Manchmal ist weiß ein Zauberwort

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„Kummerfalten lassen einen früher alt aussehen, Mama. Das weißt du doch. Und du weißt auch, dass du dir um mich keinen Kummer machen musst.“ Elvira lächelte ihre Mama an. Anatol fand, dass seine neue Freundin dennoch traurig aussah.

Da kam Horst herein.

„Hallihallo, ich hab einen super Fang gemacht“, rief er schon an der Haustür.

„Oh wir haben Besuch. Hallo, ich bin der Horst“, ein ziemlich starker Fischgeruch schwappte Anatol in die Nase. Aber er stand auf und schüttelte Horst die Hand.

„Anatol.“

Elviras Papa war einen halben Kopf kleiner als seine Frau. Unter seiner Anglerhose spannte sich ein kleines Bäuchlein.

„Du kannst heute Abend mit uns essen. Ich habe so viele Forellen gefangen, das schaffen wir allein nicht. Du bist bestimmt ein guter Esser.“

„Oh Schatz, so früh hab ich gar nicht mit dir gerechnet. Jetzt ist nichts mehr für dich übrig“, Elviras Mama stand besorgt auf.

Horst schaute in den Kochtopf auf dem Herd. Als er die ziemlich schwarze Masse sah, die dort auf dem Boden klumpte, lächelte er.

„Das macht gar nichts, ich belege mir ein Brot.“ Er küsste seine Frau, der Fischgeruch schien ihr nichts auszumachen.

„Na ja, sonst riecht sie ja auch nur Benzin. Hat vielleicht ihre Schleimhäute verätzt“, dachte Anatol.

„Ich bin übrigens die Sabine“, sagte da Elviras Mama.

„Hab ganz vergessen, mich dir vorzustellen.“

Später gingen sie zusammen in den Garten, unter einem großen Apfelbaum war es schön kühl. Das Gras war hoch gewachsen, Unkraut und Blumen wucherten darin. Der ganze Garten war zugewachsen, was sich hier durchsetzte, durfte wohl bleiben, „mythisch“, nannte Sabine ihn. Wilde Brombeeren wucherten um den Stamm des Apfelbaumes, Brennnesseln drückten gegen die Rosen. Irgendjemand, wahrscheinlich war es Horst, hatte den Garten einmal schön angelegt und ihn dann sich selbst überlassen. Große Steine versteckten sich unter hohen Gräsern, so dass Anatol aufpassen musste, dass er beim Gehen nicht stolperte. Hier musste man sich auskennen, aber zum Versteckspielen war er wunderbar geeignet. Zwischen zwei Bäumen hing versteckt eine Hängematte, ein schöner Platz, wenn man seine Ruhe haben wollte. Hinten in der Ecke stand ein rotes Gartenhaus, man sah es kaum, weil wilder Wein seine Holzplanken überwucherte.

Bella blickte über den Zaun und bellte und jaulte. Wahrscheinlich hatte sie Fernweh.

„Wie wär's Kleine? Wollen wir gleich das Zelt aufbauen? Das Wetter soll in den nächsten Tagen so schön bleiben.“

Horst strich über Elviras Haarpracht. Die Haare standen wild in alle Richtungen ab. Ganz anders als bei Sabine.

„Ist gut“, Elvira nickte.

Anatol kratzte sich am Bein, gerade hatte er sich an einer Brennnessel verbrannt. Er biss auf die Zähne und half, das Zelt aufzubauen. Das machte er ziemlich geschickt. Für das Gestänge schaute er kein einziges Mal in den Plan. Mit dem Hammer schlug er nicht einmal daneben.

„Hoffentlich liegt kein Stein unter der Plane“, überlegte er laut.

„Sonst tut es dir weh beim Schlafen.“

Elvira lachte.

„Wie bei der Prinzessin auf der Erbse.“

„Mann, Junge, du kannst das besser als ich.“ Horst nickte beeindruckt und Anatol freute sich.

„Dann macht ihr beiden das mal alleine weiter, und ich ruhe mich ein wenig aus.“

Elviras Papa legte sich auf einen Liegestuhl und schlief sofort ein. Angeln schien anstrengend zu sein.

