Das Perfekte Lächeln

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Das Perfekte Lächeln
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Copyright © 2018 by Blake Pierce. Alle Rechte vorbehalten. Vorbehaltlich der Bestimmungen des U.S. Copyright Act von 1976 darf kein Teil dieser Publikation ohne vorherige Genehmigung des Autors in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln reproduziert, verteilt oder übertragen oder in einer Datenbank oder einem Abfragesystem gespeichert werden. Dieses eBook ist nur für Ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Dieses eBook darf nicht weiterverkauft oder an andere Personen weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit einer anderen Person teilen möchten, kaufen Sie bitte für jeden Empfänger ein zusätzliches Exemplar. Wenn Sie dieses Buch lesen und Sie es nicht gekauft haben, oder es nicht nur für Ihren Gebrauch gekauft wurde, dann senden Sie es bitte zurück und kaufen Sie Ihre eigene Kopie. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit dieses Autors respektieren. Dies ist eine erfundene Geschichte. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind entweder das Ergebnis der Phantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, ob lebendig oder tot, ist völlig zufällig. Jacket image Copyright nikita tv, verwendet unter der Lizenz von Shutterstock.com.

Blake Pierce

Blake Pierce ist der Autor der meistverkauften RILEY PAGE Krimi-Serie, die 13 Bücher umfasst (und weitere in Arbeit). Blake Pierce ist ebenfalls der Autor der MACKENZIE WHITE Krimi-Serie, die neun Bücher umfasst (und weitere in Arbeit); der AVERY BLACK Mystery-Serie, bestehend aus sechs Büchern; der KERI LOCKE Mystery-Serie, bestehend aus fünf Büchern; der Serie DAS MAKING OF RILEY PAIGE, bestehend aus drei Büchern (und weitere in Arbeit); der KATE WISE Mystery-Serie, bestehend aus zwei Büchern (und weitere in Arbeit); der spannenden CHLOE FINE Psycho-Thriller-Serie, bestehend aus drei Büchern (und weitere in Arbeit); und der spannenden JESSIE HUNT Psycho-Thriller-Serie, bestehend aus drei Büchern (und weitere in Arbeit).

Als begeisterter Leser und lebenslanger Fan der Mystery- und Thriller-Genres liebt Blake es, von seinen Lesern zu hören. Bitte besuchen Sie www.blakepierceauthor.com, um mehr zu erfahren und in Kontakt zu bleiben.

BÜCHER VON BLAKE PIERCE

JESSIE HUNT PSYCHOTHRILLER-SERIE

DIE PERFEKTE FRAU (BAND #1)

DER PERFEKTE BLOCK (BAND #2)

DAS PERFEKTE HAUS (BAND #3)

DAS PERFEKTE LÄCHELN (BAND #4)

DIE PERFEKTE LÜGE (BAND #5)

CHLOE FINE PSYCHOTHRILLER-SERIE

NEBENAN (BAND #1)

DIE LÜGE EINES NACHBARN (BAND #2)

SACKGASSE (BAND #3)

STUMMER NACHBAR (BAND #4)

KATE WISE MYSTERY-SERIE

WENN SIE WÜSSTE (BAND #1)

WENN SIE SÄHE (BAND #2)

WENN SIE RENNEN WÜRDE (BAND #3)

WENN SIE SICH VERSTECKEN WÜRDE (BAND #4)

WENN SIE FLIEHEN WÜRDE (BAND #5)

WENN SIE SICH FÜRCHTEN WÜRDE (BAND #6)

DAS MAKING OF RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

BEOBACHTET (BAND #1)

WARTET (BAND #2)

LOCKT (BAND #3)

NIMMT (BAND #4)

LAUERT (BAND #5)

RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

VERSCHWUNDEN (BAND #1)

GEFESSELT (BAND #2)

ERSEHNT (BAND #3)

GEKÖDERT (BAND #4)

GEJAGT (BAND #5)

VERZEHRT (BAND #6)

VERLASSEN (BAND #7)

ERKALTET (BAND #8)

VERFOLGT (BAND #9)

VERLOREN (BAND #10)

BEGRABEN (BAND #11)

ÜBERFAHREN (BAND #12)

GEFANGEN (BAND #13)

RUHEND (BAND #14)

GEMIEDEN (BAND #15)

MACKENZIE WHITE MYSTERY-SERIE

BEVOR ER TÖTET (BAND #1)

BEVOR ER SIEHT (BAND #2)

BEVOR ER BEGEHRT (BAND #3)

BEVOR ER NIMMT (BAND #4)

BEVOR ER BRAUCHT (BAND #5)

EHE ER FÜHLT (BAND #6)

EHE ER SÜNDIGT (BAND #7)

