Nichts Als Töten

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From the series: Ein Adele Sharp Mystery #4
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Nichts Als Töten
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NICHTS
ALS
TÖTEN
(Ein Adele Sharp Mystery – Buch 4)
B L A K E    P I E R C E
Blake Pierce

Blake Pierce ist die Autorin der RILEY-PAGE-Bestsellerreihe, die siebzehn Krimis um die FBI-Spezialagentin umfasst. Aus ihrer Feder stammt außerdem die vierzehnbändige MACKENZIE-WHITE- Krimiserie. Darüber hinaus sind von ihr die Krimis um AVERY BLACK (sechs Bände), KERI LOCKE (fünf Bände), die Krimiserie das MAKING OF RILEY PAIGE (sechs Bände), die KATE-WISE- Krimiserie (sieben Bände), die Psychothriller um JESSIE HUNT (vierzehn Bände), die Psychothriller-Trilogie AU PAIR, die ZOE-PRIME-Krimiserie (bislang fünf Bände), die neue Krimireihe um ADELE SHARP und die Cosy-Krimi-Reihe LONDON ROSES EUROPAREISE, deren erster Band hier vorliegt, erschienen.

Als begeisterte Leserin und lebenslanger Fan des Krimi- und Thriller-Genres freut sich Blake immer, von ihren Leserinnen und Lesern zu hören. Bitte besuchen Sie www.blakepierceauthor.com, um mehr zu erfahren und in Kontakt zu bleiben.


Copyright © 2020 by Blake Pierce. Alle Rechte vorbehalten. Vorbehaltlich der Bestimmungen des U.S. Copyright Act von 1976 darf kein Teil dieser Publikation ohne vorherige Genehmigung des Autors in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln reproduziert, verteilt oder übertragen oder in einer Datenbank oder einem Abfragesystem gespeichert werden. Dieses eBook ist nur für Ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Dieses eBook darf nicht weiterverkauft oder an andere Personen weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit einer anderen Person teilen möchten, kaufen Sie bitte für jeden Empfänger ein zusätzliches Exemplar. Wenn Sie dieses Buch lesen und Sie es nicht gekauft haben, oder es nicht nur für Ihren Gebrauch gekauft wurde, dann senden Sie es bitte zurück und kaufen Sie Ihre eigene Kopie. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit dieses Autors respektieren. Dies ist eine erfundene Geschichte. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind entweder das Ergebnis der Phantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, ob lebendig oder tot, ist völlig zufällig. Jacket image Copyright CloudyStock, verwendet unter der Lizenz von Shutterstock.com.

BÜCHER VON BLAKE PIERCE

LONDON ROSES EUROPAREISE

MORD (UND BAKLAVA) (Band #1)

ADELE SHARP MYSTERY-SERIE

NICHTS ALS STERBEN (Band #1)

NICHTS ALS RENNEN (Band #2)

NICHTS ALS VERSTECKEN (Band #3)

NICHTS ALS TÖTEN (Band #4)

DAS AU-PAIR

SO GUT WIE VORÜBER (Band #1)

SO GUT WIE VERLOREN (Band #2)

SO GUT WIE TOT (Band #3)

ZOE PRIME KRIMIREIHE

GESICHT DES TODES (Band #1)

GESICHT DES MORDES (Band #2)

GESICHT DER ANGST (Band #3)

GESICHT DES WAHNSINNS (Band #4)

GESICHT DES ZORNS (Band #5)

JESSIE HUNT PSYCHOTHRILLER-SERIE

DIE PERFEKTE FRAU (Band #1)

DER PERFEKTE BLOCK (Band #2)

DAS PERFEKTE HAUS (Band #3)

DAS PERFEKTE LÄCHELN (Band #4)

DIE PERFEKTE LÜGE (Band #5)

DER PERFEKTE LOOK (Band #6)

DIE PERFEKTE AFFÄRE (Band #7)

DAS PERFEKTE ALIBI (Band #8)

DIE PERFEKTE NACHBARIN (Band #9)

CHLOE FINE PSYCHOTHRILLER-SERIE

NEBENAN (Band #1)

DIE LÜGE EINES NACHBARN (Band #2)

SACKGASSE (Band #3)

STUMMER NACHBAR (Band #4)

HEIMKEHR (Band #5)

GETÖNTE FENSTER (Band #6)

