Vicky Victory

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Um Punkt zehn Uhr stürme ich aus meiner Wohnung, wer­fe mich über das Treppengeländer und rutsche, mich zwi­schendurch an den linoleumbezogenen Stufen abstoßend, vom vierten Stock bis ins Parterre. Ich durchquere den Hof und das Vorderhaus und öffne erwartungsvoll meine gewaltige, schwärzliche, knarzende Haustür. In der Hein­richstraße gibt es keine Parkplätze. Juni wartet immer in der zweiten Reihe. Da ist er schon in seinem weißen Golf. Er winkt vergnügt.

»Steig ein, du feiger Hund. - Wie viel schuldest du mir mittlerweile?«

»Lenk nicht ab, Freund. Wir haben meine Gage noch nicht ausgehandelt. Was ist für mich drin?«

»’N Hunni. Ich zieh ihn dir von den zweihundert ab, die du …«

»Nix da, ich hab Ziel bis Sonntag.«

»Auch gut. Also bar.«

»Heute noch?«

»Logisch.«

Juni fährt sachte an und zieht dann seine frisierte Kiste mörderisch in die Hohe.

»He, bist du toll? Das hier ist Moabit und nicht der Nürburgring.«

Juni kichert und lässt den Wagen ausrollen.

»Wollte nur mal wieder den Schisshasen aus dir raus kitzeln«, grient er. - »Weeßte, dass du komisch kiekst, wenn­de Angst hast?«

»Ja, weiß ich. Wie illegal ist der Coup?«

»Überhaupt nicht illegal. Wir helfen der Polizei. Die muss den Tschaika irgendwann sowieso aus’m Verkehr ziehn. Steht ohne Zulassung auf der Straße rum, die Kutsche.«

»Na dann. Und wem gehört sie?«

»Einem Ex-Bonzen. Der hat sie 25 Jahre in seiner Ga­rage versteckt gehalten wie ’ne geraubte Prinzessin. Er hat sie bloß geliebt, nie gefahren. Ist um sie rumgetanzt und hat sie mit Rostschutzmitteln eingerieben. Ein Irrer.«

»Garage? Rostschutzmittel? Du sagtest doch - Wrack

»Naja, ’n gut erhaltenes Wrack. - Der Bonze ist übrigens nach Schweden abgehauen. Und seinen heiligen Tschaika lässt er auf der Straße verrecken. Da sieht man mal wieder, was beim Sozialismus herauskommt: nix als Unmensch­lichkeit.«

»Puh.«

»Wie lange bist du eigentlich im Westen, Igor?«

»Neun Jahre.«

»Da könntest du dir’s praktisch aussuchen, ob du Ossi oder Wessi sein willst …«

»Pfffhh …«

»Und was nimmste?«

Nimmste! Als ob man da frei wäre! Noch im Frühjahr 1989 fühlte ich mich als vollgültiger Westberliner, obwohl erst sieben Jahre dabei. Jetzt, wo die Mauer weg ist, ruft mich Friedrichshain. Im Traum erscheint mir der schiefe „ Laternenpfahl vor unserem Haus.

»He, von wem weißt du das alles, das mit dem Bonzen und seinem Tschaika?«

»Von meinem Auftraggeber. Der is ’n höheres Tier in der Politik und hat ’ne Schwäche für Oldies. Er wollte den Ex-Bonzen auskaufen, aber da war der schon in Malmö. Hüüi - verdammt!!«

Juni bremst so plötzlich, dass ich den Gurt einschneiden fühle und schaurig röchele. Da hätten wir fast einen Hund überrollt! Das Tier spurtet in den Windschatten seines Herrchens, welcher wild mit der Leine fuchtelt. Juni gibt Gas. Sekundenlang zeigt er mir sein Gesicht, in dem die schwarzen Augen flackern.

»Ja, bremsen muss man können«, sagt er heiser.

Juni hat selbst einen Hund besessen — und nicht nur besessen, er hat ihn verehrt. Kurt hieß der Terrier. Eines Tages ist er unter ein Auto gerannt, Juni hat ihn verbluten sehen. Er kommt nicht darüber hinweg. Vier Wochen ist es jetzt her, und noch immer kriegt Juni Falten unter den Mundwinkeln, wenn er einen Hund sieht.

»Du willst Jagdinstinkt haben?« sagte er, als ich kam, um ihn zu trösten. — »Ist doch alles Gerede. Kurt hatte Jagdinstinkt. Er hat den Ratten eingeheizt, dass die Vie­cher Saltos aus’m Stand geschlagen haben, wenn er nur gehustet hat. Ich möchte wissen, was aus dieser Gegend werden soll ohne Kurt.«

Juni hat seinen vierbeinigen Freund neben der Werk­statt beigesetzt und dabei ein bisschen tiefer ins Erdreich hineingestochen, als es für ein Hundegrab notwendig ge­wesen wäre. Prompt hat er etwas gefunden: eine Schraubmutter und zwei grüne Glasscherben.