BEVOR ER JAGT (BAND #8)

VORHER PLÜNDERT ER (BAND #9)

VORHER SEHNT ER SICH (BAND #10)

VORHER VERFÄLLT ER (BAND #11)

VORHER NEIDET ER (BAND #12)

AVERY BLACK MYSTERY-SERIE

DAS MOTIV (BAND #1)

LAUF (BAND #2)

VERBORGEN (BAND #3)

GRÜNDE DER ANGST (BAND #4)

RETTE MICH (BAND #5)

ANGST (BAND #6)

KERI LOCKE MYSTERY-SERIE

EINE SPUR VON TOD (BAND #1)

EINE SPUR VON MORD (BAND #2)

EINE SPUR VON SCHWÄCHE (BAND #3)

EINE SPUR VON VERBRECHEN (BAND #4)

EINE SPUR VON HOFFNUNG (BAND #5)

Prolog

Als Gabrielle in ihr Mietshaus mit zwei Schlafzimmern zurückkehrte, war es fast siebzehn Uhr. Sie hatte den größten Teil des Tages mit einem Kerl am Strand verbracht, den sie kürzlich kennengelernt hatte. Es war unterhaltsam – ihr Date hatte eine Cabana im Annenberg Beach House in Santa Monica gemietet und es fehlte in keinem Moment an Häppchen und alkoholischen Getränken.

Aber jetzt fühlte sie sich schlapp von der Sonne und etwas unwohl, da sie so viel gegessen hatte. Sie wusste, dass sie nicht zu viele solche Nachmittage verbringen konnte, wenn sie ihren Körper so in Form halten wollte. Immerhin genoss sie es, wenn die Kerle sie heimlich anstarrten, wenn sie an ihnen vorbeiging.

Als sie die Eingangstür aus Glas öffnete, bewunderte sie ihr Spiegelbild. Sie fühlte sich vielleicht aufgebläht, aber sie sah trotzdem toll aus. Ihr langes dunkles Haar war aufgrund der anhaltenden Meeresbrise gewellt. Ihre tief gebräunte Haut wirkte schick und glänzend. Und in ihren Plateau-Sandalen war sie größer als 1,80 Meter.

Als sie das Haus betrat, konnte sie sofort hören, wie Claire, ihre Freundin und Mitbewohnerin, ein angeregtes Telefonat führte. Sie unternahm einen symbolischen Versuch, das Gesagte zu ignorieren, bevor sie der Neugier nachgab.

„Wir können uns nicht mehr treffen“, hörte sie Claire sagen, die dann für die unvermeidliche negative Reaktion innehielt. Nach einigen Sekunden des Schweigens antwortete sie auf das, was die andere Person gesagt hatte.

„Wir passen einfach nicht zusammen“, antwortete Claire ruhig, mit einem entschlossenen, aber entschuldigenden Tonfall. „Es wäre das Beste für uns beide, wenn wir einfach nach vorne schauen würden.“

Gabrielle lächelte vor sich hin. Sie war ziemlich geschickt wenn es um Trennungsanrufe ging. Aber Claire war Expertin. Sie schaffte es immer, dass sich der Kerl nicht schlecht fühlte, denn sie schob die Schuld immer auf ihre eigene Unsicherheit und erwähnte natürlich nicht, dass der nächste Kerl, der bereits in der Schlange stand, das Problem war.

Aber diesmal klang es so, als wäre der Prozess etwas holpriger. Claires zukünftiger Ex war leicht hörbar, obwohl sie einige Räume entfernt war. Nach dem, was wie eine Tirade klang, während der ihre Mitbewohnerin schwieg, antwortete Claire schließlich mit ruhiger, aber kraftvoller Stimme.

„Es tut mir leid, dass du so denkst“, sagte sie. „Aber das kann doch für dich nicht überraschend kommen. Du wusstest von Anfang an, dass es so kommen könnte. Ich war schon immer ehrlich zu dir. Das ist meine Entscheidung. Je früher du es akzeptierst, desto einfacher wird es für dich sein. Auf Wiedersehen.“

Als sie sich sicher war, dass sie aufgelegt hatte, steckte Gabrielle ihren Kopf in Claires Zimmer.