KATE WISE MYSTERY-SERIE

WENN SIE WÜSSTE (Band #1)

WENN SIE SÄHE (Band #2)

WENN SIE RENNEN WÜRDE (Band #3)

WENN SIE SICH VERSTECKEN WÜRDE (Band #4)

WENN SIE FLIEHEN WÜRDE (Band #5)

WENN SIE FÜRCHTETE (Band #6)

WENN SIE HÖRTE (Band #7)

DAS MAKING OF RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

BEOBACHTET (Band #1)

WARTET (Band #2)

LOCKT (Band #3)

NIMMT (Band #4)

LAUERT (Band #5)

TÖTET (Band #6)

RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

VERSCHWUNDEN (Band #1)

GEFESSELT (Band #2)

ERSEHNT (Band #3)

GEKÖDERT (Band #4)

GEJAGT (Band #5)

VERZEHRT (Band #6)

VERLASSEN (Band #7)

ERKALTET (Band #8)

VERFOLGT (Band #9)

VERLOREN (Band #10)

BEGRABEN (Band #11)

ÜBERFAHREN (Band #12)

GEFANGEN (Band #13)

RUHEND (Band #14)

GEMIEDEN (Band #15)

VERMISST (Band #16)

AUSERWÄHLT (Band #17)

EINE RILEY PAIGE KURZGESCHICHTE
EINST GELÖST

MACKENZIE WHITE MYSTERY-SERIE

BEVOR ER TÖTET (Band #1)

BEVOR ER SIEHT (Band #2)

BEVOR ER BEGEHRT (Band #3)

BEVOR ER NIMMT (Band #4)

BEVOR ER BRAUCHT (Band #5)

EHE ER FÜHLT (Band #6)

EHE ER SÜNDIGT (Band #7)

BEVOR ER JAGT (Band #8)

VORHER PLÜNDERT ER (Band #9)

VORHER SEHNT ER SICH (Band #10)

VORHER VERFÄLLT ER (Band #11)

VORHER NEIDET ER (Band #12)

VORHER STELLT ER IHNEN NACH (Band #13)

VORHER SCHADET ER (Band #14)

AVERY BLACK MYSTERY-SERIE

DAS MOTIV (Band #1)

LAUF (Band #2)

VERBORGEN (Band #3)

GRÜNDE DER ANGST (Band #4)

RETTE MICH (Band #5)

ANGST (Band #6)

KERI LOCKE MYSTERY-SERIE

EINE SPUR VON TOD (Band #1)

EINE SPUR VON MORD (Band #2)

EINE SPUR VON SCHWÄCHE (Band #3)

EINE SPUR VON VERBRECHEN (Band #4)

EINE SPUR VON HOFFNUNG (Band #5)

KAPITEL EINS

Die Dunkelheit kündigte sich im schüchternen Sternenlicht an. Seit dem Schneesturm vor zwei Wochen war die Autobahn, die durch den südlichen Schwarzwald in Baden-Württemberg (Deutschland) verlief, tückischer geworden. Innerhalb von Hermans Blickfeld waren drei von sieben Sicherheitslichtern, an der Landstraße 317, aus. Herman, im Führerhaus seines LKW‘s sitzend, zählte sie erneut. Ein verblassendes Flackern von Blau und Gelb ging von einem aus. Na gut, zwei von sieben. Trotzdem hätten Wartungsteams diesen Defekt längst beheben sollen. Er wurde vom flackernden Lichtschein gestreift, während er sich auf die dunkleren Abschnitten der Straße zubewegte.

Herman packte sein Lenkrad und murmelte einen leisen Fluch vor sich hin, während er sein großes Fahrzeug über den feuchten Asphalt lenkte. Der Schnee war größtenteils getaut, aber die Kälte hatte die Straßenbeleuchtung beschädigt. Teile der Straße schienen fast komplett verlassen zu sein. Herman hatte Freunde – andere Fahrer -, die diesen Abschnitt der Autobahn mieden, aber er durfte keine Zeit vergeuden. Nein, nicht jetzt. Er fuhr weiter entlang der einsamen, schlecht beleuchteten Straße, ein Strudel von Braun und Grün zog an seinem Fenster vorbei, während er den Waldesrand vor sich erblickte und testete wie wetterfest sein Fahrzeug war. Er hatte Rotmeer bereits passiert und konnte den Feldberg in der Ferne sehen.