Sabine warf in der Zwischenzeit einen Haufen Holzspäne in eine große feuerfeste Schale. Das Feuer brannte schnell, aber der Rauch zog zielstrebig zu der frischen Wäsche, die noch an der Leine hing.

Elvira seufzte und lief sofort los, um die Wäsche abzuhängen. Sie mochte es nicht, wenn ihre frisch gewaschenen Kleider rochen, als seien sie frisch geräuchert. Sabine ließ oft die Wäsche mehrere Tage an der Leine hängen oder im Trockner liegen, sie vergaß sie einfach. Erst, wenn jemand gar keine Unterwäsche oder Strümpfe mehr in seinem Schrank fand, fiel ihr wieder ein, dass da doch noch irgendwo frische Wäsche sein musste. Vielleicht war sie dann aber auch gerade wieder nass, weil es geregnet hatte. Sabine war es auf jeden Fall ziemlich egal, wie die Wäsche roch.

Elvira löste die Klammern von den Wäschestücken und legte die einzelnen Teile sorgfältig in einen Korb. Natürlich waren die meisten Socken Einzelstücke. Aber es war ja Sommer. Wer brauchte da schon Socken?

„Willst du nicht zu Hause anrufen und Bescheid sagen, wo du bist, Anatol?“

Sabine warf noch einen weiteren Holzscheit auf das Feuer.

Er winkte ab.

„Meine Oma hat kein Telefon. Sie weiß außerdem, wo ich bin.“

„Na so was. Dass es das noch gibt. Ein Mensch ohne Telefon. Aber bestimmt hat sie ein Handy.“ Elviras Mama wunderte sich.

Anatol lachte.

„Nein, ein Handy hat sie erst recht nicht. Wenn ich bei ihr bin, hat sie schon die totale Panik, meins könnte sie verseuchen.“

„Wo wohnt deine Oma denn?“

Sonst war Elviras Mama nicht so neugierig, aber die Oma von Anatol schien sie zu interessieren.

„Am Meierbach“, sagte Anatol.

„Ah dann“, jetzt war alles klar.

„Am Meierbach“, das war eine Ansammlung von Gartenhäusern mitten im Wald. Alle, die dort wohnten, hatten nach und nach hier und da etwas angebaut, so dass richtige kleine Wohnhäuser entstanden waren. Und alle, die dort wohnten, hatten nicht viel Interesse an anderen Menschen. Sie wollten in Ruhe gelassen werden. Einmal war Elvira dort mit Frau Wiesel und Bella spazieren gewesen. Jedes Haus stand hinter einem dicken Zaun, oft war auch noch Stacheldraht um den Zaun gewickelt. Und überall standen Schilder wie “Vorsicht, bissiger Hund“, „Achtung, Schießanlage“, „Betreten auf eigene Gefahr“. Selbst Bella war dort nicht ausgebüchst, sondern still und mit eingezogenem Schwanz neben ihnen her gegangen. Wenn es abends dunkel wurde, konnte man die Lichter aus den Häusern durch den Wald leuchten sehen, das war das einzige Lebenszeichen der Menschen, die dort wohnten.

Eine alte Frau alleine dort? Elvira dachte an Anatols Oma mit ihrer warmen Strickjacke und den verschiedenfarbigen Wollsocken. Zu gerne würde sie das Haus sehen, in dem sie wohnte und jetzt auch Anatol.

Elviras Eltern brieten die Fische über einem offenen Feuer, dabei wurde es dunkel und am Himmel glänzten unzählige Sterne.

Anatol erfuhr, dass Elviras Geschwister in einem Zeltlager auf einer Nordseeinsel waren.

„Frag doch deine Oma, ob du morgen hier übernachten darfst“, sagte Elvira beim Abschied. Anatol freute sich.

„Sie hat bestimmt nichts dagegen.“, rief er und lief davon. Das Angebot, dass Elviras Papa ihn nach Hause begleitete, hatte er abgelehnt.

„Gerne lasse ich ihn nicht so spät durch die Dunkelheit gehen“, murmelte Horst.