»Sieht nach nichts aus«, räumte er ein, »ist aber ein An­fang. Ein Zeichen. Wenn wir weiterbuddeln, stoßen wir auf eine Silberader.«

Er hat Kurt in die Grube gelegt, die nagelneue Leine und das Halsband hinterhergeworfen und das Loch zuge­schüttet. Er mochte dann doch nicht mehr nach Silber su­chen und mit seiner Schatzgier Kurts Ruhe stören. Stattdessen schloss er seinen Laden, obwohl es noch nicht fünf war, und ging mit mir in unsere Stammkneipe »Bella Ciao«. Ich habe ihm seinen Lieblingsdrink ausgegeben, um ihn ein bisschen aufzuheitern, aber es hatte keine Wir­kung. Er nahm den Futschi und meinen guten Willen zur Brust und sagte immer wieder: »Der Trabifahrer hat zu spät gebremst« und »Warum hab ich Kurt nicht angeseilt?« und kippelte mit seinem Stuhl, als sei er wild auf noch ein Unglück. Gegen Morgen berichtete ich, dass im Minipreis eine neue Kassiererin …

»Aber du lässt die Finger von ihr«, drohte ich. »Mit der ist’s mir ernst.«

Da hat er endlich gelächelt.

»He Juni, wie willst du den Tschaika überhaupt vom Fleck kriegen?«

»Schon mal was von Abschleppseil gehört?«

»Aber … da muss doch jemand lenken?«

»Rat mal, warum du hier neben mir sitzt.«

»Mann, ich hab keinen Führerschein …«

»Aber Auto-Scooter biste schon gefahren? Du weißt, was man mit dem Lenkrad macht, wenn man rechts um die Ecke will? O du mein stilles Tal, gäb’s doch ’ne Spritze gegen diesen ewigen Schiss von Igor. Keen Wunder, dass du keine Mark machst.«

»Juni, wenn ich den Tschaika lenken soll, muss ich reinkommen.«

»Logisch.«

»Und du meinst, das Ding steht offen auf der Straße?«

»He Mann, bist du verbohrt.«

»Verbohrt oder nicht, das ist Diebstahl.«

»Nicht, wenn die Polizei den Kahn abschleppt.«

»Richtig. Aber …«

»Wir sind von der Polizei.«

»In Zivil und mitten in der Nacht?«

»Wenn de mal nach hinten kiekst, siehste zwee Blau­männer, die legen wir an. Das Ganze geht ruckzuck, und keen Ossi wird davon wach.«

»Egal, für hundert Mäuse ist mir das zu heiß.«

»Jau, Auto-Scooter-Fahren ist gefährlich, saugefähr­lich.

»Tut mir leid, Meister, du musst was drauflegen.«

»Weil du es bist: hundertfünfzig.«

»Zweihundert.«

»Blutsauger.«

Wir brummen durch das schläfrige Reinickendorf, ent­lang der Mauertrasse, neben uns die S-Bahn. Reste von Beton und Stacheldraht türmen sich stellenweise zu wü­sten Gebilden. Ein Zug rauscht vorbei, funkelnd und vertieft in seine Spur. Juni biegt ab nach Niederschönhausen, vorbei am Pankower Friedhof, in den gerade ein Kanin­chen eilig heimkehrt. In diesem ehemaligen SED-Nobilitäten-Viertel ist es still und düster, und meine Bedenken verfliegen. Juni hat recht. Wir müssen ihn nur finden, den russischen Nomenklatura-Waggon, anseilen, aufbrechen, ab geht die Post. Was soll schon passieren?

»In welcher Straße steht das Ding?«

»Kuckhoffstraße. - Pass auf, Igor, Strategie. Ich kümme­re mich um den Tschaika, du dich um den Faktor Mensch. Wenn jemand vorbeikommt, der sich wundert, verwickelste ihn in einen kleinen Plausch über die Wende. Das könn’ die mit uns nicht machen und so weiter. Und glotz mir nicht auf die Pfoten, davon krieg ich Ausschlag.«

Er hält in der Kuckhoffstraße: biedere Zweifamilien­häuser hinter schmalen Vorgärten. Die Straßenbeleuch­tung funktioniert nur hier und da, man sieht nicht viel. Juni und ich verrenken uns fluchend die Glieder, bis wir sie in den knappen Blaumännern verstaut haben, und dann war meiner auf links gedreht! Ich muss nochmal durch die ganze Prozedur. Juni startet den Golf und lässt ihn im Kriechgang durch die Kuckhoffstraße summen. Wir beiden stieren auf die im Lichtkegel links und rechts auf­tauchenden parkenden Wagen: Volvo, Wartburg, Trabi, Lada. Wartburg, Opel, VW, Mercedes.

