Manchmal ist weiß ein Zauberwort

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Manchmal ist weiß ein Zauberwort
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'Die Ausnahme von der Regel', Blogeintrag von Anatol, in der Nacht vom 14. auf den 15. Oktober

Ich weiß, dass die letzten Wochen in meinem Leben grandios waren. (Ich habe jetzt ganz lange überlegt, was ich schreiben kann. Nach einer Viertelstunde ist mir das Wort grandios eingefallen. Es trifft es nicht ganz. Aber doch ganz gut.)

Wenn ich meine Augen schließe und mich konzentriere, dann meine ich, ihren Duft in der Nase zu haben, ein bisschen Kölnischwasser und einige Tropfen Lavendel. Ich habe sie einmal danach gefragt, was das für ein Duft ist. Jetzt ist sie nicht mehr da. Ein Mensch – einfach weg. Auch ich werde einmal sterben. Ich kann es mir beim besten Willen nicht vorstellen.

Dass wir alle so tun, als ginge uns der Tod nichts an – eigentlich völlig verrückt. So, als ginge uns die Sonne nichts an, die Luft, die wir atmen.

Sind wir auf die Welt gekommen, um so zu tun, als gäbe es den Tod nicht?

Ich weiß, dass die letzten Wochen in meinem Leben grandios waren.

Ein Rätsel

Warum ihre Eltern ihr diesen scheußlichen Namen gegeben hatten, das wusste Gott allein.

„Ich hätte immer gerne einen anderen Namen gehabt, einen geheimnisvollen, besonderen. Ich wollte meinen Kindern diese Freude ermöglichen. Diese Chance, die ich nie hatte.“ So Mama. Mama hieß Sabine. Anscheinend ein Allerweltsname.

„Wir wollten nicht, dass du heißt wie alle.“

Wie alle konnte sowieso niemand heißen. Aber besser Sophie als Elvira, auch wenn es in ihrer Klasse drei Sophies gab. Drei Bens gab es auch.

„Und dann waren Papa und ich einmal auf einem Schiff. Wir machten eine kleine Reise, ich war gerade schwanger mit dir. Oh, alles war so besonders, so wundervoll. Und auf diesem Schiff hieß ein kleines Mädchen Elvira. Als ihre Eltern sie riefen, wusste ich sofort, dass das dein Name werden musste.“

Mama schaute versonnen in die Ferne, wahrscheinlich saß sie gerade wieder auf ihrer lauschigen Liege im Sonnenlicht und irgendeine Verrückte brüllte „Elvira“, Mama schaute aufs blaue Meer, war hin und weg.

„Du hättest dir aufschreiben sollen, wo diese Leute wohnen. Dann könnte ich jetzt die andere Elvira fragen, ob sie mit ihrem Namen zufrieden ist. Und ich wüsste, dass es noch jemanden gibt, der so heißt. Möchtest du Elvira heißen, Mama?“

„Ja, sehr gerne sogar.“

„Das zeigt, wie wenig du weißt. Wenn man Sabine heißt, kann man alles behaupten. Sogar dass es einem nichts ausmachen würde, mit dem Namen einer Kuh herumzulaufen.“

Im letzten Urlaub in den Bergen hatten sie tatsächlich eine Kuh mit dem Namen Elvira kennengelernt.

Jahrelang hatte Elvira darüber nachgedacht, was sie aus ihrem Namen machen könnte, damit er aufhörte, ein Fluch zu sein.

Vira, Elvi, Elira. Klang alles besser, aber auch ziemlich exotisch. Wobei exotische Namen ja modern waren. Rabea, Alisa, Lionel, so hießen die Kinder in ihrer Klasse, die nicht Sophie oder Ben hießen. Aber Elvira war gar nichts. Nicht exotisch, nicht normal. Elvira war einfach blöd.

Die großen Ferien hatten gerade begonnen. Sechs Wochen Freiheit. Sechs Wochen Nichtstun. In den Himmel schauen, ausschlafen, lesen, träumen, schwimmen.

Es war sehr heiß, Elvira saß auf der Bank neben der Haustür. Aus dem Gartenschlauch hatte sie sich einen Eimer mit Wasser gefüllt, das Wasser aus der Zisterne war immer kalt, auch an den heißesten Tagen. Im Eimer mit dem kalten Wasser steckten Elviras Füße. Dazu lutschte sie an einem Wassereis, Kühlung von oben und unten. Dennoch war die Hitze unangenehm, drückend und feucht. Gelb drückte der Himmel auf die Erde, bestimmt würde es bald ein Gewitter geben.

„Hallo“. Ein Junge stand vor ihr. Sie hatte ihn noch nie vorher gesehen.