„Alles in Ordnung?“, fragte sie. „Das klang etwas heftig.“

„Das gehört halt auch dazu“, antwortete Claire und klang müde. „Du weißt das so gut wie ich, Gabby. Einige Typen neigen dazu, ein bisschen… anhänglich zu werden.“

„Das klang so, als wäre er etwas zwischen anhänglich und einem Stalker. Willst du darüber reden?“

„Nicht wirklich“, gab Claire zu. „Ein Kerl holt mich um sieben ab. Ich habe also nur zwei Stunden, um mich fertig zu machen. Ich möchte mich lieber darauf konzentrieren.“

„Wir beide“, sagte Gabrielle. „Ich sollte keine zwei Dates an einem Tag vereinbaren. Ich bin so kaputt vom Strand. Und jetzt muss ich bis zwei Uhr morgens in den Club. Meine Beine werden schreien morgen.“

„Ganz schön schwere Leben, die wir führen“, sagte Claire mit einem Grinsen.

Gabby lächelte zurück. Sie mochte ihre Freundin am meisten, wenn sie so war: verspielt und selbstherrlich. Es machte es schwer, eifersüchtig zu werden, selbst wenn Claire wunderschön war – eine zierliche, blondhaarige, vollbusige, gebräunte südkalifornische Göttin. Mit nur knapp 1,50 Meter und 50 Kilo war sie Dynamit in einem winzigen Paket. Aber wenn sie ihr Schutzschild ablegt, kommt ihr Charme erst ans Licht. Nur ein paar Jungs haben jemals diese Seite von ihr kennenlernen dürfen.

„Hör zu“, sagte Gabrielle. „Wie wäre es, wenn wir morgen eine Pause einlegen – nur du, ich, ein paar Cocktails und Netflix?“

„Das klingt fantastisch“, sagte Claire. „Ich könnte wirklich etwas Auszeit gebrauchen. In letzter Zeit ist alles so stressig. Ich wünschte, die Leute würden einfach etwas chillen.“

„Ja. Morgen ist also offiziell Gabbys und Claires Chill-Tag. Abgemacht?“

„Abgemacht“, stimmte Claire zu. „Zumindest bis sechs Uhr. Ich habe eine Verabredung zum Abendessen.“

Gabby sah sie ungläubig an, aber sie konnten beide ihr Gelächter nicht zurückhalten.

Kapitel eins

Jessie Hunt ging bereits zum vierten Mal innerhalb von einer Stunde der gleiche Gedanke durch den Kopf.

Ich hasse diesen Ort.

„Dieser Ort“ war ein offizielles Sicherheitshaus von WITSEC. Obwohl sie es verachtete, einen solch sterilen Ort, an dem Rund um die Uhr Beamte waren, ihr Zuhause zu nennen, konnte sie nicht wirklich behaupten, dass es nicht notwendig war. Schließlich war es erst zwei Wochen her, dass sie einem Angriff ihres Vaters, dem Serienmörder Xander Thurman, der monatelang nach ihr gesucht hatte, entkommen war.

Und nur wenige Tage später war sein größter Bewunderer, ein weiterer Serienmörder namens Bolton Crutchfield, zusammen mit vier weiteren gefährlichen Gefangenen aus einer psychiatrischen Gefängniseinrichtung geflohen. Zwei von ihnen konnten gefasst werden. Aber neben Crutchfield waren noch zwei weitere auf freiem Fuß.

 

Jessie konnte sich also nicht wehren, als Polizeipräsident Roy Decker, ihr Chef beim LAPD, ihr auftrug, den Anweisungen der Beamten des Zeugenschutzprogramms Folge zu leisten. Und das bedeutete im Wesentlichen, unter Hausarrest zu leben, während sie von ihrer Arbeit als Profilerin freigestellt war.

Sie war noch nicht einmal Zeugin in einem Verfahren. Aber wegen der unmittelbaren Bedrohung ihres Lebens, ihrer Arbeit in der Strafverfolgung und ihrer Verbindung zum LAPD und zum FBI war eine Ausnahme gemacht worden.

Bis ihr Vater und Crutchfield gefangen genommen oder getötet wurden, steckte sie fest. Sie verbrachte ihre Tage damit, Fälle online zu verfolgen, zu trainieren und Selbstverteidigungseinheiten zu absolvieren, die wenig dazu beitrugen, ihr Unbehagen zu mildern.

Das zehnwöchige Trainingsprogramm, das sie kürzlich an der FBI-Akademie in Quantico, Virginia, absolviert hatte, hatte ihr effektive Kampfkünste und neue Techniken der Fallanalyse vermittelt. Aber es hatte ihr nicht beigebracht, wie man mit der erdrückenden Langeweile umgeht, die entsteht, wenn man vierundzwanzig Stunden am Tag in einem Haus gefangen ist.

Das Haus selbst war sehr schön, in einem ruhigen Wohnblock im westlichen Los Angeles Viertel Palms gelegen. Am späten Frühlingsmorgen trank sie ihren Kaffee und beobachtete, wie die Eltern ihre Kinder zur Grundschule ein paar Blocks weiter brachten.

