornwall, das rauhe und reizvolle Land im Südwesten Englands.

Sullivan ließ das Spektiv wieder sinken.

Tintagel, im Norden der Port Isaac Bay gelegen, war höchstens noch drei oder vier Seemeilen entfernt. Und wahrscheinlich also, daß sich die Crew des Seewolfs ausgerechnet hier, in der Nähe einer größeren menschlichen Ansiedlung, verborgen haben sollte.

Nein, Sullivan vermutete die Galeone „Isabella“ weiter nördlich, in irgend einem der unzähligen Küsteneinschnitte der Bude Bay. Die „Isabella“ hatte den Bauch voll mit Gold und Edelsteinen aus der Neuen Welt. Ein unermeßlicher Beuteschatz, den der Seewolf Philipp Hasard Killigrew drüben vor den Küsten Amerikas und in der Karibik den Dons abgeknöpft hatte. Nach der Heimkehr der „Isabella“ hatte sich die Kunde von diesem Beuteschatz in Cornwall, vielleicht sogar in ganz England herumgesprochen.

Allen hellhörig gewordenen Habgierigen voraus war Sir John Killigrew mit seiner Meute aufgebrochen, um dem Bastard Hasard, wie er ihn zu bezeichnen pflegte, den Schatz abzujagen. Die Crew der „Isabella“ mußte unterdessen ohne den Seewolf fertigwerden, denn der lag mit einer schweren Kopfverletzung in Plymouth, wo er von seiner Ehefrau Gwen gepflegt wurde.

In Plymouth hatte sich der alte Killigrew die Karavelle „War Song“ mit einem fadenscheinigen Vorwand buchstäblich unter den Nagel gerissen, um die Verfolgung der „Isabella“ aufzunehmen. Erst später, fast zu spät, waren Sullivan die Augen aufgegangen. Aber dann hatten er und seine Männer dem alten Schlitzohr Zunder gegeben, daß ihm Hören und Sehen vergangen war.

Das Ergebnis war der klägliche Haufen, der jetzt angekettet in der Vorpiek hockte.

Sullivan hoffte, daß es ihm in ein oder zwei Tagen gelingen würde, die „Isabella“ aufzuspüren. Er beabsichtigte, sich der Galeone und ihrer Crew als Begleitschutz zur Verfügung zu stellen, damit das Eigentum der königlichen Lissy vor weiteren Halunken sicher war.

„He, Bootsmann, Sir!“ rief Mahoney, der Rudergänger, vom Kolderstock her. „Was ist mit Sharkey los? Hält er mit den Bastarden einen Schwatz? Freundet er sich etwa mit denen an?“

Sullivan stutzte.

„Weiß der Teufel“, sagte er stirnrunzelnd. Mahoney hatte recht. Sharkey blieb auffällig lange in der Vorpiek. Die Essenausgabe pflegte er sonst im Handumdrehen zu erledigen.

Die Männer, die auf dem Deck der Kuhl mit dem Aufschießen von Tauen und dem Flicken von Ersatzsegeln beschäftigt waren, wurden ebenfalls aufmerksam.

Wie es seine Art war, traf Sullivan eine schnelle Entscheidung.

„Hornblow!“

„Sir?“

„Sieh nach dem Rechten!“

„Aye, aye, Sir.“

Hornblow rückte seine Pistole im Gurt zurecht und lief los. Er war ein großer breitschultriger Mann mit leuchtenden strohblonden Haaren. Unter dem derben Leinenhemd, das er trug, zeichneten sich seine mächtigen Muskelpakete ab.

Hornblow mahnte sich selbst instinktiv zur Vorsicht, als er sich dem offenen Schott der Vorpiek näherte.

Diese totale Stille war verdächtig. Kein Klappern von Blechnäpfen, keine Eßgeräusche, kein Gemurmel.

Hornblow zog seine Pistole und spannte den Hahn. Langsam, alle Muskeln angespannt, ging er auf das offene Schott zu. Er wußte, daß er nicht unbemerkt eindringen und den ganzen Laden auseinandernehmen konnte. Nein, er war gezwungen, sich wie auf dem Präsentierteller in die Höhle des Löwen zu begeben.

Höhle des Löwen?

Der blonde Hüne lachte innerlich über sich selbst. Zum Teufel, die Kerle da drinnen waren angekettet und hatten bestenfalls genügend Bewegungsfreiheit, um sich in der Nase zu bohren. Vielleicht war Sharkey zur Galion geschlichen, weil er aus der Hose mußte. Meistens gab es für merkwürdige Dinge immer eine ziemlich einfache Erklärung.