Er durfte nicht zu spät kommen. Nicht heute Nacht. Er musste rechtzeitig zurückfahren, um vor der morgigen Sorgerechtsverhandlung etwas Schlaf zu bekommen.

Herman runzelte die Stirn bei dem Gedanken an das, was der Morgen ankündigte und blickte für einen kurzen Moment auf das Bild des jungen Mädchens mit den haselnussbraunen Augen, das auf sein Armaturenbrett geklebt war. Seine Frustration schwand, als er seine, auf dem Foto verewigte, Tochter ansah.

Nur ein kurzer Moment der Unaufmerksamkeit… Er sah wieder auf. Und schrie.

Jemand stand mitten auf der Straße.

Herman wurde kalt, er trat auf die Bremse und zerrte am Lenkrad, um der Person auszuweichen.

Die Bremsen heulten laut auf und die Räder protestierten gegen die plötzliche Bewegungsänderung. Herman konnte fühlen, wie die das Führerhaus zu kippen drohte. Sein Herz war bereits seiner Brust entkommen und schien sich irgendwo in der Nähe seiner Kehle zu befinden. Sein Schrei ging im Geräusch der quietschenden Bremsen unter. Der Lastwagen kam von der Straße ab und prallte gegen einen der Straßenlaternen. Der Mast fiel in sich zusammen und Glassplitter verteilten sich mit einem hartnäckigen Klirren über Hermans Windschutzscheibe.

Drei von sieben Lichtern. Herman saß zitternd da und Blut tropfte ihm aus die Nase. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass der Airbag ausgelöst worden war. Seine Hände umklammerten noch immer das Lenkrad. Für einen Moment fühlte es sich fast so an als könnte er es nie wieder loslassen. Er starrte auf seine Fingerknöchel. Sein Blick war verschwommen, er konnte das Adrenalin durch seine Adern pulsieren fühlen. Seine Hände waren weiß. Ein roter Tropfen fiel auf seinen Handrücken. Er streckte die Hand aus und fühlte, wie warme Flüssigkeit aus seiner Nase sickerte.

Er schüttelte den Kopf und blinzelte ein paar Mal. Hatte er die Person überfahren?

Er schaute noch einmal durch die Windschutzscheibe und war erstaunt, wie einsam und verlassen dieser Teil des Waldes war. Niemand war zu sehen. Er blickte die Straße hinauf und wieder hinab und bemerkte, dass nirgendwo ein geparktes Auto zu sehen war. Die Angst kroch ihm langsam den Rücken hinunter.

Herman wollte sich im Fahrzeug einschließen und die Polizei rufen. Aber die Sorge ließ ihn noch einmal auf das Bild auf seinem Armaturenbrett hinunterblicken. Die Person auf der Straße hatte wie ein junges Mädchen ausgesehen. Mutig raffte er sich auf. Er schnallte sich ab, schob den Airbag weg und öffnete die Tür.

 

Normalerweise wäre er, obwohl er mittleren Alters war, agil genug, um mit einem Sprung aus dem Führerhaus zu kommen. Jetzt jedoch benutzte er mit zitternden Schritten die Metallstufe, die zum Boden führte und stieg aus.

Die Kälte legte sich wie eine Decke auf ihn. Die kühlen Winde schienen zugenommen zu haben. Die Straßenlaterne, gegen die er gefahren war, war nun aus. Die auf der anderen Straßenseite, ein paar hundert Meter zurück, blinkte eine von ihnen immer noch blau vor sich hin.

In diesem diesigen Licht entdeckte er die Person wieder. Eine Frau. Ein Mädchen. Vielleicht etwas dazwischen. Jung, sicher nicht älter als zwanzig. Sie stand mitten auf der Straße und hatte sich, seitdem er sie zum ersten Mal entdeckt hatte, keinen Zentimeter bewegt. Sie stand. Stehen war gut. Es bedeutete, dass sie noch lebte.

„Hallo? Fräulein!”, rief er ihr zu. „Geht es Ihnen gut?”  Er hob die Hand und winkte ihr zu.

Sie drehte sich nicht um. Sie starrte weiter, die Augen nach vorne gerichtet, die Straße hinunter.