Das Haus befand sich am Ende einer Sackgasse, wo es leichter gesichert und geschützt werden konnte. Aber das bedeutete, dass an den meisten Tagen nicht viel los war. Normalerweise ging sie gegen Mittag nach draußen, um im Pool zu schwimmen, der von einer großen Plane bedeckt war und die theoretisch als Schatten diente, aber in Wirklichkeit dort angebracht war, um die neugierigen Blicke der Nachbarn abzuschirmen.

Jetzt, da Kat gegangen war, war alles noch schlimmer. Einige Tage lang hatte ihre Freundin auch im Haus übernachten dürfen, weil die Behörden befürchteten, dass Bolton Crutchfield es auch auf sie abgesehen haben könnte. Schließlich war Kat Gentry Sicherheitschefin beim NRD – kurz für Nicht-Rehabilitative Division – gewesen, die Einrichtung im Department State Hospital-Metropolitan in Norwalk, aus der Crutchfield und die anderen Gefangenen geflohen waren. Man hatte Bedenken, dass einige von ihnen auf Rache aus wären.

Aber als Kat erwähnte, dass sie eine lange Reise nach Europa unternehmen wollte, um den Kopf frei zu bekommen, wurde den Beamten klar, dass sie sich so aus der Schusslinie entfernen würde und man so die Sicherheitskosten senken könnte. Jessie konnte sich noch immer an ihr Gespräch von vor einigen Tagen erinnern.

„Meinst du nicht, dass du so vor deinen Problemen wegläufst?“, hatte Jessie gefragt und erkannte, dass sie ihre Freundin mit dieser Frage wahrscheinlich angreifen würde.

Kat sah sie fragend an. Noch bevor sie antwortete, wusste Jessie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Schließlich war Katherine Gentry früher bei der Marine und noch immer waren die Narben in ihrem Gesicht zu sehen, die sie im Zuge einer Explosion erlitten hatte. Sie war Leiterin eines Gefängnisses, in dem sich einige der gefährlichsten Verbrecher der Gesellschaft befanden, bis ihr vertrauenswürdigster Leutnant, Ernie Cortez, sie verraten und die Flucht ermöglicht hatte. Sie war knallhart und Jessie wusste das.

„Ich denke, ich habe eine Auszeit verdient“, sagte Kat und weigerte sich, sich darüber hinaus zu verteidigen. „Wenn ich wüsste, dass die Beamten dich gehen lassen würden, würde ich vorschlagen, dass du mit mir kommst.“

„Glaub mir, liebend gerne“, antwortete Jessie erleichtert darüber, dass ihre Freundin nicht defensiver war. „Aber die Wahrheit ist, dass ich so oder so nicht schlafen kann, ehe mein Vater und Crutchfield gefasst sind – egal auf welchem Kontinent. Sobald wir einen Plan ausgearbeitet haben, um diese Kerle zu schnappen, bin ich beruhigter. Das alles muss ein Ende finden, damit ich wieder ein Leben führen kann.“

„Es sieht nicht so aus, als gäbe es einen wirklichen Plan“, bemerkte Kat besorgt.

„Nein“, stimmte Jessie zu. „Und glaub jetzt nicht, dass mir das nicht schon in den Sinn gekommen ist. Die einzige rettende Gnade ist, dass ich weiß, dass mein Vater im Moment zu verletzt ist, um mich aufzusuchen. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, ist er aus einem Fenster im vierten Stock gesprungen, und zuvor hatte er sich bereits Verletzungen an Bauch, Schulter und Kopf zugezogen. Er wird für eine Weile außer Gefecht gesetzt sein.“

„Aber Bolton Crutchfield nicht“, erinnerte Kat sie daran. „Er ist vollkommen gesund und bereit zur Tat zu schreiten. Und er hat Gehilfen.“

Kat äußerte sich dazu nicht weiter, das musste sie aber auch nicht. Sie wussten beide, was sie meinte. Zusätzlich zu den beiden Ausreißern, die ihm zur Verfügung stehen könnten, war da noch Ernie, Kats ehemaliger stellvertretender Kommandant in der NRD.

Während Kat an der Beerdigungszeremonie von Jessies Adoptiveltern teilnahm, ermordete Ernie, ein Mann mit einem imposanten Körper – 2 Meter groß und 125 Kilo schwer —, mehrere NRD-Sicherheitsoffiziere und ließ anschließend Crutchfield und die anderen frei. Erst Tage später konnte das FBI Näheres zu seinem Hintergrund aufdecken, der damals, als Kat ihn eingestellt hatte, verborgen geblieben war.