„Ach was“, sagte da Sabine. „Hier passiert doch nie etwas.“

Der Namenstag

Am nächsten Tag feierte Frau Engel ihren Namenstag. Die Kinder klingelten pünktlich um drei Uhr, aber niemand öffnete.

„Komm wir gehen mal ums Haus“, Anatol ging voran.

Er sah schön aus, wie immer. Zu einer schwarzen Jeans trug er sonst ein weißes, sauberes T-Shirt, heute aber, ganz dem Anlass entsprechend, ein weißes Hemd ohne die geringste Falte.

Elvira hatte so etwas befürchtet und sich, ganz gegen ihre Gewohnheit, auch einmal Gedanken um ihre Garderobe und ihr Aussehen gemacht. Aber als Sabine sie dann mit „Nanu, was ist denn mit dir los, kommt heute die Queen zu Besuch?“ begrüßt hatte, war der Ausflug in die Modewelt für sie schnell wieder beendet. Und deshalb trug auch Elvira heute das gleiche wie immer: Ein verwaschenes, von Wilhelma oder vielleicht sogar von Eberhard geerbtes T-Shirt, dazu ihre ausgetretenen Chucks und eine abgeschnittene Jeanshose.

Das Fest, die Party, der Gedenktag, oder wie man es immer auch nennen wollte, fand tatsächlich im Freien statt. Frau Engel hatte einen imposanten Garten. Vier weiße, traurig aussehende Statuen aus Stein, jede auf einem Sockel, beschützten ihn. Eine hatte ein Tuch locker über die Schulter geschwungen, zwei waren nackt, die vierte trug ein weißes, steinernes Kleid, aus dem Flügel wuchsen.

„Da hat man ja die ganze Zeit das Gefühl, als würde man beobachtet. Und hässlich sind sie auch“, murmelte Anatol.

Elvira betrachtete die Figuren genauer. Sie standen bestimmt schon lange dort, denn an manchen Stellen war der weiße Stein grau oder auch grün verfärbt. Zuerst sah es so aus, als ständen die Figuren willkürlich im Garten herum, aber bei genauerem Hinschauen bemerkte man, dass jede einen ihr zugewiesenen Platz hatte. Die eine nackte Figur, eine Frau, spendete einem großen Vogelbecken Schatten. Auf ihrer Hand und ihrer Schulter saßen weiße Vögel. Die Frau stand direkt neben der Terrasse und es war bestimmt schön, an einem ruhigen Abend den Vögeln beim Baden zuzuschauen.

Die andere nackte Figur, dieses Mal ein Mann, stand hinten in der linken Ecke des Gartens, er schaute in den Himmel, streckte auch eine Hand dorthin aus, als wolle er Wolken fangen oder sonst etwas Wunderbares aus der Luft schnappen.

Mitten auf der Wiese stand eine weiße Bank und hinter der die Frau mit den Flügeln.

Neben dem Gartentor, dort, wo jetzt auch Anatol und Elvira standen, begrüßte sie der zweite Mann, streckte ihnen seine geöffnete Hand entgegen. Sein Gesicht war freundlich, und so hässlich fand Elvira ihn gar nicht mehr, wenn sie ihn länger anschaute.

Es gab nicht viele Blumen in diesem Garten, aber Büsche, die zu einer Kugel oder einem Dreieck zugestutzt waren. Zwei sahen aus wie große grüne Vögel.

In der Mitte war ein großer Tisch festlich zur Tafel gedeckt, mit weißem Tischtuch, weißem Porzellan und weißen Kerzen. Um die Terrasse herum standen Laternen, sie sahen aus wie alte Straßenlaternen, Elvira hatte einmal einen englischen Krimi im Fernsehen gesehen, alles in schwarz-weiß, überall Nebel, der ganze Film spielte in der Nacht, nur die Straßenlaternen hatten einen Schimmer durch den Nebel geschickt. Die Laternen in Frau Engels Garten sahen genauso aus wie in dem Film, mit einer Ausnahme: Auch sie waren weiß, noch nie hatte Elvira vorher weiße Laternen gesehen. Der ganze Garten wirkte sehr gepflegt, aber auch künstlich. Hier wuchs nichts, was hier nicht wachsen sollte.