„Willst du?“ Auf einer braunen Hand lag ein Kaugummi, der Junge hielt die Hand ziemlich dicht vor Elviras Nase. Sie konnte den feinen Pfefferminzgeruch durch das Papier riechen. Sollte sie den Kaugummi annehmen?

Noch schleckte sie an ihrem Eis, da hatte ein Kaugummi kaum Platz im Mund.

Sie aß schon gerne Kaugummis.

Elvira griff nach dem grünen länglichen Stäbchen.

„Wie heißt du?“, fragte der Junge. Und setzte sich neben Elvira auf die Bank.

Es war so drückend, Elvira fühlte sich, als läge ein riesiger Daumen auf ihrer Brust, der jedes bisschen Luft aus ihr herausquetschte.

Sie hielt dem Jungen den Rest ihres Wassereises hin. Nickend nahm er es und schleckte begeistert daran.

„Warum bist Du denn so braun?“, fragte sie.

„Ich komme gerade aus Mallorca. Ich werde schnell braun“.

„Ich heiße Anna.“ Elvira steckte den Kaugummi in ihren Mund. Frisch schmeckte er. So frisch, dass er einen Augenblick eine kühle Brise durch ihren Körper wehte.

Anna hatte sie schon immer schön gefunden.

„Ich bin Luca.“

Elvira nickte. Luca hatte Glück. Lucas gab es zwei in ihrer Klasse.

„Ich hab dich hier noch nie gesehen.“ Langsam schmeckte der Kaugummi langweilig.

„Ja, ich bin auch nur zu Besuch. Bei meiner Oma. Sie ist gerade auf dem Friedhof.“

Elvira nickte. Noch so ein Tick ihrer Eltern. Unbedingt hatten sie neben einem Friedhof wohnen wollen. Der Bauplatz hatte jahrelang zum Verkauf gestanden. Niemand sonst wollte neben dem Friedhof wohnen. Wobei Elvira es eigentlich auch ganz schön fand. Auf den Gräbern standen immer frische Blumen, überall konnte man sich auf friedlichen Holzbänken unter einen Baum setzen, in die Ferne schauen oder die Namen auf den Grabsteinen lesen. „Hermann“, „Joseph“, „Katharina“, „Maria“, alles schöne Namen. Elvira stand da nicht. Im Herbst, kurz vor Allerheiligen, freuten die Leute sich immer, wenn sie ihnen half, die Blumen aus den Autos zu den Gräbern zu tragen, oder die Säcke mit der frischen Blumenerde.

Da kam eine Frau vom Friedhof, riss Elvira aus ihren Gedanken, indem sie das schwarze Eisentor öffnete. Das Tor quietschte laut, wenn man es bewegte. Elvira bekam davon immer eine Gänsehaut. Die Frau war schon älter, ihre grauen, von weißen Fäden durchzogenen Haare waren zu einem Knoten gebunden, aus dem sich etliche Strähnen gelöst hatten und wie vom Tau benetzte Spinnweben lose um den alten Kopf wehten. Sie trug eine schwarze Wollweste, bei diesem Wetter. Die musste ja schwitzen wie verrückt. Zu der Weste trug sie einen grauen Wollrock und eine graue Strumpfhose. Die Füße steckten in Ökosandalen, aber schön gewärmt von einem roten Wollstrumpf rechts und einem grünen links.

„Mann, dass die keinen Hitzschlag kriegt!“ Elvira schüttelte den Kopf.

„Ah, da bist du ja Anatol. Komm, wir gehen nach Hause. Gleich gibt es ein Gewitter.“

Das erste Grollen war tatsächlich schon zu hören.

Der Junge neben Elvira schaute in eine andere Richtung. Dann sprang er auf.

„Ja ja. Dann eben nicht Luca. Eben Anatol.“ Er kickte wütend einen Kieselstein auf die Straße.

Zuerst verstand Elvira kein Wort. Dann musste sie so lachen, dass sie beinahe den Kaugummi verschluckte.

„Macht nichts“, kicherte sie nach einer Weile, als sie wieder Luft bekam. „Macht echt nichts. Ich heiße auch nicht Anna.“ Erstaunt schaute Anatol sie an.

„Ja, wie heißt du denn dann?“

„Das, mein lieber Anatol“ - Elvira sprach den Namen langsam aus, sie musste ihn auf der Zunge zergehen lassen - „das musst du herausfinden. Du hast drei Tage Zeit. Jeden Tag kannst du mich fragen, wie ich heiße“. Elvira schaute Anatol an.