»Keine Ahnung, was Leistung heißt und Standard«, brummt Juni und bohrt seinen Blick in die Nacht. »Aber ’n Westauto muss sein, und wenn dafür die Mutti verkooft wird.«

Plötzlich bremst er und japst. Da seh ich’s auch. Tief­schwarz prangt er unter der Laterne, riesig und fremd wie ein Raumschiff: der Tschaika. Auf seinen Flanken schim­mern kleine Wappen, das mächtige Heck strahlt wie ein Kometenschweif. Es fehlt nur der Trockeneisnebel, dann wäre das die Zeitmaschine aus der vierten Dimension.

»Donner«, haucht Juni und ich mache: »Oijoijoi!« Andächtig wiegt Juni sein Haupt und wiederholt: »Donner!« Seine dunkle Stimme versteigt sich in bewundernde Koloratur:

»Hättste das den Russen zugetraut?« Schon hat er’s ei­lig. Rangiert den Golf schräg in die zu kleine Lücke vor dem Tschaika, greift sich sein Werkzeug und öffnet den Schlag: »Los!«

Er wagt das exotische Schiff nicht mal genauer anzu­gucken, so selig ist er über seinen Fund. Fürchtet wohl, der könnte abheben wie ein Ufo, wenn er ihn scharf ins Auge fasst. Widmet sich erstmal der Anseilerei. Das geht schnell, aber nicht ohne Störung. Wie das eben ist in ruhi­gen Gegenden: Wenn jemand kommt und hält und aus­steigt, fällt er auf - zumindest den Wachhunden. So einer schlägt jetzt an.

Das gedrungene Zweifamilienhaus rechter Hand wird lebendig. Es grollt und grummelt ein Köter, es murren die Menschenstimmen. Dann wird es still. Die Haustür öffnet sich. Eine dickliche Bewohnerin guckt ruhig zu uns hin. Sie guckt, entschließt sich und naht. Juni drückt mir sei­nen Unterarm ins Kreuz. Das wäre nicht nötig gewesen. Ich weiß, was ich zu tun habe.

»Na, so spät noch am Werk?« fragt die füllige Dame, die jetzt bis ans Gartentor vorgerückt ist. Hinter ihr erscheint in der Haustür ein etwa fünfzehnjähriger Junge mit Bri­kett-Frisur, der einen Schäferhund am Halsband führt und, das Tier tätschelnd und beschwörend, so tut, als ret­tete er uns gnädig das Leben.

 

»Man wird ja nich mehr fertich«, melde ich freund­schaftlich, den Ellenbogen plauschbereit auf den Zaun gestützt. »Wat in den Berliner Straßen so los is heutzuta­ge - Sie glooben’s nich!«

»Wer hat Sie hergeschickt - wenn man fragen darf?«

»Die Verkehrswacht. Wir schleppen den janzen Tach Fahrzeuge ab. Jeklaute Autos, falsch jeparkte Autos, TÜV-überfallige Autos, abjemeldete Autos …«

»Und nu räum’n Se endlich ma hier det Museumsstück beiseite?«

»Jenau. Wissense, det is nich statthaft, det so’n Fahr­zeug ohne Nummernschild … Det jehört entweder uff’n Schrottplatz oder …«

»Sach ick doch, sach ick doch. Versperrt uns hier die Zufahrt zur Garage. Ick war schon drauf und dran, bei Ih­nen anzurufen …«

Ich suche Junis Blick, da ich meine Freude über diesen glimpflichen Verlauf der Dinge gern mit ihm geteilt hätte, aber der Kerl arbeitet verbissenen Gesichts am Tschaika-Schloß, das offenbar nicht aufgehen will. Er hat jetzt kei­nen Sinn für den Faktor Mensch. Ich dafür umso mehr!

»Tja«, fahre ich fort, »da komm’n wir ja gerade rich­tich.« Ich gewahre den Jungen, wie er dem Hund einen Klaps gibt und ihn ins Haus schickt, dann die Tür von außen schließt und quer durch den Vorgarten huscht, um sich durch eine Zaunlücke in den Nachbargarten zu zwän­gen. Mir gefällt das nicht. Sieht so aus, als liefe er vor seiner Mutter davon. Und die ist eine so nette Person!