Hornblow unterdrückte daher seine Bedenken und trat in das offene Rechteck des Vorpiekschotts.

Sein Blick fiel auf den dampfenden gußeisernen Kübel und auf die Blechnäpfe und die Schöpfkelle, die im Mittelgang lagen.

Sharkey war nicht zu sehen.

Die Gefangenen hockten in ihren Ketten und taten völlig teilnahmslos. Das Tageslicht reichte nur etwa zur Hälfte in die Vorpiek. Der hintere Teil lag im Halbdunkel.

Hornblow kniff die Augen zusammen.

„Was geht hier vor?“ sagte er energisch. Er hob die Pistole ein Stück höher. „Wo ist der Koch? Redet, ihr Bastarde!“

„Das dürfte wohl nicht mehr nötig sein“, erwiderte die hohntriefende Stimme des alten Killigrew aus dem dunkleren Teil der Vorpiek.

Für Hornblow blieb keine Zeit mehr, zu reagieren.

Seine letzten Wahrnehmungen waren das Klicken des Flints, das Zischen des Pfannenpulvers und die glühend rote Mündungslanze, die aus der Dunkelheit auf ihn zustach. Das Donnern des Schusses, der sich ohrenbetäubend in der engen Vorpiek brach, hörte er nicht mehr.

Die Kugel zerschmetterte Hornblows Stirn und blieb tief in seinem Schädel stecken. Der hünenhafte Mann war bereits tot, als er noch von der Wucht des Einschusses rückwärts geschleudert wurde. Im offenstehenden Schott schlug sein lebloser Körper der Länge nach hin.

Sir John Killigrew, dessen Augen sich hervorragend an das Halbdunkel gewöhnt hatten, blieb völlig gelassen.

Sein Sohn Simon Llewellyn fuhr sich unablässig mit der Zungenspitze über die wulstigen Lippen. Seine ferkelhaften Gesichtszüge waren angespannt, während er mit vorgerecktem Kinn unentwegt zum offenen Schott starrte.

Auch die übrigen Männer verharrten schweigend in atemloser Spannung, ohne daß der alte Killigrew sie noch einmal zur Ruhe bringen mußte.

Sir John nahm Pulverflasche und Kugelbeutel vom Gurt des toten Kochs und lud die Steinschloßpistole nach.

Das bekannte tückische Grinsen lag in seinen Mundwinkeln.

Dieser Sullivan und seine Affenärsche verstanden garantiert die Welt nicht mehr. Und wenn sie gleich auf kreuzten, würden sie erst recht nichts mehr kapieren.

Sullivan schwang sich über die vordere Balustrade des Achterkastells. Federnd landete er auf den Decksplanken der Kuhl und zog seine Radschloßpistole. Die unterarmlange Waffe war ein Beutestück, von einem Büchsenmacher in Nürnberg mit höchster Präzision angefertigt.

Harte Furchen lagen in Sullivans wettergegerbtem Gesicht, seine Stimme klirrte vor Zorn.

„Rufus! Canter! Walker!“

Die drei Männer waren sofort zur Stelle, und alle drei hielten ihre Pistolen schußbereit.

Rufus, der drahtige Mann mit der Katzenhaften körperlichen Gewandtheit, war schneeweiß im Gesicht. Er konnte ein Zittern nicht unterdrücken, seine aufeinandergepreßten Lippen bildeten einen Strich.

Sullivan legte ihm die Hand auf die Schulter. Es genügte. Er brauchte nichts zu sagen. Rufus wurde ruhiger. Sein Zittern schwand. Was jedoch blieb, war die grenzenlose Wut, die in ihm loderte.

Sullivan bedauerte es, daß er ausgerechnet Hornblow losgeschickt hatte. Aber als sie mit langen Schritten zur Vorpiek eilten, unterdrückte er diese Selbstvorwürfe. Jeden von ihnen konnte es immer und irgendwann erwischen. Allerdings waren Hornblow und Rufus die besten Freunde und Partner, die man sich vorstellen konnte. Ein hervorragend aufeinander eingespieltes Zweier-Team, das sich in allen Situationen bestens ergänzte. Vor allem in den zahllosen Gefechten, die sie gemeinsam durchgestanden hatten, hatte sich die Partnerschaft von Hornblow und Rufus glänzend bewährt.

Sollte es jetzt damit vorbei sein?