„Das mach ich“, sagte er. „Und was krieg ich, wenn ich deinen Namen herausfinde?“

„Das muss ich mir noch überlegen,“ und dann fiel Elvira noch etwas ein:

„Du darfst aber niemanden fragen, wie ich heiße. Du musst es alleine herausfinden.“

„Ist gut, bis morgen“, schnell lief Anatol zu seiner Oma, die schon vorgegangen war.

Eine Einladung

Das Gewitter kam über alle. Laut und heftig. Telefonanschlüsse funktionierten nicht mehr, eine Zeit lang fiel der Strom aus. Hell und deutlich waren die Blitze vor den dunklen Wolken zu sehen. Elvira saß auf der Couch und schaute aus dem Fenster. Immer wieder zuckten die Blitze alles in ein milchig gelbes Licht. Deutlich konnte sie das Dach des neuen Altenheims sehen, das mitten im Dorf auf dem ehemaligen Dorfplatz gebaut worden war. Direkt darüber zuckten die Blitze.

„Es sieht aus, als würde jemand etwas in den Himmel schreiben. Etwas, das wir nicht lesen können, eine fremde Sprache, die niemand versteht, außer dem, der sie schreibt“, dachte sie.

Sie sagte es nicht laut. Ihre Familie dachte oft genug, dass sie spinnen würde. Da sah sie Bella durch den Garten flitzen. Nur schnell ins Trockene. Bella war die Hündin ihrer Nachbarn und büchste ständig aus. Aber jetzt, kurz bevor der Himmel seine Schleusen öffnete, wollte auch sie schnell nach Hause. So dumm war sie gar nicht, diese Bella.

Am nächsten Tag war es deutlich kühler. Der Wind blies so frisch, es war fast wie am Meer. Elvira saß wieder auf ihrer Bank. Sie wartete auf Anatol. Da kam Frau Schafskopf vorbei, ging wie so oft auf den Friedhof. Elvira kannte so ziemlich alle alten Leute hier, die meisten von ihnen gingen regelmäßig zu den Gräbern. Und Elvira saß oft auf der Bank. Anatols Oma aber hatte sie noch nie vorher gesehen. Die wäre ihr bestimmt aufgefallen.

Frau Schafskopf hieß eigentlich Engel. Aber sie trug eine Perücke mit so dichten Löckchen, dass es aussah, als hätte sie ein Schaffell auf dem Kopf.

„Merkwürdig, wie manche Leute sich verunstalten“, dachte Elvira. Aber vielleicht hatten Engel ja auch so Löckchen auf dem Kopf. Frau Schafskopf war nett, blieb immer stehen und unterhielt sich mit ihr. Genauso, als wäre sie schon erwachsen. Und wenn Mama an Frau Schafskopfs Haus vorbeiging, lud sie sie immer zu einem Eierlikör ein. Man konnte das Haus von Elviras Bank aus sehen, da hinten an der Ecke stand es. Elvira hatte auch einmal den Eierlikör probiert und es hatte lecker geschmeckt.

 

„Obwohl Eierlikör ja echt aus der Mode gekommen ist“, fand Mama.

„Ja, genauso wie der Name Elvira“, hatte sie damals noch gedacht.

Frau Schafskopf sah Elvira nicht. Sie war eine große Frau, bestimmt ein Meter und achtzig. Man sah nicht direkt, dass sie so groß war, sie ging ein wenig gebückt. Den Kopf hielt sie jedoch ganz gerade, wahrscheinlich, damit sie besser sehen konnte. Ein Bein zog sie etwas nach, so, als bereite es ihr Schmerzen, wenn sie es bewegte. An ihrem Arm hing eine große braune Tasche. Da waren auf jeden Fall Grablichter drin in der Tasche, das wusste Elvira. Denn darum gingen die Menschen auf den Friedhof, um zu beten, die Blumen zu erneuern und eine frische Kerze anzuzünden. Sie stand oft abends oben am Fenster des Badezimmers und blickte auf die vielen leuchtenden Lichter.

Elvira wusste aber, dass bestimmt auch noch Bonbons oder Schokolade in der Tasche waren. Immer, wenn sie früher Frau Schafskopf gesehen hatte, war sie zu ihr gelaufen und wurde mit Bonbons und Schokolade belohnt. Aber jetzt war eine andere Zeit. Nach den Sommerferien würde sie in die sechste Klasse kommen, da war man zu alt, um für ein Stück Schokolade zu betteln wie ein Hund.

„Wilhelma?“

Elvira stockte der Atem. Anatol stand neben ihr, blickte erwartungsvoll. Schöne grüne Augen hatte er.