 

Frau Engel trug ein weites weißes Kleid.

Die anderen Gäste waren bestimmt siebzig Jahre oder älter. Es waren alles Frauen.

„Na sowas, hat Frau Engel nur Freundinnen? Wo sind denn die Männer?“

Anatol wollte wohl nicht so gerne der einzige „Mann“ sein. Elvira zuckte die Schultern.

„Bestimmt sind alle schon tot. Bei Frau Schafskopf, nein, natürlich Engel, weiß ich das genau. Ihr Mann ist vor einigen Jahren gestorben. Ich erinnere mich noch an den Rettungshubschrauber, der ihn mitgenommen hat. Von überall her kamen Kinder gelaufen. Aber man konnte ihm nicht mehr helfen.“

„Oh, Kinder, da seid ihr ja“, Frau Engel schien sich sehr zu freuen, sie strahlte über das ganze Gesicht und lief mit ausgestreckten Armen auf die Kinder zu. Ihre Freude war so groß, dass Anatol sich fragte, ob sie sich vielleicht gar nicht so sicher gewesen war, ob sie kommen würden. Frau Engel stellte sie ihren Freundinnen vor und so lernten Anatol und Elvira Josi, Hermine, Alwine und Gisela kennen.

„Na, da sind wir ja in guter Gesellschaft,“ brummte Anatol.

„Oh, sind das deine Enkelchen?“, fragte Josi.

„Oh nein, höchstens meine Engelchen“, Frau Engel lachte: „Das sind Anatol und Elvira“. Sie strahlte noch immer, stellte sich hinter die Kinder und legte jedem eine Hand auf den Kopf.

Anatol schaute Elvira an und verdrehte die Augen.

„Das hätten wir ihr verbieten sollen“, flüsterte er Elvira ins Ohr „Ich glaub`, ich sage jetzt wieder Schafskopf zu ihr.“

Elvira kicherte. Sie drehte ihren Kopf ein wenig zur Seite, die Hand von Frau Engel auf ihrem Kopf war ein komisches Gefühl. Fast, als wären Anatol und sie zwei Puppen, mit denen Frau Engel jetzt etwas vorführen wollte. Aber die alte Frau spürte wohl Elviras Bewegung, sie nahm ihre Hände weg und umarmte die beiden einen kurzen Augenblick. Dabei fiel Elvira auf, dass Frau Engel angenehm roch.

„So schöne Namen hört man ja heute überhaupt nicht mehr“, rief Hermine entzückt. Gisela klatschte sogar in die Hände. Anatol machte eine Handbewegung, als wolle er sich an die Stirn tippen. Vielleicht strich er aber auch nur ein paar unsichtbare Haare zurück.

„Und ich bin die Glori“, sagte Frau Engel da.

„Nennt mich auch ruhig so. Ich bin aus dem Alter raus, wo man mich siezen muss.“

„Glori?“, Anatol schaute regelrecht bestürzt.

„Kommt von Gloriosa“, sagte Frau Engel.

„Gloriosa Engel, so heiße ich. Eigentlich doch ganz schön, oder? Früher, als ich noch ein junges Mädchen war, hieß ich Gloriosa Meier. Aber mit meiner Heirat habe ich das verbessert, finde ich. Besser Gloriosa Engel als Gloriosa Meier.“

Sie führte die beiden Engelchen zum Kuchenbuffet, das auf der Terrasse unter einer gelb-weiß gestreiften Markise aufgebaut war. Neben jedem Kuchen lag ein weißer Zettel, auf dem der Name stand. So wurden die Leckereien offiziell vorgestellt: „Schwarzwälder Kirschtorte“, „Frankfurter Kranz“, „Himbeertraum“, „Herrentorte“, „Kalter Hund“ oder „Donauwelle“ stand dort in schönster Handschrift. Einen „Hermann“ gab es auch. „Hermann“ war der schlichteste Kuchen von allen, nur mit ein wenig Puderzucker bestreut sah er einsam aus zwischen all den prächtigen Obst- und Sahnetorten. Anatol dachte, dass nicht nur Menschen sich mit merkwürdigen Namen herumplagen mussten. Was hätte es schon für einen Unterschied gemacht, wenn die Kuchen „Anatolschnitte“, „Elviratraum“, „glorioses Gedicht“ oder „Engeltorte“ heißen würden?