Unwillkürlich prallten sie zurück, als sie den Toten in dem offenstehenden Schott der Vorpiek erblickten.

Rufus stieß einen heiseren Schrei aus. Die Vorsicht verließ ihn. Er sprang vor, wiederum zitternd vor Rachedurst, und wollte mit blinder Gewalt in die Vorpiek stürmen.

Sullivan erwischte ihn im letzten Moment am linken Oberarm und riß ihn zurück.

„Verdammt, laß mich!“ sagte Rufus keuchend. Schweiß rann über seine Stirn. „Ich werde diese dreckigen Bastarde mit Blei vollpumpen. Ich werde diesem elenden Killigrew den Kopf abhacken. Ich werde ...“

„Gar nichts wirst du“, unterbrach ihn der Bootsmann. „Ich verstehe, daß du durchdrehst. Sie haben deinen besten Freund erschossen. Aber womit haben sie das getan?“

Rufus blinzelte und runzelte die Stirn. Es war, als erwache er aus einem Traum.

„Teufel, ja; sie müssen eine Waffe haben“, murmelte er niedergeschmettert. „Ich würde jetzt auch daliegen, wenn ich ...“

„Gut, daß du das begreifst“, sagte Sullivan und klopfte ihm auf die Schulter. „Vorwärts jetzt.“

Unmittelbar neben dem offenen Schott blieben sie stehen.

„Killigrew!“ rief der Bootsmann schneidend. „Du hast noch eine kleine Chance. Wirf die Pistole heraus! Wenn nicht, schießen wir euch zusammen. Hoffentlich kapierst du, daß das für uns ein Kinderspiel ist. Also her mit der Pistole! Ich zähle bis drei. Eins ...“

„He, du Hurenbock von einem Bootsmann!“ tönte eine schrille, sich überschlagende Stimme aus der Vorpiek. Es war Llewellyn Killigrew. „Du hältst dich wie immer für mächtig schlau. Aber diesmal begehst du einen verdammten Fehler. Mein Vater hat nämlich euren Koch vor dem Lauf! Und wenn ihr nicht pariert, kriegt der Kerl auf der Stelle ein Stück Blei in den Strohkopf!“

Sullivan wechselte einen fassungslosen Blick mit den anderen.

„Das ist Schwindel!“ rief er dann. „Solche Tricks zieht ihr mit uns nicht durch, Killigrew!“

„Zeigt euch!“ schrie Simon Llewellyn zurück. „Aber ohne Waffen! Dann werden wir euch beweisen, daß es kein Trick ist. Los, los, beeilt euch! Unsere Geduld dauert nicht ewig. Wir haben nichts zu verlieren. Für uns steht nichts auf dem Spiel. Und wenn ihr meint, daß ihr euren Koch draufgehen lassen könnt, dann ist das eure Entscheidung. Auf jeden Fall warten wir nicht länger als zwei Minuten.“

Sullivan sah seine Begleiter an.

„Wir haben keine andere Wahl“, sagte er gepreßt.

Thomas Canter, der riesenhafte schwarzbärtige Schiffszimmermann, legte zweifelnd den Kopf schief.

„Ich weiß nicht recht“, entgegnete er leise. „Vielleicht ist es doch ein Trick. Woher wissen wir denn, ob Sharkey überhaupt noch lebt?“

Sullivan zog die Augenbrauen hoch.

„Das, Canter, werden wir sehr schnell herausfinden.“

„Was ist jetzt, ihr Bastarde?“ meldete sich wieder Simon Llewellyns schrille Stimme aus der Vorpiek. „Was lange wollt ihr noch überlegen? Ihr werdet uns diese verdammten Ketten abnehmen und dann meinem Vater die Karavelle übergeben!“

Sullivan wußte, daß er in einer höllischen Zwickmühle steckte, sofern es sich nicht um einen Trick handelte. Er gehörte nicht zu der gleichen Sorte Mensch wie der alte Killigrew. Er, Sullivan, war nicht so, daß er einen Mann über die Klinge springen ließ, ohne mit der Wimper zu zucken.

Aber sicherlich hatte Thomas Canter mit seinen Zweifeln recht.