„Wie kommst du denn darauf?“

„Ha, hab ich doch gewusst, dass ich richtig liege“, Anatol sprang herum wie Rumpelstilzchen.

„Nein, nein. Aber fast. Meine Schwester heißt so.“

„Och, schade.“ Anatol setzte sich neben sie.

„Gestern war ich mit meiner Oma nach dem Friedhof noch schnell etwas einkaufen. Wir haben es gerade noch so geschafft, vor dem Wolkenbruch nach Hause zu kommen. Im Geschäft sprachen einige Leute über eine Wilhelma. Ich dachte, dass muss er sein, der Name, den ich suche.“

„Na so was.“ Elvira staunte.

„Was reden denn die Leute über uns im Geschäft?“

„Keine Ahnung“, Anatol zuckte die Schultern. „Ich war so mit dem Namen beschäftigt, dass ich weiter nicht zugehört hab. Aber nächstes Mal pass ich besser auf, versprochen.“

Anatol grinste.

„Wirklich ein blöder Name, Wilhelma. Deine Eltern müssen ganz schön bescheuert sein.“

„Ich hab auch noch einen Bruder. Eberhard.“

Elvira verschränkte die Arme vor der Brust und schaute aus zusammengekniffenen Augen auf Anatol.

Der lachte. Und dann sprudelten die Namen nur so aus ihm heraus:

„Arabella.“

Elvira schüttelte den Kopf.

„Elsa, Ella, Liselotte oder Frieda. Das sind die Kuhnamen, die mir eingefallen sind.“

Kopfschütteln.

„Esmeralda, Kunigunde, Clothilde, Feodora, Fantasia, Edeltrude, Genoveva,

Immer wieder nur Kopfschütteln.

Und am nächsten Tag ging es weiter:

„Ewaldine, Josefine, Ottomine, Hansine, Augustine,

„Warum sagst du dauernd Jungennamen und hängst ein „ine“ dran?“, wollte Elvira wissen.

„Na, wegen Wilhelma. Ich dachte, vielleicht hatten deine Eltern nur Ideen für Jungs.“

Die Idee war gut. Aber nicht erfolgreich.

„Rosamunde“, „Isolde“, „Cosima“.

Elvira schüttelte den Kopf. Anatol nahm einen zusammengefalteten Zettel aus seiner Hosentasche und las weiter:

„Rosalia, Ariane – der ist übrigens schön, finde ich. Anneliese, Gretchen, Fuchsia, Alraune.“

Nur Kopfschütteln.

„Biest, blöde Kuh, Schaf, Häschen, Sonnenschein, Mondschön.“

Elvira hielt sich den Bauch vor Lachen.

„Na, euch geht’s gut.“, Frau Schafskopf kam vorbei.

„Wer bist denn du? Dich habe ich hier noch nie gesehen.“ Frau Schafskopf musterte Anatol neugierig. Er erklärte ihr geduldig, wer er war.

„Deine Oma, die kenne ich“, nickte Frau Schafskopf. „Wir waren zusammen in der Schule.“

Sich Frau Schafskopf in einer Schule vorzustellen, das fiel Elvira schwer.

Aber jetzt öffnete sie ihre große braune Tasche und entnahm ihr zwei Riegel Schokolade. Sie humpelte auf die Kinder zu.

„Am Donnerstag habe ich Namenstag. Kommt doch vorbei, ihr beiden. Da könnt ihr meine Gäste ein bisschen aufmuntern.“

Anatol griff begeistert nach der Schokolade. Wenn er nicht zu alt dafür war, er sah ein wenig älter aus als sie, dachte Elvira, dann durfte sie auch.

„Gibt`s auch Eierlikör?“, fragte Elvira, während sie ein Stückchen Schokolade abbrach. Anatol schaute sie erstaunt an. Sein Riegel war schon fast leer.

„Ja natürlich, das weißt Du doch, den gibt es immer bei mir. Auch andere Leckereien. Was ihr wollt.“

Elvira und Anatol nickten.

„Es wäre schön, wenn ihr kommen würdet. Ich würde mich wirklich freuen.“

Ganz helle und wache Augen hatte Frau Schafskopf. Sie sahen viel jünger aus als der Rest. Elvira wunderte sich, dass ihr das noch nie aufgefallen war.

„Du warst doch schon manchmal bei mir“, sagte die alte Frau dann zu ihr, so, als wollte sie sie daran erinnern, für den Fall, dass sie vielleicht nicht zu Fremden in die Wohnung gehen durfte.

„Was ist denn ein Namenstag?“ Anatol knüllte das Papier des Schokoriegels zusammen und steckte es in seine Hosentasche.

Frau Schafskopf wunderte sich.