„Oh, was für ein herrlicher Tag. Mit solch herrlichen Menschen unter diesem strahlenden Himmel.“ Das war Gisela. Elvira kannte sie, denn Gisela ging auch oft zum Friedhof. Immer, wenn sie das Mädchen sah, rief die ältere Frau ihr einen besonderen Gruß zu: „Sei gesegnet, du gutes Kind“ oder „Wie schön, der Kindheit so früh am Tag zu begegnen, das kann heute alles nur gut werden.“

Gisela war immer fröhlich.

„Bedient euch Kinder. Esst, soviel ihr könnt. Wie immer ist viel zuviel da.“

Glori ging zum Tisch und nahm zwei Teller von der festlichen Tafel.

„Aber du hast unsere Geschenke doch noch gar nicht“.

Anatol überreichte den Stock und Glori stellte die Teller wieder ab.

„Selbstgemacht“. Er war sehr stolz, das konnte man sehen. Es war aber auch ein schöner Stock und Glori wurde ganz still, als sie ihn sah.

„Der ist aber schön. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so etwas Schönes geschenkt bekommen habe.“

„Das stimmt Glori. Uns fällt ja auch nix anderes ein als Seidenstrümpfe oder Franz-Branntwein. Ich lade euch schon jetzt zu meinem Geburtstag ein, Kinderchen. Ist allerdings erst im Winter.“ Josi sagte das. Sie hatte sich gerade drei Stück Kuchen auf ihren Teller geladen: „Damit ich nicht so oft aufstehen muss.“

„Wir haben noch ein Geschenk, eine Flaschenpost.“

Elvira streckte Glori die Flasche entgegen.

„Sie sieht von außen ein bisschen unscheinbar aus, aber innen drin sind schöne Sachen, zum Beispiel eine Schatzkarte.“

„Ja und ein Brief, den Sie schicken können, wenn sie mal Hilfe brauchen. Und noch ein Brief.“

Anatol war über seine eigenen Geschenke richtig begeistert.

Elvira stupste ihn an: „Wir dürfen Frau Engel doch jetzt duzen.“

Anatol nickte.

Glori setzte sich und versuchte, die Flasche zu entkorken. Der Korken aber saß zu fest, sie hatte nicht genug Kraft.

Anatol musste helfen, aber auch ihm fiel es nicht leicht. Da nahm er sein Taschenmesser zu Hilfe, das er wohl immer in der Hosentasche trug. Er klappte den kleinen Korkenzieher auf und damit gelang es ihm, die Flasche zu öffnen.

„Du hast ganz schöne Mukkis“, sagte er zu Elvira.

„Na ja, reindrücken geht leichter als den Korken wieder herauszuziehen“, entschuldigte sie sich.

Glori studierte jedes Blatt der Flaschenpost ganz genau und zeigte alles ihren Freundinnen.

„Hilfe, Hilfe, Hilfe“, kicherte Gisela.

„'Was ich schon immer sagen wollte'. Ja, das ist mal eine Idee. Was wollte ich denn schon immer mal sagen?: Die Rechnungen sind viel zu hoch. Und das schicke ich dann dem Minister.“ Josi reichte den Zettel weiter an Alwine.

„Ne, ne. Da kannst du ruhig was Besseres aufschreiben. Wann kommt ihr mich mal wieder besuchen? Und das schickst du dann deinen Verwandten. Wann hat Glori zuletzt Besuch gehabt von ihrer Familie? Schon lange her.“

„Das geht dich nichts an, Alwine. Aber seine Lebensgeschichte aufschreiben, das könnte man.“

Hermine hatte jetzt alle drei Zettel bei sich versammelt.

„Einen Schatz finden, das würde ich gerne. Ob die Karte stimmt?“

Alle beugten sich über die Schatzkarte.