Herman warf einen Blick in die eine und dann in die andere Richtung. Seine Augen folgten der Straße, die sich durch die Wälder schlängelte und sich durch eine stetige Steigung charakterisierte. Dunkle Äste mit Laub lagen am Straßenrand. Die Äste waren gestutzt worden, um sie von Telefonleitungen und der Autobahn abzuhalten.

Woher war das Mädchen gekommen? Es war kein anderes Fahrzeug in Sicht.

Herman zuckte zusammen und spürte einen blauen Fleck an seinen Rippen, an der Stelle, an der ihn der Airbag ihn getroffen hatte. Aus seiner Nase tropfte immer noch Blut und er konnte fühlen, wie es sich in der Kuhle über seiner Oberlippe sammelte. Er bemerkte den leichten Geschmack von bitterem Salz, als das Blut über seinen Mundwinkel sickerte. Er streckte die Hand aus, wischte es weg und ging immer noch vorsichtig auf das Mädchen mitten auf der Straße zu.

Sein Lastwagen war immer noch um die Straßenlaterne gewickelt. Der Mast selbst hatte sich weitaus schlechter geschlagen als der Lastwagen. Er würde immer noch fahren können. Der Trucker ging weiter, eine Hand in einer beruhigenden Geste ausgestreckt. Das Mädchen sah immer noch nicht in seine Richtung.

Dann sah er das Blut.

Purpurrote Bäche tropften über ihre Arme bis zu ihren Fingerspitzen und fielen auf den Boden. Ihre Füße waren verletzt, mit Striemen und Schnitten bedeckt. Sie trug keine Schuhe und so wie es aussah war sie durch den Wald gelaufen. Ihr dünnes, graues T-Shirt war leicht zerrissen. Sie hatte Schnitte an ihrem Arm und trug nur Unterwäsche.

Herman spürte einen weiteren Schauer seinen Rücken hinab laufen, starrte das Mädchen an und sah ihr in die Augen. Endlich schien sie ihn zu bemerken; sie sah ihn an und fing an zu schreien.

Ihre Schreie hallte in den Hügeln und Wäldern wider, fegte über die Bäume und breitete sich wie eine Eisschicht über die Autobahn aus. Mit dem Schrei überkam Hermann ein kaltes, schreckliches Gefühl. Er schüttelte den Kopf und weigerte sich, auf sein Bauchgefühl zu hören. Sein Instinkt sagte ihm, es wäre am besten zu fliehen.  Zurück zu seinem Lastwagen zu laufen, sich hinter das Lenkrad zu setzen und wegfahren, um dieses Problem weit hinter sich zu lassen. Er bemerkte, dass die Hände des Mädchens blutig waren. Daraufhin rief er: „Geht es dir gut?”

Sie schüttelte jedoch zitternd den Kopf und streckte ihm ihr Kinn entgegen. Ihre Augen fokussierten ihn weiterhin. Sie starrte ihn verzweifelt und mit flehendem Blick an. Und schließlich sprach sie.

Wenn Erfrierungen einen Ton hätten, würden sie in der Stimme dieses Mädchens widerhallen.  „Bitte”, krächzte sie verzweifelt. Ihr Deutsch war brüchig und sie hatte einen amerikanischen Akzent. Er zuckte zusammen und versuchte das Gehörte zu verarbeiten. „Bitte, lassen Sie nicht zu, dass sie mich zurückholen. Bitte lassen Sie es nicht zu.”

Herman stand jetzt nah bei ihr. Er streckte eine Hand aus und hielt sie über ihre Schulter. Er war sich nicht sicher, ob er sie berühren sollte. Er wollte sie trösten, sie wissen lassen, dass es alles Ordnung sein würde. Aber gleichzeitig wollte er sie nicht erschrecken. Also senkte er die Hand und versuchte mit seinen Augen Wärme und Sanftmut zu vermitteln. Er konnte fühlen, wie seine Nase immer noch blutete, ignorierte es aber.

„Woher kommst du mein Kind?”

Das Mädchen zog am Saum ihres Hemdes, als merke es plötzlich, dass es halbnackt mitten auf der Autobahn stand. Sie sah sich um und starrte zu den Bäumen.

„Es gibt mehr”, sagte sie verzweifelt. „Er hält uns gefangen, versteckt, niemand kann uns finden. Ich bin knapp entkommen. Bitte. Ich bin dort gewesen – I weiß nicht mehr wie lange. Bitte, er wird sie alle töten!”