Sullivan war selbst mißtrauisch genug. Zuviel hatte er schon mit dem alten Halunken erlebt, als daß er ihm jetzt noch trauen konnte. Der ehrenwerte Sir John hatte nicht gezögert, das Leben seines eigenen Sohnes in die Waagschale zu werfen, als an Bord der „War Song“ das entscheidende Gefecht zwischen der Killigrew-Meute und der Stammcrew stattgefunden hatte. Deshalb war es dem Schlitzohr ohne weiteres zuzurauen, daß er jetzt eiskalt zum Mord übergegangen war, um sein Ziel doch noch zu erreichen.

Aber Sullivan wollte es genau wissen.

„Wir stellen eine Bedingung?“

 

„Sharkey soll sich melden. Ich will wissen, ob er wirklich noch lebt.“

„Du bist nicht ganz richtig im Kopf, Drecks-Bootsmann! Die einzigen, die hier Bedingungen stellen, sind wir!“

Eine dumpfe Reibeisenstimme war unvermittelt aus dem Hintergrund zu hören. Die Worte waren nicht zu verstehen, aber Sullivan und seine Gefährten erkannten sofort, daß es sich um das Organ des alten Killigrew handelte.

„Also gut!“ schrie Simon Llewellyn kurz darauf. „Mein Vater ist einverstanden. Wir sind schließlich keine Unmenschen. Los, du Mistkoch! Sag was!“

Mehrere Sekunden verstrichen in beklemmender Stille.

Dann ertönte eine dunkle, etwas heisere Stimme.

„Ja, ich bin’s, Sharkey. Mit mir ist alles in Ordnung. Macht um Himmels willen keinen Unsinn!“

Sullivan und seine Begleiter wechselten erstaunte Blicke. Ohne Zweifel war es tatsächlich Sharkey, der da redete. Also doch kein Trick von Sir John?

Sullivan ahnte nicht, daß einer der Männer aus der Crew des alten Killigrew die Stimme des Schiffskochs täuschend echt imitierte. Sullivan konnte indessen jenes tiefe Mißtrauen nicht überwinden, das in ihm wurzelte, seit er begriffen hatte, zu welchen Raffinessen Sir John fähig war.

Deshalb ließ sich der Bootsmann der „War Song“ nicht so ohne weiteres überzeugen. Aus einer plötzlichen Eingebung heraus schloß er eine Frage ab.

„He, Sharkey! Sag mir, wie deine Frau heißt!“

Einen Moment blieb es still. Rufus, Canter und Walker nickten anerkennend. Sie hatten begriffen, daß Sullivan diesmal nicht im Traum daran dachte, dem alten Killigrew auf den Leim zu gehen.

Aus der Vorpiek erscholl ein Lachen.

„Soll das ein Witz sein, Bootsmann? Du weißt verdammt genau, daß ich nicht verheiratet bin.“

Sullivan wußte nicht sofort eine Antwort.

„Hm ...“

Plötzlich tippte David Walker ihm auf die Schulter. Sullivan drehte sich um. Er war drauf und dran, aufzugeben, denn er kam nicht darauf, daß der Mann in der Vorpiek genau wußte, daß Sharkey unverheiratet gewesen war. Schließlich fuhren Sir Johns und Sullivans Leute seit Plymouth zusammen auf der „War Song“, und sie hatten des öfteren Gelegenheit gehabt, sich über persönliche Dinge zu unterhalten.

„Mir fällt da was ein“, flüsterte David Walker. „Ich habe heute morgen mit Sharkey geredet. Und zwar über den alten Halunken und sein feines Söhnchen. Er müßte also noch genau wissen, was er gesagt hat.“

„Gut“, gab Sullivan ebenso leise zurück. „Dann frag ihn.“

„Hör mal, Sharkey, alter Junge!“ rief Walker. „Erinnerst du dich, über was wir heute morgen gesprochen haben? Weißt du noch, wie du Sir John genannt hast?“

Wieder blieb es sekundenlang still.

Sullivan, Canter und Rufus blickten Walker fragend an.

„Der größte Hurenbock von Cornwall“, flüsterte Walker augenzwinkernd. „So hat Sharkey ihn genannt.“

Die Antwort aus der Vorpiek ließ diesmal länger auf sich warten.

„Ich – ich habe gesagt“, stotterte der angebliche Koch schließlich, „daß – daß Sir John ein feiner Kerl sei.“

Die Erkenntnis traf Sullivan und seine Begleiter wie ein Faustschlag.

„Los jetzt!“ rief der Bootsmann zischend, und im nächsten Moment stürmte er auch schon auf das offene Schott zu.

Canter, Rufus und Walker folgten ihm mit nur zwei Schritten Abstand.