»Aber det Se ooch bei de Verkehrswacht Nachtschicht schieben müssen!«

»Na, wat denken Sie, jute Frau, nachts passieren doch die Schweinereien! Wat machen denn die Leute, wenn sie die erste Rate für’n Opel Kadett zusammenhaben? Wat machen die mit ihre Trabis? Richtich, die entsorgen die wild! Nummernschilder runter und raus damit nach Weissensee uff’n Marderberg oder in’t Jebüsch neben die S-Bahn-Schienen. Und wann machen sie det? Nachts! Und wir, wir müssen det vahüten. Sehen Se …«

»Immer uff Draht, wa?«

»So isset doch. Det verlangt der Steuerzahler, is sein jutet Recht. Sie woll’n doch ooch hier in Ihre Garage …«

»Nee, ick bin froh, det Se jekomm’n sind«, bekräftigt die Mutti und knetet ihr starkes Kinn. - »Det war doch keen Zustand hier mehr. Regelrecht jefährlich. Ja, mein Sohn sacht: Der Wagen hat schon Sammlerwert. Wie ’ne Antiqui­tät. Unbezahlbar. Sowat zieht Elemente an. Polen usw. Die lungern hier rum und machen sich dran zu schaffen …«

Sie tritt, angeregt wohl durch den Gartenzaun, der be­kanntlich mehr verbindet als trennt, nah an mich heran und raunt mit weicher Stimme:

»Der Wagen soll ja Mielke jehört ham!«

»Nee!«

»Wird jemunkelt. Mielke. Der immer so bieder jetan hat. Aber da komm’n jetzt ja Jeschichten raus …!!«

»Ick kann Ihnen sagen …«

»Jeschichten komm’n raus! Wo unsereiner Vazicht jelei­stet hat der juten Sache wegen, ham die Böbberschten in Saus und Braus …«

»Und in solche Karossen …! Is ’ne Schande, wa? Wo unsereiner …«

»Sie sind auch von hier?«

Glühenden Auges begrüßt sie, eine Hand im Bogen auf mich zuführend, den Ost-Genossen in mir. Manus manum tenet. Ich bin so eingenommen von meinen Ablenkungs­künsten, dass ich Junis Schnalzlaute, durch die er mir be­deuten will: Wir können jetzt, erst mal überhöre und mit Frau Teichmann (denn so heißt sie) noch ein paar Takte über die Korruption in Wandlitz und über Mielkes Wagen­park verplaudere.

»Betrogene Betrüger«, ruft sie aus und strahlt, »det sind se nun zusamm’n, die Towarischtschi!«

Juni kann gerade noch verhindern, dass ich Frau Teich­manns Einladung auf ein Gläschen in ihren selbstgebauten Wintergarten annehme - er erinnert mich daran, dass wir im Dienst sind, auch nachts und gerade nachts; da muss man eisern bleiben. Ich winke lässig, als Juni mir den Schlag aufhält und ich in Mielkes schwarzes Leder plump­se. Der Tschaika duftet schwer nach Tannenharz.

»Ich habe das Schloss gesprengt«, zischt Juni zwischen den Zähnen. »Die Tür geht jetzt nicht mehr zu. Wir müs­sen sie von innen festbinden.«

Wahrend sich Frau Teichmann auf ihr Haus zubewegt, hantiert Juni schnaufend mit einem Stück Paketschnur zwischen Tschaika-Tür und Sitz-Verstellhebel hin und her.

»Wie fandste mich?« gluckse ich, auf ein Lob aus. - »Ein paar Minuten länger und die Alte hätte mich zum Alleinerben eingesetzt.«

»Noch sind wir nicht zuhause«, bemerkt Juni nervös. - »Lass mich sehen. Ist’n Gang drin? So. Okay. Jetzt geht’s ab. Du machst nichts, außer dass du das Lenkrad festhältst und schön sanft mitgehst in den Kurven. - Das hier ist die Bremse, klar? Wenn beim Golf die roten Lichter angehen, trittst du drauf. Und mach dir keine Sorgen, ich fahr fünf­undzwanzig.«

Er springt in seinen Wagen und zündet ihn. Langsam, langsam krabbelt der Golf vorwärts, bis sich das Seil strafft und der Tschaika zu rollen beginnt. Ich fühle mich augen­blicklich wie ein Bonzen-Chauffeur und lenke, beide Arme besitzergreifend über das Steuerruder verteilt, pro­fessionell mein Gefährt aus der Lücke. Na, wie haben wir das geschaukelt?! Juni muss auf dreihundert hochgehen. Wenn nicht sogar … Mir schwant, dass er ein Vermögen macht mit diesem Russen-Kreuzer.