„Man feiert seinen Namen. Das ist doch etwas ganz Besonderes. Geburtstag, den hat doch jede Kuh.“

„Wie kann man denn auf die blöde Idee kommen, seinen Namen zu feiern?“, brummte Anatol und Elvira flüsterte gleichzeitig:

„Ich habe einen Namen wie eine Kuh“.

„Ist gut. Wir kommen“, rief Elvira laut. Anatol nickte.

Frau Schafskopf ging langsam weiter. Leicht gebückt setzte sie vorsichtig einen Fuß nach dem anderen auf. Dann drehte sie sich noch einmal um.

„Und nicht vergessen“, rief sie. „So um drei.“

Eine Flaschenpost

„Wer war das?“, fragte Anatol.

„Frau Schafskopf, sie wohnt da drüben“, Elvira zeigte auf Frau Schafskopfs Haus.

„Komischer Name, aber er passt zu ihr“, nickte Anatol.

„Deshalb hat sie ihn ja. Eigentlich heißt sie Engel.“

Anatol lachte.

„Ich muss jetzt gehen. Morgen schaff` ich es, pass' nur auf.“

Er lief davon.

Am nächsten Morgen klingelte Anatol schon ziemlich früh an Elviras Haustür. Ihre Mutter öffnete im Schlafanzug. Anatol stand vor ihr mit einem dicken Stock in der Hand.

„Hallo, ich bin Anatol. Ich möchte gerne zu ihrer Tochter. Aber bitte, verraten sie mir nicht ihren Namen.“

„Meinen Namen?“ Elviras Mutter blinzelte verblüfft.

„Nein, nein, den ihrer Tochter.“

„Warum soll ich dir den Namen meiner Tochter nicht sagen? Außerdem habe ich zwei Töchter.“

„Den einen Namen kenne ich. Wilhelma. Den anderen muss ich noch erraten.“

„Ach so. Aha. Na, dann warte mal.“

Elviras Mutter drehte sich in den Hausflur hinein und rief:

„Tochter, Besuch für dich.“

Elviras Mutter war eine ziemlich schöne Person, ein „Männertraum“, so sagten die Leute. Lange schwarze Haare und groß und schlank war sie. Selbst im Schlafanzug sah sie ziemlich atemberaubend aus. Warum Sabine ausgerechnet diesen unscheinbaren Horst geheiratet hatte – auch das wusste Gott allein. So redeten die Leute.

„Soll hochkommen“, hörte man Elviras Stimme.

„Na dann, Treppe hoch und links junger Mann, ich hoffe, du hast mit dem Stock nichts Schlimmeres vor“, Elviras Mutter trat zur Seite.

Anatol wurde rot.

„Nein, ganz bestimmt nicht“.

Elvira lag noch im Bett. Unter der Bettdecke las sie mit einer Taschenlampe in der Hand einen dicken Schmöker. Sie hob die Bettdecke ein wenig hoch, so dass Anatol sie sehen konnte.

„Die Schatzinsel“, las Anatol. Er wunderte sich. Elvira war schon vollkommen fertig angezogen.

„Es ist doch schon ganz hell, wozu brauchst du eine Taschenlampe?“

„Ich lese lieber im Dunklen.“

„Aha.“ Anatol schaute sich um. Für das Zimmer eines Mädchens sah es hier ganz ordentlich aus.

Wenig Schnickschnack, kein Mädchenkram, ein Schreibtisch, Bett und Schrank und viele Bücher. Auch für eine Couch war noch Platz.

„Warum bist du heute so früh?“, fragte Elvira und stand auf.

„Wir sollten Frau Engel etwas schenken, denke ich. Außerdem will ich endlich deinen Namen wissen.“

„Ah.“ Elvira stand auf, glättete die Bettdecke und legte noch eine Tagesdecke auf das Bett. Dann setzte sie sich hin und klopfte einladend neben sich.

„Warum sagst du Frau Engel?“

„Ich habe nachgedacht. Schafskopf passt zwar, aber Engel passt noch besser.“

„Na ja, wenn du meinst“, Elvira schaute Anatol an.

Dann blickte sie aus dem Fenster.

„Möchtest du nicht manchmal ganz woanders sein, dort, wo dich niemand kennt, oder noch besser, dort, wo niemand außer dir ist?“

Anatol setzte sich, den Stock hielt er mit seinen Knien fest.

„Nein“, sagte er bestimmt und schüttelte den Kopf.

„Auf gar keinen Fall. Ich bin lieber da, wo mich jemand kennt.“

Elvira sagte längere Zeit nichts.

„Vielleicht eine Flaschenpost.“

„Was?“ Anatol schaute Elvira verwirrt an.