„Ach, ist auch egal. Auf jeden Fall ist sie so schön, könnte man glatt einrahmen und übers Bett hängen.“

„Passt auf, sonst werdet ihr von jedem hier zum Geburtstag oder Namenstag eingeladen“, sagte Alwine, nahm die Blätter aus Hermines Hand und rollte jedes wieder ordentlich zusammen, band den Faden darum und steckte alles wieder in die Flasche. Den Korken stopfte dann Elvira fest:„Er soll ja schließlich halten.“

Sie gab die Flasche Glori zurück.

„Als Kind, da habe ich eine richtige Schatztruhe gehabt.“ Die alte Frau sah sehr nachdenklich aus.

„Das ist so lange her, das kennt ihr alles nur aus Filmen und Büchern. Da war Krieg und es gab nicht viel. Das Leckerste, was es damals zu essen gab, das war eine Scheibe Brot, die meine Mutter mit Wasser anfeuchtete und dann Zucker darauf streute. Na ja, auf jeden Fall hatte ich da eine richtige Schatztruhe.“

Frau Engel stellte die Flaschenpost vorsichtig auf den kleinen Gartentisch, neben die Seidenstrümpfe, den Franzbranntwein, zwei Flaschen Eierlikör und mehrere Blumensträuße.

„Was war denn drin in der Schatztruhe?“, fragte Anatol.

Frau Engel blickte irritiert hoch, so, als wäre sie gerade erst aus einem Traum aufgewacht.

„Oh, Anatol, na so was. Lange habe ich schon nicht mehr an diese Truhe gedacht. Jahrelang.“

Sie schwieg einen Moment und schaute Anatol an.

„Eine Fotografie meines Vaters. Ganz klein nur, ich hatte sie meiner Mutter aus dem Gebetbuch stibitzt. Er war ja im Krieg“, sie seufzte, „er kam nicht mehr zurück.“

Sie dachte weiter nach.

„Eine Glasmurmel meiner besten Freundin. Sie hatte sie mir zum Abschied geschenkt. Sie war Jüdin und ihre Eltern hatten früh erkannt, dass Deutschland nicht mehr gut für sie war.“

Wiederum seufzte sie.

„Ach Glori, lass doch die alten Geschichten. Nicht jeder Schatz will wieder ausgegraben werden. Atlantis hat auch noch nie jemand gefunden.“

Josi schenkte den anderen gerade Kaffee ein.

„Meinst du wirklich?“ Alwine war sich da nicht so sicher: „Aber auf jeden Fall sind vergrabene Schätze geheimnisvoller als die ausgegrabenen.“

Und dann kam Bella angerast. Der erster Weg der Hündin, wenn sie ausbüchste, war immer der zu Frau Engel, denn hier im Garten tummelten sich viele Katzen. Und Bella liebte Katzen. Glori liebte auch Katzen, nur war sie leider dagegen allergisch. Auf keinen Fall durfte eine ihr Haus betreten, sonst bekam Frau Engel sofort einen Asthmaanfall, an dem sie wirklich ersticken konnte. Genau drei Mal hatte sie es ausprobiert. Es gab nichts daran zu rütteln. Aber daran, dass sie Katzen liebte, daran gab es auch nichts zu rütteln. Und so kaufte sie jeden Tag Unmengen an Katzenfutter und stellte voll gefüllte Näpfe überall in ihrem Garten auf. Ein Paradies für Katzen. Ein Paradies für Bella. Die Hündin fraß gern von dem Katzenfutter und danach jagte sie noch lieber die Katzen durch das Wohngebiet.

Glori konnte Bella nicht leiden. Und so probierte sie direkt den Engelstock der Kinder aus. Die Hündin dachte wohl, Glori wolle mit ihr spielen. Besonders die bunten Bänder, die so lustig flatterten, gefielen der Hündin augenscheinlich. Sie sprang hoch, wedelte mit dem Schwanz und versuchte die Bänder zu schnappen.

„Na wirst du wohl, du dummes Vieh“, Glori drohte mit dem Stock. Für die Hündin ein weiterer Ansporn zum Spiel.

Da griff Anatol beherzt die Hündin am Halsband.