Am Ende der Kuckhoffstraße - Juni hat schon den Blin­ker gesetzt, um nach Süden abzubiegen und den Westen zu gewinnen - am Ende der Straße ist etwas im Weg. Was es ist, erkenne ich erst, als Juni anhält und auch ich, leicht erschrocken, ruckartig gebremst habe: Die Scheinwerfer des Golfs strahlen ein paar junge Männer an, fünf an der Zahl, die breitbeinig dastehen und als lebende Schranke die Straße sperren. Der Junge in der Mitte dürfte niemand anders sein als Teichmann junior. Mir fällt, obwohl ich das jetzt gar nicht wissen will, die Ähnlichkeit mit seiner Mut­ter auf: dasselbe lange Kinn. Und einen langen Stock hält dieser Knabe in der Faust - das könnte ein Billard-Queue sein. Der neben ihm spielt mit einer Heckenschere. Ein weiterer trägt einen Wagenheber bei sich, lässig wie ein Eis am Stiel hält er sich das Ding vor’s Gesicht. Mir wird speiübel. Mielke kann sich nicht so elend gefühlt haben, als man ihn verhaftet hat.

Einstweilen lassen mich die Gangster ungeschoren. Auf Juni haben sie es abgesehen, denn der verfügt über ’n laufenden Motor. Er macht auch einen Versuch durchzu­starten, ich höre den Motor kurz hochgehen und spüre das Seil rucken, aber wie der Wind sind alle fünf Kerls auf der Haube, und der mit der Heckenschere zertrümmert die Windschutzscheibe. Ich kann nicht ausmachen, was sie Juni antun, ich höre ihn nur schreien, so furchtbar und gar-nicht-mehr-menschlich, dass ich in Horror erstarre! Irr vermisse ich ein Bett, unter das ich schlüpfen könnte; der Tschaika-Rücksitz ist, so scheint es mir, zu schmal. Da kommt auch schon eine Figur auf mich zu, lächelnd, böse, einen Queue erhoben und versucht, den zugebundenen Wagenschlag aufzureißen.

Mitten in der Gefahr reagiert auch ein ängstlicher Mensch instinktiv kühl. Ich lasse meinen Blick über die auslaufende Kuckhoffstraße schweifen, um abzuschätzen, ob ein Hilfeschrei lohne. Der Ort ist für ’ne Falle bestens gewählt; hier gibt es nur Gärten und Brache. Ich kurble die Scheibe herunter. An beiden Türen steht je ein Bursche.

»Die Spritztour ist zu ende, Herr Wachtmeister«, sagt Brikettfrisur. - »Dein Kollege da vorne hat es sich anders überlegt. Du jehst jetzt hin und hilfst ihm abhauen.« Und er reicht mir Junis Wagenschlüssel.

»Mit deiner Mutter hab ich mich besser verstanden«, sage ich in breitester Ruhe, erleichtert konstatierend, dass die Übelkeit weicht. »Der wird das nicht gefallen, was du hier nachts so treibst.«

»Raus«, brüllt der Typ auf der Rechten und rüttelt am Schlag. »Raus!«

Teichmann junior senkt sein langes Kinn und macht Anstalten, durch das Fenster nach mir zu greifen, als ein kleiner, massiger Schwarzschopf dazwischenfährt - der mit der Heckenschere. Er blitzt mich durch die Fenster­öffnung an und fuchtelt mit seiner Waffe.

»Okay«, sage ich, »schneid mich los.«

Ich zeige ihm das Paketschnurnetz zwischen Tür und Sitz. Er reißt seine Schere auf und hackt auf die Schnur ein, schon gibt die Tür nach und schiebt ihn sanft zur Sei­te. Ich steige aus. Der enge Blaumann kneift mich in den Schritt. Sie werden’s dir noch zeigen, spricht eine Stimme in mir. Sie werden dich ohne Abschiedsgruß nicht ziehen lassen. So spricht die Stimme, doch Angst kommt nicht auf. Ich bewege mich vorwärts, ich trete auf das von der Heckenschere durchgeschnittene Abschleppseil. Ich gehe.

Bis der Hieb mich trifft und gegen den Golf schleudert. Der Schmerz wirft mir einen Sack über Augen und Hände, die nichts mehr finden. Und doch kann ich aufstehen und Schritte tun. Das war das Queue, das war’s auf meinem Rücken, meinem Nierenbecken. Trotz des Schleiers vor’m Gesichtsfeld identifiziere ich die Beifahrertür, ziehe sie auf und steige ein. Alles passiert wie unter Wasser. Juni sitzt da, schneeweiß, mit offenem Mund, um ihn herum die Hagelkörner der Windschutzscheibentrümmer. Ich gebe ihm die Schlüssel. Er startet, noch bevor ich die Tür geschlossen habe.