Als Ernie elf Jahre alt war, hatte er ein Jahr in einer psychiatrischen Einrichtung für Jugendliche verbracht, nachdem er ein anderes Kind mehrmals mit einem Schraubendreher in den Bauch gestochen hatte. Zum Glück überlebte der andere Junge.

Ernie saß seine Zeit ohne Zwischenfälle ab. Nach seiner Entlassung und nachdem seine Familie umgezogen war gab es keine weiteren Probleme. Seine Jugendakte wurde versiegelt, als er achtzehn Jahre alt wurde. Da er keine weiteren Auffälligkeiten in seiner Akte hatte, blieb nur ein solider Lebenslauf in der US-Armee übrig, gefolgt von Einsätzen als privater Sicherheitsdienstleister und als Gefängniswärter in einem Hochsicherheitsgefängnis in Colorado.

Wenn Kat Zugang zu seinen psychiatrischen Aufzeichnungen aus der Jugendhaftanstalt gehabt hätte, hätte sie erfahren, dass das medizinische Personal ihn als Soziopathen mit einer erstaunlichen Begabung zur Kontrolle und Verheimlichung seiner gewalttätigen Vorlieben ansah.

Die letzte Zeile seiner Entlassungspapiere lautete: „Der Arzt ist der Meinung, dass das Subjekt Cortez ein anhaltendes Risiko für die Gesellschaft darstellt. Er hat gelernt, seine Wünsche zu verbergen, aber es ist wahrscheinlich, dass sich irgendwann, bald oder vielleicht auch in Zukunft, die gleichen psychiatrischen Probleme, die zu seinem Aufenthalt in dieser Einrichtung geführt haben, erneut durchsetzen werden. Leider bietet unser derzeitiges System keine Vorkehrungen für diese Situation und verlangt, dass er unverzüglich freigelassen wird. Eine Nachbehandlung ist zwar nicht vorgeschrieben, wird aber dringend empfohlen.“

Es fand keine weitere Behandlung statt. Als Ernie Wächter bei der NRD wurde und anfing, mit Bolton Crutchfield, einem Meister der Manipulation, zu interagieren, stand er unter seinem Einfluss. Aber er zeigte es nie, machte weiterhin seine Arbeit und interagierte positiv mit seinen Kollegen, die er schließlich töten würde.

Kat gab sich selbst die Schuld für all die Todesfälle, obwohl sie all das nicht vorhersehen hätte können. Jessie hatte mehrmals versucht, ihre Schuld zu lindern, ohne Erfolg.

„Ich bin Profilerin, die darauf trainiert ist, so Dinge wie soziopathische Tendenzen wahrzunehmen“, hatte sie gesagt. „Ich habe über ein Dutzend Mal mit ihm gesprochen und ihn nie verdächtigt. Ich verstehe nicht, wie du das hättest sehen wollen.“

„Es spielt keine Rolle“, sagte Kat. „Ich war für die Sicherheit dieser Offiziere und für das Festhalten der Häftlinge verantwortlich. Ich habe an beiden Fronten versagt. Ich verdiene es, mich schuldig zu fühlen.“

Dieses Gespräch war vor drei Tagen. Jetzt war Kat irgendwo in Frankreich, ohne zu wissen, dass verhängt wurde, dass sie zu ihrem eigenen Schutz ein ziviler Beamter von Interpol verfolgen sollte. Jessie ihrerseits lag auf einem Liegestuhl aus Kunststoff unmittelbar neben der Autobahn. Sie hatte niemanden, mit dem sie reden konnte, kaum Privatsphäre und konnte kaum vermeiden, in negative Gedanken abzudriften. In den Momenten, in denen sie sich selbst bemitleidete, fühlte sie sich, als wäre sie erneut zum Opfer geworden.

Als sie hineinging, um sich einen Snack zu holen, zog sie die kugelsichere Weste an, die einer der Beamten ihr neulich mitgebracht hatte. Ihm wurden keine detaillierten Anweisungen gegeben, so dass es nicht seine Schuld war, wie sie passte. Aber Jessie konnte nicht anders, als frustriert zu sein, da das Ding kaum bis zu ihren Hüften reichte und irgendwie sperrig war. Eine magere, etwa 1,80 Meter große Frau wie sie brauchte etwas doppelt so langes und halb so breites. Sie band ihr schulterlanges braunes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und bemühte sich, dass ihre grünen Augen nicht allzu verärgert aussahen, als sie eintrat.

Als sie das Haus betrat, sah sie, wie der Beamte, der in der Nähe der Schiebetür stand, seinen Kopf leicht drehte. Er war eindeutig dabei, gerade eine Nachricht durch seinen Knopf im Ohr zu hören. Sein Körper spannte sich unwillkürlich an bei dem, was ihm gesagt worden war. Jessie wusste, dass etwas nicht stimmte, noch bevor sie die Küche betrat.