„Na, das Geschenk für Frau Schafskopf.“

„Ich finde Engel schöner als Schafskopf.“ Anatol drehte den Stock mit seinen Händen.

„Ja und Luca schöner als Anatol.“ Elvira lachte. „Aber dann sag ich ab jetzt auch Engel.“

Anatol nickte.

„Ich habe mir überlegt, dass wir ihr einen Wanderstock schenken. Da kann sie sich dann draufstützen. Ich habe hier den Stock im Garten meiner Oma gefunden. Wenn wir die Rinde abschälen und ihn vielleicht bemalen, sieht er bestimmt schön aus.“

Anatol wedelte mit dem Stock vor Elviras Nase herum.

„Ein Taschenmesser hab ich auch mitgebracht.“

Er griff in seine Hosentasche und zeigte Elvira das Messer.

„Ist gut“, Elvira nickte. „Und eine Flaschenpost.“

„Eine Flaschenpost.“ Anatol dachte nach.

„Das ist doch eine Flasche mit einem Brief drin, oder?“

„Ja und auf dem Brief ist eine Schatzkarte oder ein Testament. Oder ein Hilferuf. Irgendetwas, das so wichtig ist, dass die anderen es erfahren müssen, bevor man stirbt.“

Anatol wunderte sich.

„Aber du stirbst doch nicht?“

Elvira zuckte die Achseln.

„Nein, aber die Flaschenpost ist ja auch für Frau Schafskopf, …, ich meine natürlich Engel“, flüsterte sie.

Sie riss ein Blatt von einem Zeichenblock ab und malte eine Schatzkarte darauf. Flink huschten ihre Hände über das Papier, strichelten hier und dort, malten aus, beschrifteten. Anatol staunte. Er selbst konnte nicht besonders gut malen.

„Weißt du denn, wo ein Schatz versteckt ist?“, fragte er.

„Nein, eigentlich nicht. Aber vielleicht findet sie ja trotzdem einen.“

Bäume und Sträucher zeichnete Elvira auf das Blatt, die Himmelsrichtungen, einen gestrichelten Weg und ab und zu ein Kreuz. Sie malte alles bunt aus. Manchmal kniff sie die Augen zusammen und veränderte etwas, zeichnete einen Totenkopf, noch einen Strauch und einmal eine schöne große Blume. Dann rollte sie das Blatt zusammen und band einen Bindfaden darum.

Sie schien genau zu wissen, was sie tat. Aus dem Keller holte sie eine schöne leere Flasche, steckte die Schatzkarte hinein und wollte gerade einen Korken auf den Flaschenhals stecken.

„Warte“, sagte da Anatol.

„Ich finde, wir sollen noch etwas hineintun. So dass Frau Engel mehr Auswahl hat. Vielleicht will sie ja gar keinen Schatz suchen.“

Elvira nickte.

Anatol riss ein weiteres Blatt von Elviras Zeichenblock.

„Was ich schon immer sagen wollte“, schrieb er langsam und ordentlich darauf.

„Das ist gut.“ Elvira freute sich. Sie rollte Anatols Blatt genauso zusammen wie ihre Schatzkarte und steckte es ebenfalls in die Flasche.

Auf ein drittes Blatt schrieb sie in kleinen Druckbuchstaben um den ganzen Rand des Blattes herum mehrmals 'Hilfe', immer mit einem kleinen Stern zwischen den Wörtern.

„Sieht prima aus“, Anatol nickte zufrieden.

„Damit kann man was anfangen.“

Und er rollte das dritte Blatt zusammen, band den Bindfaden darum und steckte es zu den anderen beiden Blättern in die Flasche. Elvira schrieb mit einem wasserfesten Stift „Flaschenpost“ auf das Glas und stopfte den Korken ganz fest in den Flaschenhals.

 

Sie schaute Anatol an.

„Er soll ja schließlich halten.“

Elvira

Anatol klappte sein Messer auf. Er begann, vom Stock die Rinde abzuschälen.

„Rose, Hyazinthe, Tulpe, Flieder, Azalee, Kastanie, Tanne, Hortensie?“

„Was meinst du? Sollen wir auch noch Blumen schenken?“

„Nein, ich rate weiter deinen Namen. Heute noch.“

„Ja stimmt. Aber er war immer noch nicht dabei.“

Elvira lachte. Sie freute sich, dass Anatol da war. Draußen schien die Sonne und noch fast sechs Wochen Ferien lagen vor ihr. Das Leben schien gar nicht so schlecht zu sein.