Das zitternde, schreckliche Gefühl, das Hermans Wirbelsäule hinaufkroch, nahm zu. Er starrte sie an und schluckte. „Wer?”, fragte er.

Sie starrte zurück und sagte: „Bitte, lassen Sie nicht zu, dass er mich zurückholt.”

Herman gebot ihr zu schweigen, seine Hand tastete in seiner Tasche entlang, bis er bemerkte dann, dass sein Telefon immer noch im Truck lag.

Er deutete auf sie und sagte schnell: „Komm, beeil dich. Ich muss dich in ein Krankenhaus bringen. Bitte, dort wirst du sicher sein. Lass uns erstmal von dieser Straße verschwinden.”

Es brauchte etwas Überzeugungskraft und Geduld, um sie, mit seiner Hand gestikulierend, zum Bewegen zu bringen, aber schließlich folgte sie ihm. Sie stolperte hinter ihm her und hinterließ blutige Fußspuren, die von der Mitte der Autobahn weg zu seinem Lastwagen führten. Die gesprenkelten Blutstropfen verteilten sich über dem feuchten Boden. Das blaue Licht, das hinter ihnen die ganze Zeit noch geflackert hatte, ging plötzlich aus.

Jeder Schritt brachte die beiden weiter in die Dunkelheit, aber auch dem Truck, näher.

„Komm, beeil dich”, sagte Herman.

Er half ihr sanft in den Truck und tat sein Bestes, sie nicht zu berühren. Jedes Mal, wenn er es tat, schien sie zusammenzucken.

Dann lief er schnell um den Lastwagen herum, stieg ein und fuhr so schnell wie möglich los. Er würde am Morgen zu einem Automechaniker fahren und ihn einen Blick auf das Fahrzeug werfen lassen. Vorerst wollte er von dieser verfluchten Autobahn weg, weg von den flackernden Lichtern und weg von diesem beängstigenden Wald.

„Wohin bringst du mich?”, fragte sie leise, während ihre Augen sich schnell bewegten, um sich orientieren zu können.

„Krankenhaus”, sagte er. „Die Polizei wird uns dort treffen. Alles wird gut. Ich verspreche es dir. Wer auch immer dich verletzt hat ist nicht mehr hier. Du bist jetzt in Sicherheit.”

Das Mädchen schluchzte zitternd, ihre Brust hob sich, ihre Augen waren auf die Straße gerichtet und schlossen sich dann, ihre Augenlider flatterten. Während die Erschöpfung seinen Tribut einforderte und sie den Sitz neben ihm langsam mit ihrem Blut färbte, murmelte sie: „Die anderen sind nicht in Sicherheit. Er wird ihnen wehtun. Er wird sie für meine Flucht bitter bestrafen.”

KAPITEL ZWEI

Adele hatte keinen Aufzug in ihrer neuen Wohnung. Sie hatte glücklicherweise kein Problem damit, Treppen zu laufen. Ihre Hand fuhr über das lackierte Holzgeländer. Ihre Gedanken reisten in die Vergangenheit und durchsuchten ihre Erinnerungen. Sie erinnerte sich daran, wie sie diese Marmorstufen heruntergesprungen war. Sie erinnerte sich, wie sie innehielt und zur Tür gegenüber der Briefkästen blickte. Wohnung 1A. Die abblätternden silbernen Buchstaben waren ersetzt worden. Tatsächlich war die gesamte Wohnung renoviert worden. Sogar die Lichter an der Decke flackerten nicht mehr, sondern versorgten den Flur und das Treppenhaus mit ausreichend Licht. Adele machte den letzten Schritt, blieb am Fuß der Treppe stehen und sammelte sich.

Zurück in Frankreich. Sie hatte das nie kommen sehen.

Sie fuhr sich mit der Hand durch die schulterlangen blonden Haare und lächelte. Das letzte Treffen mit ihrem Vater war weniger als einen Monat her. Der Fall im Skigebiet war seltsam zu Ende gegangen. Adele hatte ihren Vater zu Weihnachten besuchen wollen, nachdem sie nach Europa gezogen war, aber die kleine Wohnung in Frankreich war so weit von seiner Heimat in Deutschland entfernt, dass der Schneesturm vor zwei Wochen den Besuch verhindert hatte. Also hatte sie die Woche mit Robert verbracht und Weihnachten mit ihm in seiner Villa gefeiert.