Er sagte nichts, also ging sie weiter in die Küche und tat so, als ob sie nichts von dem wusste, was vor sich ging. Unsicher, ob die Nachricht von einem Hausfriedensbruch handelte, suchte sie nach etwas, mit dem sie sich schützen konnte, falls Crutchfield sie gefunden hatte. Auf einem Tisch im Esszimmer in der Nähe der Küchentür stand eine Glasschneekugel aus San Francisco, etwa so groß wie eine Zuckermelone.

Als sie sich flüchtig fragte, warum San Francisco Schnee haben würde, packte sie die Kugel und versteckte sie hinter ihrem Rücken. Dann setzte sie den ersten Fuß in die Küche, ihr Körper machte sich bereit zu Handeln und ihre Augen huschten hin und her auf der Suche nach einer Bedrohung. Auf der anderen Seite der Küche öffnete sich eine Tür.

Kapitel zwei

Als Jessie wartete, um zu sehen, wer es war, wurde ihr klar, dass sie aufgehört hatte zu atmen. Sie zwang sich, langsam und leise auszuatmen.

Frank Corcoran trat zügig und ohne einen Hauch von Angst in den Raum. Der für ihre Sicherheit zuständige Beamte Corcoran war äußerst professionell. Er sah kantig aus, trug einen blauen Anzug, ein weißes Hemd und eine perfekt gebundene schwarze Krawatte. In seinem ordentlich geschnittenen Schnurrbart waren erste graue Haare zu sehen, ebenso in seinem kurz geschnittenen schwarzen Haar.

„Setzen Sie sich, Frau Hunt“, sagte er alles andere als lässig. „Wir müssen reden. Und Sie können die Schneekugel weglegen. Ich verspreche Ihnen, dass Sie sie nicht brauchen werden.“

Jessie stellte die Kugel auf den Küchentisch und fragte sich, woher er das wusste. Sie setzte sich und fragte sich, welche Hölle er ihr offenbaren würde. Xander Thurman hatte bereits ihre Adoptiveltern ermordet. Er hatte fast zwei Polizisten getötet, als er versuchte, ihr in ihrer eigenen Wohnung etwas anzutun. Bolton Crutchfields gewaltsame Flucht aus dem NRD hatte zum Tod von sechs Wachen geführt. Hatte einer der verbleibenden Ausreißer Kat in Europa ausfindig gemacht? Waren sie hinter ihrem Freund und Partner, dem LAPD Kriminalkommissar Ryan Hernandez, von dem sie seit Tagen nichts mehr gehört hatte, her? Sie machte sich auf das Schlimmste gefasst.

„Ich habe Neuigkeiten für Sie“, sagte Corcoran, als er erkannte, dass Jessie keine Fragen stellen würde.

„Okay.“

Ich habe mit Ihrem Chef gesprochen“, sagte er, zog ein Stück Papier heraus und las vor. „Er lässt Sie vom gesamten Revier grüßen. Er sagte, sie folgen jeder verfügbaren Spur und er hofft, dass Sie nicht mehr allzu lange hier festsitzen müssen.“

Jessie konnte an Corcorans skeptischem Tonfall und seinen leicht hochgezogenen Augenbrauen erkennen, dass er die Ansicht des Polizeipräsidenten Decker nicht teilte.

„Sie sind nicht so optimistisch wie er, oder?“

„Das ist das nächste Update“, antwortete er und beantwortete ihre Frage nicht. „Wir konnten Herrn Crutchfield noch nicht finden. Während zwei Flüchtige gefangen genommen wurden, sind zwei weitere noch auf freiem Fuß, ganz zu schweigen von Herrn Cortez.“

„Konnten die gefangen genommenen Männer noch irgendwelche nützlichen Informationen liefern?“

„Leider nicht“, gab er zu. „Beide Männer sagen immer noch dasselbe – dass sie alle innerhalb weniger Minuten nach ihrer Flucht getrennte Wege gegangen sind. Keiner dieser Männer wusste überhaupt, dass es passieren würde, bis sie aus ihren Zellen befreit wurden.“

 

„Also waren es wahrscheinlich nur Crutchfield und Cortez, die das geplant haben?“

„Das ist genau das, wovon wir ausgehen“, sagte Corcoran. „Nichtsdestotrotz fahnden wir weiterhin auf Hochtouren nach den Flüchtigen. Neben dem LAPD sind noch weitere Einheiten sowie auch das FBI daran beteiligt.“

„Sie erwähnten, dass Sie nach den Ausreißern suchen“, sagte sie. „Was ist mit Xander Thurman?“

„Was ist mit ihm?“

„Nun, er ist auch ein Serienmörder. Er hat versucht, mich und zwei weitere LAPD-Offiziere zu töten, und er ist auf flüchtig. Wie viele Leute sind auf ihn angesetzt?“

Corcoran sah sie an, als wäre er überrascht, dass er dazu etwas sagen müsste.