„Was krieg' ich denn, wenn ich ihn errate?“

Einen kurzen Moment musste Elvira über Anatols Frage nachdenken:

„Du hast ihn ja noch nicht erraten.“

„Stimmt, aber vielleicht spornt der Preis mich ja an, mich richtig anzustrengen.“

Kleine und große Rindenstückchen fielen wie Haarlocken auf den Boden von Elviras Zimmer.

„Na ja, ich hab mir gedacht, wenn du meinen Namen errätst, darfst du dir etwas Schönes für mich ausdenken. Wenn nicht, denke ich mir etwas für dich aus.“

Anatol schaute sie an.

„Ich glaube, du meinst anders herum“, sagte er nach einer Weile. Er schnitzte nun nicht mehr.

„So ist es doch viel logischer: Wenn ich deinen Namen errate, wenn ich gewinne, musst du dir eine Überraschung für mich ausdenken. Und wenn ich es nicht schaffe, muss ich dich überraschen.“

„Nein, eigentlich meine ich es nicht so. Ich finde es immer viel schöner, wenn ich mir etwas für andere ausdenken darf, als überrascht zu werden. Aber von mir aus überrasche ich dich, egal, ob du meinen Namen errätst oder nicht.“

Anatol dachte weiter nach. Dabei wurde er ganz still und auf seiner Stirn erschien eine kleine Falte.

„Nein, das ist doof. Dann ist es ja egal, ob ich deinen Namen errate.“

Er schaute Elvira an.

„Wenn ich deinen Namen errate, denke ich mir eine Überraschung aus, die mir auch Spaß macht.“

Er nickte entschlossen.

„Dann haben wir beide etwas davon. Oder was meinst Du?“

„Wenn, ja wenn“, Elvira schaute Anatol an, als wolle sie ihn hypnotisieren. Dann stand sie auf.

„Komm wir gehen aber lieber auf den Balkon. Hier drin machst du mir zuviel Sauerei.“

„Du bist wohl ziemlich ordentlich“, Anatol klappte sein Messer zusammen und ging hinter Elvira aus ihrem Zimmer direkt auf den Balkon. Er war schön groß, mit vielen Pflanzen in roten Terrakottatöpfen drauf und mehreren Korbstühlen auf Holzplanken.

„Um die Pflanzen kümmere ich mich“, sagte Elvira stolz.

„Der Balkon ist mein Reich.“

Sie setzten sich auf die Korbstühle und Anatol riet das ganze Alphabet durch.

„Adelaide, Brunhilde, Cäcilia, Dominika,“

- jetzt horchte Elvira genau hin, denn jetzt kam der Buchstabe „E“ -

„Edeltraud,“ , nein, nicht getroffen, sie lehnte sich wieder gemütlich zurück in ihren Stuhl,

„Fabiola, Griseldis, Hedwig, Irmgard, Jolanda, Kunigunde, Ludovika, Modesta, Nunzia, Odette, Philomena, Quatschsuse, Rosetta, Sigrun, Tusnelda, Uschi, Viviane, Wiltrud, Xanthippe, Yolanthe, Zenta.“

Elvira schüttelte den Kopf und kicherte.

„Mann, bin ich froh, dass meine Eltern dich nicht gefragt haben, als sie mir einen Namen aussuchten. Nach dem, was dir so alles einfällt, finde ich ihn heute direkt schön.“

Und dann nannte sie ihren Namen. Anatol schien fast ein wenig enttäuscht.

„Kennst du die Geschichte von Lohengrin? Hat mein Papa mir mal erzählt. Da kommt ein schöner Ritter auf einem Schwan herangeschwommen, die edle Frau, Elsa heißt sie, verliebt sich sofort, er auch, und sie werden ein Paar. Aber niemals darf sie fragen, wie der schöne Mann heißt. Sonst muss er sie verlassen. Sie hält das nicht aus und fragt natürlich. Und tatsächlich schwimmt er dann wieder weg, auf seinem Schwan.“

Anatol schaute Elvira mit offenem Mund an, wieder hatte er aufgehört mit dem Messer die Rinde zu schälen.

„Willst du mich verkohlen?“

„Nein, das stimmt. Vielleicht willst du mich jetzt auch verlassen, wo du meinen Namen weißt.“

Anatol schüttelte den Kopf. Sein Mund stand immer noch offen.

„Also, ich will nicht. Es sei denn, ich muss.“

„Nein, musst du nicht.“

Elvira stand auf und ging zwei Gläser Limonade aus der Küche holen. Als sie zurückkam, war Anatol am Schnitzen. Er ritzte kleine Engelchen in den blanken Stock, er konnte das wirklich gut.

„Na, da sind wir beide heute ja richtige Künstler.“ Sie gab Anatol die Limonade.