Sullivan schnellte mit einem Sprung voraus und hechtete flach in den Mittelgang zwischen den angeketteten Gefangenen.

Ein lästerlicher Fluch scholl ihm entgegen.

„Verdammter Bastard!“ brüllte Sir John.

Er feuerte seine Pistole in dem Moment ab, als Sullivan vor dem gußeisernen Suppenkübel in die Waagerechte ging.

Die drei Gefährten des Bootsmannes reagierten schnell genug und wichen blitzartig von dem offenen Schott zurück.

Die Kugel richtete keinen Schaden an.

Noch im Nachhall des donnernden Schusses schnellte Sullivan wieder hoch, sprang über den Kübel und sah die schattenhaften Umrisse Sir Johns im dunkleren Teil der Vorpiek.

Der alte Killigrew stieß einen Wutschrei aus und schleuderte dem Bootsmann die leergeschossene Pistole entgegen.

Sullivan spürte, wie die Waffe haarscharf an seinem rechten Ohr vorbeizischte, und das stachelte seinen Zorn nur noch mehr an. Hinter sich hörte er die polternden Schritte von Canter, Rufus und Walker. Sie würden die Gefangenen unter Kontrolle halten, kein Zweifel. Wahrscheinlich hatten sie auch ihre Pistolen klar, um die Lage mit dem nötigen Nachdruck in Ordnung zu bringen. Sullivan konnte sich also ausschließlich auf den alten und den jungen Killigrew konzentrieren.

Und hol’s der Teufel, das hatten die beiden Strolche mehr als verdient.

Sir John versuchte, sich trotz seiner Ketten zur Wehr zu setzen. Mit beiden Füßen trat er nach dem Bootsmann, der wie ein Ungewitter auf ihn losging.

Aber Sullivan ließ sich nicht beirren. Wie eine Eiche im Wind trotzte er der verzweifelten Gegenwehr des alten Killigrew und verpaßte ihm mit seinen harten Fäusten den Denkzettel, den er wieder einmal so dringend brauchte.

Die Niederlage und die Prügel, die er erst vor wenigen Tagen bezogen hatte, schien Sir John schon wieder vergessen zu haben. Sullivan gelangte zu der Überzeugung, daß der alte Halunke immer von neuem und regelmäßig mit der Nase ins Fett gestoßen werden mußte, damit er endlich begriff, daß er nicht unbesiegbar war.

Sir John Killigrew schrie unter den Fausthieben des stämmigen Bootsmannes, der ihn schon einmal so sehr gedemütigt hatte. In den Schreien Sir Johns paarten sich ohnmächtige Wut und unendliche Verzweiflung.

Neben ihm kauerte Simon Llewellyn angstschlotternd unter seinen Ketten. Sein Ferkelgesicht bebte, er verfolgte das Geschehen mit weit aufgerissenen Augen.

Sullivan hörte nicht eher auf, bis der alte Killigrew unter seinen Hieben erschlaffte. Das heisere Geschrei Sir Johns versiegte, als ihn die Bewußtlosigkeit wegraffte.

„Nein, nein!“ schrie Simon Llewellyn. „Hau ab, du verdammter Hurenbock! Du wirst es nicht wagen, dich an mir zu vergreifen! Ich schwöre dir, du wirst dafür büßen! Ich werde dafür sorgen, daß du zur Rechenschaft gezogen ...“

Seine Worte gingen in einem Gurgeln unter, als Sullivan sich vorbeugte, ihn am Kragen packte und zu sich heranzog, so weit es die Ketten erlaubten.

„Selbst wenn dir noch mehr nette Worte einfallen“, sagte der Bootsmann mit gespielter Freundlichkeit, „behalt sie besser für dich. Ich bin ein verständnisloser Mensch, Söhnchen. Allerdings nur, wenn es sich um Leute von deiner dreckigen Sorte handelt.“

Simon Llewellyn ächzte, zappelte und wand sich, aber es gelang ihm nicht, auch nur den Versuch einer Gegenwehr zu unternehmen. Den Bärenkräften des stämmigen Sullivan hatte er nicht das Geringste entgegenzusetzen.

Sullivan stieß ihn von sich weg, daß er mit dem Rücken auf die Planken krachte. Und bevor Simon Llewellyn sich aufrappeln konnte, beförderte er ihn mit einem einzigen gutgezielten Hieb ins finsterste Traumland.

Mit einem letzten Seufzer sank der Ferkelgesichtige in sich zusammen und rührte sich nicht mehr.

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