„Ich weiß, wo sie wohnt, ich bringe sie nach Hause“, sagte er zu Glori.

Sie nickte erleichtert.

„Komm aber wieder!“, rief sie noch.

„Na klar, den Kuchen werde ich mir nicht entgehen lassen!“

Den hatte er sich dann wirklich reichlich verdient. Glori ließ es sich nicht nehmen, die Kinder zu bedienen.

„Ihr seid heute meine Ehrengäste.“

Das war keine leichte Aufgabe, immerhin gelang es Anatol, fünf Stück zu verdrücken. Und das ständige Aufstehen und Gehen fiel Glori nicht leicht. Als Anatol satt war, sah das Büfett immer noch ziemlich unberührt aus.

Kurze Zeit später stand Herr Wiesel mit einem herrlichen Rosenstrauß in Gloris Garten.

„Liebe, liebe Frau Engel. Es tut mir so leid, dass meine Bella ihre Festlichkeit gestört hat“, Herr Wiesel war ein sehr feierlicher Mensch, „aber ich hoffe doch, mit dieser kleinen Aufmerksamkeit wieder ein Lächeln auf ihre bezaubernden Lippen locken zu können.“

„Ja ja, schon gut“, brummte Glori.

Sie konnte ja schlecht gerade jetzt über Bella schimpfen. Die Rosen waren wirklich schön, sogar weiß.

„Nehmen Sie sich einen Teller und setzen Sie sich zu uns.“

Ein Lächeln erschien allerdings noch nicht auf ihren bezaubernden Lippen und bedienen musste Herr Wiesel sich selbst. Er war eine mächtige Erscheinung. Und da in seinem Bauch anscheinend viel Platz war, ließ er es sich nicht nehmen, von allen Kuchen ein Stück zu probieren.

„Frau Engel, eins köstlicher als das andere. Mein Arzt hat mir zwar eine kleine Diät verordnet, aber das habe ich doch gar nicht nötig.“ Er zwinkerte seinen Tischnachbarinnen zu. Diese nahmen's gelassen und nippten an ihren Likörgläschen. Anatol ging mit einer Flasche Himbeerwein und dem Eierlikör herum und füllte die Gläschen auf. Elvira brachte den Damen immer wieder frischen Kuchennachschub. Sie war froh, etwas tun zu können und nicht mehr herumsitzen zu müssen.

 

Die Älteren unterhielten sich über das neue Altenheim.

„Ich habe mir schon ein Apartment gekauft“, sagte Alwine.

„Da weiß ich doch, wo ich einmal bleiben werde, wenn ich alt bin.“

„Mich kriegen da keine zehn Pferde rein“, Glori klang sehr bestimmt.

„Heute will ich auch gar nicht davon reden. Ist mein Namenstag und nicht meine Beerdigung.“

„Apropos Beerdigung, wisst ihr, dass Martina Fischer gestorben ist? Noch ganz jung, keine fünfzig. Die Beerdigung ist morgen.“

„Ja ich weiß, habe mir den Termin schon fest notiert.“ Das sagte Gisela. Sie ging zu jeder Beerdigung, die hier im Dorf stattfand, egal, ob sie den Verstorbenen gekannt hatte oder nicht:„Schließlich lebt man ja zusammen. Und vor dem Herrn sind wir alle Geschwister.“

„Bist du schon einmal auf einer Beerdigung gewesen?“, wollte Elvira von Anatol wissen.

„Bei meiner anderen Oma“, nickte er. „Da war ich aber noch ziemlich klein. Sechs oder sieben. Ich weiß nur noch, dass alle so feierlich aussahen und ich die ganze Zeit das Gefühl hatte, als müsste ich lachen. Irgendwann war mir dann richtig schlecht, weil ich das Lachen dauernd runterschlucken musste. Und deshalb denke ich immer, wenn mir schlecht ist, an meine Oma. Komisch, oder?“

Elvira schaute Gloris Gäste an, wie sie da saßen, an dem weißen Tisch, zwischen den weißen Steinfiguren. Sie sahen vielleicht alt aus, mit vielen Falten, den meisten fiel es schwer, aus ihren Stühlen aufzustehen. Und trotzdem schienen sie gleichzeitig noch so jung zu sein, wie sie ausgelassen und fröhlich lachten, Kuchen aßen und an den Likörgläschen nippten. Am fröhlichsten war Gisela.