Sie streckte die Hand aus und berührte vorsichtig die tropfenförmigen Diamantohrringe, die er ihr gekauft hatte. Adele trug normalerweise keinen Schmuck, aber die Sachen, die Robert ihr schenkte waren einfach so besonders, dass sie nicht anders konnte. Sie runzelte die Stirn, senkte die Hand und starrte zur Wohnungstür. Robert sah nicht wirklich gesund aus. Wann immer sie ihn darauf ansprach, wich er der Frage aus. Er brach oft in Hustenanfälle aus und verließ dann manchmal sogar den Raum.

Sie schüttelte den Kopf und wünschte, sie hätte das Thema mit mehr Nachdruck angesprochen, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Aber die Weihnachtsfeierlichkeiten schienen nicht der richtige Anlass zu sein.

Und jetzt war sie nicht nur wieder in Frankreich, sondern auch wieder in der Wohnung, in der sie früher mit ihrer Mutter gelebt hatte. Das Schicksal hatte seine Fäden mal wieder gezogen – die Wohnung war, nur eine Woche nachdem Adele ihre Unterkunftssuche begann, im Preis gesenkt worden. Vielleicht war es nicht nur das Schicksal … vielleicht eher Unvermeidlichkeit…

Adele fischte ein kleines, abgenutztes, braunes Ledernotizbuch aus ihrer Tasche und blätterte durch die Seiten. Ihre Stimmung verdunkelte sich. Sie lehnte sich gegen das Geländer und blickte beim Durchblättern des Notizbuchs auf 1A.

Jeder Hinweis, jede mögliche Spur, einige, von denen höchstwahrscheinlich nicht mal die Polizei wusste. Ihr Vater jagte Elises Killer schon seit Jahren. Und jetzt hatte er ihr das Notizbuch überlassen, damit sie die Jagd fortsetze.

Adele hatte in den letzten drei Wochen zwischen Umzügen und Weihnachtsfeiern das Notizbuch durchkämmt. Nach drei Wochen hatte sie die Notizen ihres Vaters katalogisiert und auswendig gelernt. Sie hatte mehrere Dateien auf ihrem Computer, mit denen sie die Notizen sortierte. Irgendwann musste sie etwas finden.

Rückkehr in die Wohnung? Nicht genau die Gleiche – aber das gleiche Gebäude, in dem sie damals mit ihrer Mutter gelebt hatte. Sie spürte keine Nostalgie – es hatte einen Zweck. Adele war kein sehr nostalgischer Mensch.

Sie war ein Bluthund, der nach einem bestimmten Geruch suchte. Seite Siebenunddreißig.

Sie blätterte das gesamte Notizbuch noch einmal durch und las alle Zeilen, die ihr jetzt in den Sinn kamen.

„Jemand vertauscht Notizblätter … handgeschrieben. Lustig?”

Adele schüttelte den Kopf. Sie hatte ihren Vater schon öfter danach gefragt, aber er wusste auch nicht mehr was diese kryptische Nachricht zu bedeuten hatte. Es war einfach eine Erinnerung an ein Gespräch gewesen, das er mit seiner Ex-Frau geführt hatte. Das erste Mal, als er den Verdacht bekam, etwas könnte in Frankreich schief laufen. Seine Ex-Frau hatte ihn angerufen und schien nervös zu sein. Sie erwähnte, dass jemand etwas vertauscht hatte. Adele biss die Zähne zusammen. Ihr Vater war noch nie ein besonders guter Zuhörer gewesen. Wenigstens hatte er es niedergeschrieben, bevor er es komplett vergaß. Jemand hatte Jemand vertauscht Notizblätter, handgeschrieben, lustig… notiert.

Also hatte jemand Notizen vertauscht. Was bedeutete das genau?

Adele klopfte mit dem Notizbuch gegen ihre Hand und starrte die Briefkästen an.

Sie hatte bereits mit dem Postboten gesprochen. Ein junger Mann, nicht älter als dreißig. Er passte sicherlich in die Rechnung. Sie hatte versucht, ihn zu erpressen, um zu erfahren, wer vor fast zehn Jahren führ dieses Gebäude als Briefträger verantwortlich gewesen war. Er hatte gesagt, dass er diese vertraulichen Informationen nicht weitergeben durfte.