»Diese Schweine«, heult er. »Meine Hand. Ich glaub, die ist gebrochen.«

Es macht mir nichts aus, dass er mit neunzig Sachen bei scharfem Gegenwind durch Pankow rast.

2. Kapitel
Isaacs Kinder

Ich öffne meine Fenster: Glocken läuten. Was für Glocken? Die der Melanchthon-Gemeinde, der Erlöser-Kirche, der Paulus-Kapelle? Die Stadt ist voll von Gemein­den, aber die Berliner sind kein frommes Volk, Gott sei Dank, sie lassen die Kirchen veröden. Ob Loreley verlan­gen wird, dass ich sie vor einen Altar führe, um ihr dort mein Ja-Wort zu geben? Hochzeit kommt wieder in Mode. Meine Braut ist höchstens 25, rosablond, mit einer Haut wie Erdbeermilch. Noch sitzt sie auf dem Drehstuhl und erhebt ihre singende Stimme, um »49 Mark 80« oder »fuffzich retour für Sie« zu sagen, aber nicht mehr lange. Heute Abend wird sie abgeschleppt.

Warum bloß bin ich hinter dieser Tussi her? Wird es ein schlimmes Erwachen geben, wenn sie das erste Wort zu mir spricht? Ob sie aus dem Osten ist?

Deshalb muss sie ja nicht blöd sein. Gezeugt auf dem Zentralfriedhof Herzberge, aufgewachsen in der Leninal­lee 87 und entjungfert unterm Tulpenbaum im Volkspark Wuhlheide, hat sie am 9. November ’89 mit ihrem kurzen, dicken Freund am Brandenburger Tor auf der Mauer gesessen und Westbier aus Dosen in ihren Schlund und über ihre wattierte Fliegerjacke gegossen. Warum er kurz und dicklich war, ihr Freund? Weil es einen Grund gege­ben haben muss, dass sie ihn verlassen hat. Der Platz an ihrer Seite ist leer, und ich erscheine im idealen Augenblick.

»Kommen Sie, Frau Rosinski, ja, ich weiß Ihren Namen, weil ich meine Ohren aufmache, wenn ich einkaufe, und weil mich alles interessiert, was Sie betrifft. Nehmen wir doch diesen Tisch am Fenster. Warten Sie, ich zünde die Kerze an. Rauchen Sie? Ich auch nicht. Aber ich trage die­ses Feuerzeug bei mir, weil es ein Andenken an meinen verstorbenen Großvater ist.«

Sie wird nicht wissen, was sie dazu sagen soll, und obendrein kriegt die Stimmung zwischen uns zweien, diese von vorgreifendem Jubel durchwärmte starke Stim­mung einen Schock, wenn von Tod die Rede ist. Wir wer­den beide verlegen auf das Tischtuch glotzen und nur zu bald nach Hause gehn. »Mein Opa«, werde ich stammeln, »besaß ein Öllämpchen, das er sehr liebte und mit diesem Feuerzeug …« Aber es ist schon zu spät, sie lässt mich stehen.

Man soll die Wahrheit in Ruhe lassen, wenn man eine Frau jagt. Macht sie was her, die Wahrheit, bediene man sich ihrer, macht sie nichts her, kehre man sie unter den Teppich. Schließlich sage ich auch nicht, dass ich arbeitslos und verlobt bin, da hüte ich mich. Wozu habe ich meine Verstellungsgabe und meine Art, interessant, vielseitig und ungebunden zu wirken? Die Wahrheit! Jeder ernst zu nehmende Philosoph sagt uns heute, dass es sie nicht gibt. Warum sollen wir in Liebessachen unter das Niveau des Jahrhunderts fallen?

Also: Gehen wir nochmal zurück zum Platznehmen am Cafétisch und ziehen wir das Feuerzeug elegant aus dem Gesprächsverkehr:

»Wennse nich roochen, wozu ham Sie dann ’n Feuer­zeug mit?«

»Um an einem gesegneten Dienstagabend im Café mit Frau Rosinski - endlich, endlich im Cafe mit Frau Rosinski - die Kerze auf dem Tischchen anzuzünden, damit ihre Augen was zum Widerspiegeln haben.«

 

Eine komplette Antwort. Da muss das Herzchen lä­cheln. Steht ihr gut. Alles tritt hervor: das edle Kinn mit der Kerbe darin, die Lücke zwischen den oberen Schnei­dezähnen, die weiße Nasenspitze mit den rosa Nüstern und der Glanz in ihren Augen, die jetzt, erlöst von Tastatur und Scanner, einen Blick versenden. Und der gilt mir.