„Basierend auf Ihrer Beschreibung seiner Verletzungen betrachten wir ihn als eine weniger unmittelbare Bedrohung. Und da Sie im Zeugenschutzprogramm sind machen wir uns im Allgemeinen weniger Sorgen um ihn. Außerdem liegt unsere Priorität im Moment auf den vielen Flüchtigen aus einer kriminalpsychiatrischen Einrichtung, nicht auf einem Mann, von dem niemand weiß, dass er überhaupt da draußen ist.“

„Sie meinen, Ihre Suche wird von den Medien und der Politik bestimmt“, bemerkte Jessie spitz.

„So kann man es auch sagen.“

Jessie schätzte seine Ehrlichkeit.

Und für jemanden in seiner Position konnte sie nicht wirklich behaupten, dass es sich um eine unvernünftige Verschwendung von Ressourcen handelte. Sie beschloss, es vorerst dabei zu belassen.

„Irgendwelche potenziellen Spuren?“, fragte Jessie zweifelnd.

„Wir glauben, dass wir uns auf Cortez konzentrieren sollten. Wir gehen davon aus, dass er Pläne für nach der Flucht geschmiedet hat. Wir überprüfen seine Bankdaten, Kreditkartenkäufe und Telefon-GPS-Daten der letzten Wochen vor dem Ausbruch. Bis jetzt haben wir noch nichts so hilfreiches wie beispielsweise Flugtickets gefunden.“

„Das werden Sie auch nicht“, murmelte Jessie.

„Warum sagen Sie das?“

„Cortez wird in der Nähe von Crutchfield bleiben. Und ich garantiere Ihnen, dass Bolton Crutchfield nirgendwo hingehen wird.“

„Wie können Sie sich da so sicher sein?“, fragte Corcoran.

„Weil er mit mir noch nicht fertig ist.“

* * *

In dieser Nacht konnte Jessie nicht schlafen. Nachdem sie sich stundenlang hin- und hergewälzt hatte, stand sie auf und ging in die Küche, um ihr leeres Wasserglas aufzufüllen.

Als sie vom Schlafzimmer aus den mit Teppichen ausgelegten Flur hinunterging, spürte sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Der Beamte, der normalerweise in einem Stuhl an der Ecke zwischen Flur und Wohnzimmer saß, war nirgendwo zu finden. Jessie überlegte, in ihr Zimmer zurückzugehen, um eine Waffe zu holen, bevor sie sich daran erinnerte, dass sie ja gar keine hatte. Der Sicherheitsdienst hatte sie bis auf weiteres “gesichert“.

Stattdessen drückte sie ihren Rücken gegen die Wand des Flurs und ignorierte ihr schnell schlagendes Herz, als sie in Richtung des leeren Stuhls schlich. Als sie näher kam, sah sie mit Hilfe des durch die Fenster strömenden Mondlichts einen dunklen, feuchten Fleck auf dem cremefarbenen Teppichboden. Die Größe des Flecks deutete darauf hin, dass es sich nicht um versehentlich verschütteten Wein handelte. Sie bemerkte zudem eine gleichmäßige Spur, die sich den Gang entlang erstreckte.

Jessie blickte um die Ecke und sah, wie der Beamte mit dem Rücken auf dem Boden lag. Anscheinend war er dorthin geschleppt worden. Seine Kehle war durchgeschnitten. Neben ihm auf dem Boden lag seine Dienstwaffe.

Jessie spürte einen Anstieg von Adrenalin, der ihre Finger zum Kribbeln brachte. Sie versuchte, konzentriert zu bleiben, kniete sich nieder und blickte sich im Raum um, während sie darauf wartete, dass sich ihr Körper beruhigte. Es ging schneller, als sie erwartet hatte.

Ohne jemanden in Sichtweite, stürzte sie nach vorne und packte die Waffe. Als sie nach unten blickte, sah sie blutige Fußspuren, die vom Körper des Beamten in Richtung des angrenzenden Speisesaals führten. Sie blieb geduckt hinter dem Sofa und hastete weiter, bis sie klar in den Raum sehen konnte.

Ein weiterer Beamter lag dort auf dem Boden. Er lag mit dem Gesicht nach unten da. Eine sich schnell erweiternde Blutlache, die aus seinem Hals strömte bildete eine Pfütze um sein Gesicht und seinen Oberkörper.