Wenn jemand die Post ihrer Mutter ausgetauscht und Notizen hinterlassen hätte, war er vielleicht ein Stalker gewesen. Jemand, der sich für sie interessiert hatte. Vielleicht der Mörder selbst?

Aber die Briefkästen waren verschlossen. Es waren keine Briefe gesendet, sondern vertauscht worden. Das stand in der Nachricht. Daran erinnerte sich ihr Vater. Er war in diesem Teil unnachgiebig gewesen. Während des Telefongesprächs vor all den Jahren war ihre Mutter verärgert gewesen, dass jemand Notizen vertauscht hatte.

Dafür würde jemand einen Schlüssel für den Briefkasten benötigt haben. Nicht einmal der Vermieter hatte einen. Adele hatte bereits einige Male versucht, die Post anzurufen, aber sie weigerte sich, die Informationen telefonisch weiterzugeben. Sie dachte daran, ihre Dienstnummer zu verwenden, aber ohne einen aktiven Fall wäre dies ein Verstoß gegen das Protokoll und ein Kündigungsgrund. Dies war erst ihre zweite Woche als Korrespondentin für die DGSI, zwischendurch arbeitete sie immer noch an Fällen für Interpol. Die Verwendung ihrer Dienstlegitimation ohne Erlaubnis war möglicherweise nicht die beste Taktik.

 

Aber Adele hatte jetzt eine andere Idee.

Sie ging den Korridor entlang und näherte sich der Tür zu 1A, hob die Hand und klopfte vorsichtig.

Ein schlurfendes, leises Geräusch von innen ertönte. Sie klopfte etwas lauter. Mehr Geräusche, dann Schritte.

Dann klapperte eine Kette und die Tür schwang auf. Die Wohnung war ziemlich ordentlich. Ein mit Porzellan gefüllter Schrank stand einem sauberen Esstisch mit vier  bestickten Stühlen gegenüber, die ordentlich unter dem Tisch versteckt waren. Die Frau, die vor Adele stand, war alt und hatte Falten um Augen und Stirn. Sie trug ein einzelnes silbernes Medaillon an einer Kette und eine rosa Strickjacke. Die Frau habe eine ihrer nachgemalten Augenbrauen, während sie Adele betrachtete. „Du schon wieder”, sagte sie knurrig auf Französisch.

„Ja”, sagte Adele, „Kurze Frage: Vermieter in Frankreich müssen Akten über ihre Mieteraktivitäten führen, oder? Aus Steuergründen.”  Hier war das Risiko. Aber Adele musste auf ihrem Bauchgefühl hören. Sie warf einen Blick zurück in die Wohnung. Ihre Augen suchten die ordentlich angeordneten Möbel und die frisch gestrichenen Wände ab. Alles am Gebäude und an den Renovierungsarbeiten schien in Ordnung zu sein.

„Sie verwenden keinen Computer für Ihre Unterlagen, richtig?”  fragte Adele.

Die Frau runzelte die Stirn. Sie rückte ihre Brille zurecht und schüttelte ihren Kopf mit den silber-grauen Haaren „Und, was ist das Problem daran?”

Adele schluckte. „Und Sie besitzen das Gebäude seit mehr als zehn Jahren?”

„Seit fünfzig Jahren im Besitz der Familie. Mein verstorbener Mann hat geholfen, aber ich mache den größten Teil des Papierkrams, was ist damit?”

„Ich habe mich gefragt, ob es Streitigkeiten gab. Fehlende Pakete, Beschwerden. Zerbrechliche Gegenstände, die zerschlagen wurden. In einem so großen Gebäude muss es jemanden mit einem Problem gegeben haben.”, Adele schluckte. „Insbesondere alles von vor bis zu zehn Jahren.”

Die Vermieterin blinzelte hinter ihrer dicken Brille. „Ich habe einen Ordner für Beschwerden. Ich bin mir nicht sicher, wie lange sie zurückgehen. Aber ohne einen Durchsuchungsbefehl kann ich Ihnen den eh nicht zeigen.”