»Wer sind Sie eigentlich?« wird sie sagen, »erzählen Sie von sich.«

So was sollte ich sagen. Muss versuchen, schneller zu sein als sie. Oder so kontern:

»Was gibt’s von mir schon zu erzählen! Ich möchte alles über Sie wissen!«

Nein, das ist ungeschickt. Erstens gibt es über mich eine ganze Menge zu erzählen, und zweitens klingt es reichlich abgeschmackt, dieses: »Ich möchte alles über Sie wissen.«

Nie wird so ein Schmus über meine Lippen flie­ßen. Geschworen! Stattdessen:

»Okay. Ich erzähle von mir. Aber nur, wenn danach Sie …«

»Jaja, danach ich. - Sind Sie von drüben?«

»Sieht man das?«

Sie zuckt die Schultern. Augenglanz wird runtergefah­ren, Blick schweift davon, die Enttäuschung ist offensicht­lich. Sie wollte keinen Ostkavalier kennenlernen, von de­nen hat sie die Schnauze voll.

»Ich bin aber schon seit bald neun Jahren im Westen.«

Augenglanz wird wieder hochgefahren, Nasenspitze ei­nen ganzen Zoll angehoben und die blonde Aureole über der Stirn mit allen zehn Fingern anmutig, aber effektlos zurechtgedrückt.

»Ehrlich?«

»Ich bin ganz legal ausgereist. War persona non grata.«

»Wieviel?«

Ein bisschen Latein macht sich gut bei den Damen. Diese Sprache mit ihrer klanglich faszinierenden Vokalfül­le betört das Ohr einer jungen Frau am Feierabend. Es sei denn, sie heißt Loreley und reagiert auf Angeberei mit Verachtung. Besser ich bringe die Persona non grata sofort in Ordnung, sonst ruft sie den Kellner.

Überhaupt der Kellner. Ist er schon an unsren Tisch ge­treten?. Und wenn ja, was haben wir bestellt? Egal. Es gibt Wichtigeres. Zum Beispiel:

»Wie ist ihr Vorname?«

»Petra.«

So bin ich. Immer auf das Schlimmste gefasst.

Wie sie auch heißen mag - für mich bleibt sie die wieder­geborene Evelyn. Jaja, in die Rosinski hab ich mich ver­guckt, weil sie einer anderen Blondine ähnelt, Evelyn Mölcharetz, einer kleinen femme fatale, die ich die Ehre habe, seit ihren Kinderjahren zu kennen, als sie zwar auch schon fatal war, aber nicht auf Grund von Weiblichkeit, sondern von abnormer Rotzigkeit. Sie wohnte ebenfalls in der Cecilienstraße, im selben Haus wie ich, uns gegen­über. Sie nannte mich, der ich zwei Jahre älter war und ihr immer an Würden voraus (Schulranzen, junge Pioniere, er­ste russische Wörter) beharrlich »Stinkstiefel«, schüttete mir Kaninchenköttel in die Anorakkapuze und klaute mei­ne rot-weiß-grünen Nabenputzer. Ich nahm alles gelassen hin, ich brachte es nicht fertig, mich zu wehren. Großvater nannte sie »der kleine Lausbub« und Omi Lenau vom Par­terre sagte nur »der Fratz«.

Als sie vierzehn geworden war, verlieh ihr die Natur über Nacht die Aura einer märkischen Diana. Großvater stellte sich auf »die kleine Evelyn von nebenan« um, und Omi Lenau steigerte zu »Fräulein Mölcharetz«. Evelyn hörte auf, mich zu beleidigen, und als wir eines Abends im Hof plauderten, während sie, wie so oft, ein Stückchen bei sich trug, eine Gerte, die sie im Park aus dem Gesträuch riss und mit ihrem Taschenmesser beschnitzte, als wir also plauderten und sie dabei rhythmisch mit ihrer Gerte an die Mülltonnen klopfte und mir - ich hatte etwas gesagt, was ihr passte - auf die Beine schlug, verliebte ich mich in sie. Ich tat es in demselben Augenblick, in dem der leichte Hieb auf meine Oberschenkel niederging. Ich ließ mir nichts anmerken und quasselte fort wie ein alter Freund. In Wahrheit hatte ich mich binnen einer Sekunde vom Nachbarskind zum Liebhaber raus gemacht. Als ich aber gleich darauf versuchte, den Stock zu fangen, um meine frisch erwachte Jagdlust zu befriedigen, warf sie mir einen kalten Blick zu, hob das Kinn und schritt mit ihrer Gerte ins Haus.