„So, der Stock ist prima. Und wenn sie ihn nicht zum Aufstützen braucht, ist er auch zum Anschauen schön.“

Anatol war sehr zufrieden.

„Da hat Frau Engel aber Glück, dass sie uns eingeladen hat.“

Bei Elvira ist eindeutig zu wenig los

Er trank die Limonade und schaute sich um.

Unten im Garten stand Elviras Mutter und hängte Wäsche auf. Sie schaute nach oben.

„Na, wie ist es, Anatol, möchtest du mit uns zu Mittag essen?“, rief sie zu den Kindern hoch.

„Mann, deine Mama könnte glatt eine Schauspielerin sein“, sagte er zu Elvira.

„Ja, sehr gern“, rief er dann lauter nach unten in den Garten.

„Ja, das sagen alle. Aber zum Essen bleiben, davon rate ich dir ab“, brummte Elvira.

„Warum denn das? Willst du nicht, dass ich bleibe?“ Anatol blickte immer noch hingerissen nach unten.

„Doch klar, ich dachte, das hätten wir geklärt, aber meine Mama kann nicht kochen.“

Elvira lehnte die Arme auf die Balkonbrüstung und legte ihren Kopf darauf ab. Dabei sah sie ihrer Mama zu. Wäsche aufhängen konnte sie auch nicht. Papas Hemd hing nur an einer Schulter. Die Socken waren völlig durcheinander geraten, dazwischen hatte Mama eine Jeans an einem Hosenbein und am Bund aufgehängt. Der Wind blies hindurch und die Wäschestücke zuckten wie die Tänzer im grellen Licht einer Disko. Bei der Nachbarin, Frau Wiesel, hing alles in Reih' und Glied, Socke neben Socke, Unterhose neben dem passenden Unterhemd, sogar die Handtücher waren der Größe nach sortiert. Das einzig Chaotische bei den Wiesels war ihre Hündin, Bella. Die raste immer wie wild durch alle Gärten und kläffte jeden an. Besonders Fahrradfahrer. Auch jetzt schnüffelte Bella am Gartenzaun der Wiesels herum und suchte einen Durchschlupf. Sie wollte wohl wieder mal ausbüchsen.

„Mama ist eben keine Hausfrau“, murmelte Elvira.

„Was macht deine Mama denn?“

„Sie ist Automechanikerin“.

Und wieder stand Anatols Mund sperrangelweit offen. Wahrscheinlich stellt er sich gerade Elviras Mutter in der Autowerkstatt vor, mit ihren langen Haaren, einer Latzhose und ölverschmierten Händen, dachte Elvira. Männern gefielen solche Vorstellungen, wenigstens sagte Elviras Papa das immer. Auch als Erklärung dafür, dass in der Autowerkstatt, in der Mama arbeitete, ständig Männer auftauchten und von Mama bedient werden wollten, selbst wenn es an ihrem Auto nichts zu reparieren gab.

„Hast du auch einen Papa?“, fragte Anatol.

„Ja, der ist Hausmann. Und Fotograf.“

„Mann, fotografiert der auch deine Mama?“

Elvira lachte. Es machte ihr nichts aus, dass alle ihre Mama so schön fanden. Wahrscheinlich war sie es ja auch.

„Mama und Papa haben sich so kennengelernt, vor zwanzig Jahren. Papa sollte damals Autos für einen Kalender fotografieren. Heute kann er sich aussuchen, was er fotografiert. Und Autos sind da nicht mehr dabei. Unsere Autonärrin ist eindeutig Mama. Aber komm, wir gehen mal in die Küche und schauen uns die Bescherung an.“

Es gab Milchreis mit Kirschen.

„Bei so einem heißen Wetter soll man nichts Schweres essen“, sagte Elviras Mama zu Anatol und zwinkerte ihm zu.

Der Milchreis war angebrannt, „aber das macht nichts. Das verleiht dem Reis so eine leicht nussige Note, das schmeckt doch lecker, oder nicht?“ Elviras Mama sah Anatol mit großen blauen Augen an. Wahrscheinlich würde er unter diesen Umständen auch rostige Nägel lecker finden, dachte Elvira.

„Zum Glück ist Papa gerade angeln. Da gibt es heute Abend frischen Fisch“, murmelte Elvira.

„Es ist so schön, dass du da bist, Anatol“, trällerte Sabine.

„Bei Elvira ist eindeutig zu wenig los. Immer hockt sie unter ihrer Decke und liest. Ich mache mir manchmal richtig Sorgen.“ Und mit sorgenvollem Gesicht schaute sie ihre Tochter an.