Adele nickte einmal und spürte ein Kribbeln auf ihrer Haut. „Dass Sie Ihre Mieter nicht verraten wollen, verstehe ich. Aber was ist mit Mietern, die hier nicht mehr wohnen? Leute, die gegangen sind? Sicherlich wäre es keine Verletzung der Privatsphäre. Genauer gesagt… was ist mit meiner Mutter?” Jetzt war es an Adele, die Vermieterin zu studieren und geduldig zu warten.

Die Frau runzelte die Nase. „Du wirst nicht locker lassen, oder?”  Ihre alte Stimme knarrte schon fast, aber ein Schimmer in ihren Augen veranlasste Adele zu sagen: „Wenn ich könnte, würde ich. Bitte, die Mieter interessieren mich nicht. Nur der Postbote. Das wäre sowieso eine öffentliche Information gewesen, oder nicht?”

Die Frau räusperte sich. „Haben Sie versucht, die Firma anzurufen?”

Adele zuckte zusammen. „Ja.”

„Und?”

„Die sagen, die Informationen seien vertraulich.”  Adele fügte schnell hinzu: „Aber das ist auf deren Seite. Die müssen Mitarbeiterunterlagen schützen. Aber ein öffentlicher Streit – ein fehlendes Paket … Oder”, sie leckte sich die Lippen,“ manipulierte Post … Das wäre aktenkundig. Bitte, ich würde nicht fragen, wenn es nicht wichtig wäre. Elise Romei, erinnern Sie sich an sie? Meine Mutter. Wir haben vor fast fünfzehn Jahren hier gelebt.”

Zu Adeles Überraschung schien die Frau auf den Namen zu reagieren; Sie blinzelte eulenhaft hinter ihrer Brille. „Elise Romei?”, fragte sie. „Natürlich erinnere ich mich an sie. Ich erinnere mich noch an den Polizisten, der vorbeikam und Fragen stellte. Tragisch. Sie sagen, Elise ist Ihre Mutter?”

Adele nickte. „Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern, aber ich habe auch hier gewohnt. Mit meiner Mutter – ich hätte es bei der Unterzeichnung des Mietvertrags erwähnen sollen, hielt es aber nicht für relevant.”

„Ja? Ist es jetzt aber?”

Adele nickte langsam und geduldig. Sie beobachtete die ältere Frau. Irgendwie erblickte sie in diesen intelligenten Augen, die in einer faltigen Leuchte steckten, etwas Vertrautes. Die Frau sah zurück zu Adele, studierte sie, bewertete sie und sagte dann: „Ich kann keine Versprechungen machen, aber ich werde es überprüfen. Gib mir ein paar Stunden. Wenn auf einem der Streitformulare der Name eines Postboten steht, an dem Ihre Mutter beteiligt war, kann ich es Ihnen zur Verfügung stellen. Andere Mieter – das geht nicht. Wird dir das reichen?”

Adele lächelte und ein Hauch von Erleichterung breitete sich in ihr aus. „Das würde mir die Welt bedeuten, danke.”

Die Vermieterin lächelte, sie kniff die Augen wieder zusammen und sie nickte einmal. Dann begann sie langsam die Tür zu schließen.

Adele atmete erleichtert auf und starrte auf die geschlossene, frisch gestrichene Tür. Jetzt musste sie nur noch warten. Die Vermieterin hatte ihre Nummer.

Sie konnte nur hoffen, dass sich die Idee auszahlen würde. Jemand hatte Notizen ausgetauscht. Handschriftlich. Lustig? Dieser letzte Teil ergab immer noch keinen Sinn, aber Adele hoffte, dass sie es herausfinden konnte, indem sie mit dem Postboten sprach. Was wäre, wenn er der Mörder war? Jemand, der vor Jahren Pakete geliefert hatte, hätte das perfekte Alibi gehabt, um sich in Gebäude zu schleichen und seine unwissenden Opfer auszuspionieren. Adele war sich nicht sicher, aber sie fühlte sich näher als zuvor.

Trotzdem unterdrückte sie die Emotionen, wollte ihre Hoffnungen nicht wecken, verließ das Haus und ging auf die Straße hinaus. Sie hielt einen Moment inne und stand vor einer Bushaltestelle gegenüber eines geschlossenen Cafés. Über sich bemerkte sie einen Tempolimitschild. Kilometer, keine Meilen. Kleine Unterschiede, aber sie verschärften sich.

Adele seufzte. Sie musste nur warten, bis die Vermieterin antwortete.