Heute tut der Rücken kaum noch weh. Ein bisschen hohl fühlt sich die Nierengegend an, doch Haut, Fleisch und Organe, sie wollen heilen. Juni hat es schlimmer erwischt. Seine Hand ist immer noch verbunden. Zwar war sie nicht gebrochen, aber gequetscht, geprellt, gestaucht, geschwol­len und was sonst zum Nachteil einer Hand noch möglich ist. Seine Mutter hat drei Weißkohlköpfe für kühlende Kompressen verbraucht. Und alle unsere Freunde glaub­ten an die Sterne! Konnte das ein Zufall sein - dass an einem und demselben Tag (einem Freitag!) Juni sich die Kühlerhaube eines Mercedes auf die Hand geschmettert hat und ich beim Geländerrutschen aus dem dritten in den zweiten Stock gestürzt bin und dann auch noch wie ’ne Cartoonfigur voll in Frau Busses Scheuereimer …

Wenn der Mensch krank im Bett liegt, bereut er es nicht mehr, verlobt zu sein. Sonja kam sofort und mit ihr kamen Salbe, Trost, zwei amerikanische Romane (meine Lieb­lingslektüre) und jede Menge Putenschnitzel mit Püree. Den Salat nicht zu vergessen. Ich zog Sonja zu mir auf das Ausziehsofa und flüsterte: Lass uns das Beste draus ma­chen, aus dieser Bettlägerigkeit, und sie sagte: Bitte sehr, und erwartete den ersten Schmerzenslaut. Meine Hüftbeweglichkeit war schier, gleich Null. Juni ist doch besser weggekommen, fand ich, matt an die Liebste geschmiegt. Wozu braucht der Mensch im Bett Hände? Zumal mir Sonja auf beide draufschlug und behauptete, die Puten­schnitzel seien durch.

Heute ist sie bis zum tiefen Abend im Gemeindehaus beschäftigt, meine Sonja, also kann ich unbehelligt auf die Jagd gehen und den Minipreis beschleichen. Ich rutsche sorglos über’s Geländer abwärts, denn ich bin mir meines Gleichgewichtes völlig sicher, und Hauswart Bock, der kann mich mal. Leider schmerzt das Kreuz noch ungemein.

Es ist spätsommerlich mild. Der warme Abendfriede lehrt uns Berliner, das Konzert der Vögel aus dem Ver­kehrsgesumm herauszuhören und - ja, fast einstimmen zu wollen. Frohgemut schlendere ich zur Darwinstraße rüber, froh und erwartungsvoll, denn heute mach ich es richtig.

Die Hinterfront des Minipreis, die kleinen Fenster und die Glastür, sie schimmern im Ladenschlusszwielicht. Die Werktätigen der Zirkulationssphäre haben ihre Sachen ge­packt und treten hervor, um in den Moabiter Feierabend auszuschwärmen. Hier parken des Abteilungsleiters Opel, des Lager-Fuzzis Motorrad und ungefähr ein halbes Dut­zend Lieferwagen. Die menschlichen Wesen irren winzig durch diesen Kongress machtvoller Fahrzeuge; man muss achtgeben, dass man keines übersieht, denn sie alle kön­nen sich im Schatten der LKW’s entlangdrücken und ver­flüchtigen. Aber dann - nun danket alle Gott - dringt eine Traube erheiterter Mädchen aus der gläsernen Hintertür, die hängen aneinander, die erzählen sich was und lachen sich scheckig; der ganze Tagesfrust wird hier in Kicherkas­kaden ersäuft. Und wie ich näher herantrete, kühn und zielbewusst, verstehe ich sogar, was die eine, die kleine Verwachsene, hervorstößt:

»Nur um zu hupen? Nur um straflos die Hupe durchzu­drücken?« Und eine andere quiekt dazwischen:

»Sieht dem Affen ähnlich. Wundert mich überhaupt nicht.«

Und was sagt Loreley?

Denn sie ist auch dabei und mittendrin. Sie lacht, ent­fesselt, den Kopf im Nacken, ohne Luft, sie hat sich fest­gelacht und führt die Hand zum Bauch, weil es ihr wehtut.

So hübsch dieser Anblick sich kringelnder Mädchen ist, so froh ich bin, an der richtigen Stelle zu sein und Evelyn-Loreley Rosinski vor mir zu sehen, so ungünstig ist für meine Absichten die Pulk-Form, in der das Frauenvolk sich fortbewegt. Wie komme ich da an eine einzelne heran, wie kann ich meine Blondine aus dem Gewimmel heraus abfangen, ja wie mich überhaupt bemerkbar machen, wo alle durcheinander gackern und Loreley vor lauter Tränen in den Augen und Krämpfen im Zwerchfell überhaupt nichts wahrnimmt?