Jessie zwang sich, nicht auf dem Anblick zu verweilen, als sie den blutigen Fußspuren aus diesem Raum in den Raum folgte, der zum Pool im Garten führte. Die Schiebetür stand offen und eine leichte Brise blies die hängenden Vorhänge nach innen und ließ sie wie tief hängende Wolken aussehen.

Sie überprüfte das Zimmer. Es war leer, also ging sie zur Schiebetür, um nach draußen zu schauen. Sie sah eine Person im Anzug, die mit dem Gesicht nach unten im Wasser schwamm, welches sich zunehmend rot färbte. Da hörte sie, dass sich jemand hinter ihr räusperte.

Sie schreckte herum und richtete gleichzeitig die Waffe nach vorne. Am anderen Ende des Raumes standen sowohl Bolton Crutchfield als auch ihr Vater Xander Thurman. Dieser sah überraschenderweise gut aus, wenn man bedenkt, dass er noch vor wenigen Wochen in den Bauch und die Schulter geschossen worden war, sich wahrscheinlich den Schädel gebrochen hatte und aus einem Fenster im vierten Stock gesprungen war. Beide Männer hielten lange Jagdmesser in den Händen.

Ihr Vater lächelte, als er leise das Wort “Junikäfer“, den Kosenamen, den er ihr als Kind gegeben hatte, flüsterte. Jessie hob die Waffe und bereitete sich auf das Abfeuern vor. Als ihr Finger anfing, den Abzug zu drücken, sprach Crutchfield.

„Ich habe versprochen, dass ich dich wieder sehen würde, Fräulein Jessie“, sagte er. Er war so gelassen wie damals, als er mit ihr durch die dicke Glaswand seiner Zelle sprach.

Seine Wochen der Freiheit hatten ihn nicht weniger angenehm gemacht. Mit 1,72 Metern und etwa 75 Kilo war er körperlich weniger beeindruckend als Jessie. Sein pummeliges Gesicht ließ ihn ein Jahrzehnt jünger aussehen als seine fünfunddreißig Jahre, und sein braunes Haar, das ordentlich zur Seite gekämmt war, erinnerte sie an die Jungen im Matheclub in der Mittelschule. Nur seine stahlbraunen Augen deuteten darauf hin, wozu er wirklich fähig war.

„Es sieht so aus, als wären Sie in schlechter Gesellschaft“, sagte sie mit einer frustrierend zitternden Stimme und nickte ihrem Vater zu.

„Das ist es, was ich an Ihnen liebe, Fräulein Jessie“, sagte Crutchfield bewundernd. „Sie geben nie auf, auch wenn Sie in einer hoffnungslosen Situation sind.“

„Ihr solltet das vielleicht nochmal überdenken“, betonte Jessie. „Ihr habt beide Messer zu einer Schießerei mitgebracht.“

„So schelmisch“, staunte Crutchfield und sah Thurman anerkennend an.

Ihr Vater nickte und war immer noch still. Dann wandten sich beide Männer wieder ihr zu. Gleichzeitig verschwand ihr Lächeln.

„Es ist an der Zeit, Fräulein Jessie“, sagte Crutchfield, als sich beide Männer gemeinsam auf sie zubewegten.

Sie schoss zuerst ihrem Vater drei Mail in die Brust, bevor sie ihre Aufmerksamkeit auf Crutchfield richtete. Ohne zu zögern feuerte sie drei Kugeln in seinen Oberkörper ab. Die Luft war voller beißendem Rauch und dem Echo ihrer Schüsse.

Aber keiner der beiden stoppte oder verlangsamte sich. Wie war das möglich? Selbst mit kugelsicheren Westen hätten sie schwanken müssen.

Sie hatte keine Munition mehr, drückte aber dennoch ab, unsicher, was sie sonst noch tun sollte. Als die beiden Männer mit ihren hoch über dem Kopf gehaltenen Messern auf sie zukamen, warf sie die Waffe weg und nahm eine defensive Haltung ein, war sich aber dessen bewusst, dass es sich um eine sinnlose Geste handelte. Die Messer trafen sie schnell.

* * *

Jessie saß plötzlich aufrecht im Bett. Sie war schweißgebadet und atmete schwer. Als sie sich im Raum umsah, bemerkte sie, dass sie allein war. Die Fensterläden an den Fenstern noch immer geschlossen um den Zugang zu verhindern. An ihrer Schlafzimmertür stand noch immer ein Stuhl unter der Klinke als zusätzliche Sicherheitsvorkehrung. Auf der Uhr stand 1:39 Uhr.

Es klopfte sanft an der Tür.

„Alles in Ordnung da drin, Frau Hunt?“, fragte einer der Beamten. „Ich habe ein Geräusch gehört.“