„Ich glaube, ich will jetzt nach Hause“, Elvira war traurig zumute, aber sie wusste nicht, warum.

„So ein schöner Tag“, sagte Glori, als sie die beiden Kinder durch ihren Garten auf die Straße begleitete. Gisela ging auch nach Hause, ihr Mann lag krank im Bett. Sie wollte ihn nicht so lange alleine lassen.

„Ihr habt mich mehr als reich beschenkt.“ Glori seufzte. „Es wäre schön, wenn jeder Tag ein bisschen so wie heute wäre.“

Und noch einmal seufzte sie.

„Jeder Tag ist ein geschenkter Tag. Wir sollten dankbar sein Glori.“ Gisela umarmte ihre Freundin und strich den Kindern über die Schulter. Dann ging Gisela nach rechts und Elvira und Anatol gingen nach links.

Glori winkte ihnen lange nach.

„Ich glaube, sie hat sich wirklich über unsere Geschenke gefreut“, sagte Elvira und winkte ein letztes Mal zurück, bevor sie mit Anatol in den eigenen Garten ging.

„Ja, aber die waren ja auch wirklich super.“

Ein Zauberwort

Elviras Eltern waren heute Abend eingeladen, so dass Anatol und Elvira den Garten ganz für sich hatten. Sie zündeten ein Feuer in der großen Schale an, Bella sah ihnen durch den Zaun dabei zu. Aus dem Kühlschrank nahm Elvira zwei Flaschen Limonade, nach dem vielen Kuchen heute Nachmittag hatten sie keinen Hunger mehr. Ins Zelt hatte Sabine zwei Isomatten und zwei Schlafsäcke gelegt, so war also bald alles erledigt und Anatol und Elvira setzten sich um ihr Feuer.

Sie sprachen nicht viel, nur das Feuer knisterte und die Sonne verschwand. Am Himmel leuchtete der Mond so hell – war es ein anderer Mond, ein neuer Mond? Es war der Mond einer Sommernacht, und er leuchtete so schön und warm, als würde er auf etwas warten.

„Schau mal den Mond. Wie schön er ist. Heute kann man bestimmt Sternschnuppen sehen.“ Elvira flüsterte. Dabei war niemand in der Nähe, der sie hören konnte.

Die beiden starrten in den Himmel.

„Ich kann den Mond nicht leiden“.

„Na so was, das habe ich ja noch nie gehört. Warum denn das nicht?“ Elvira war wirklich erstaunt. Dass man seinen Namen nicht leiden konnte, das wusste sie, aber den Mond?

„Ach, die ganze Zeit gaukelt er uns etwas vor. Sieht so schön aus, dass man glaubt, da oben wäre alles besser.“

Anatol stocherte wütend mit einem Stock im Feuer herum.

„Immer wollen alle weg. Zum Mond, oder dahin, wo einen niemand kennt. Muss man sich nicht um die kümmern, die man kennt, soll man nicht dableiben, wo man ist?“

Er stand auf, konnte nicht mehr sitzen.

„Mein Papa hat immer davon geträumt, auf den Mond zu fliegen. Und jetzt will er auf den Mars. Für immer. Auch wenn er weiß, dass er mich dann nie mehr wiedersehen wird. Das ist ihm egal.“

Elvira verstand nicht richtig, was Anatol da sagte. Irgend etwas wollte sie antworten, aber ihr fiel nichts Richtiges ein.

„Findest du Sternschnuppen auch nicht schön?“, fragte sie schließlich zögernd.

Anatol setzte sich wieder.

Sie schauten weiter ins Feuer, wie es seine Funken um sich schleuderte, knackte und wärmte.

„Warum magst du deinen Namen eigentlich nicht?“, fragte Anatol freundlich nach einer Weile. Als wäre er gar nicht wütend gewesen.

Elvira zögerte. Sie kannte die Antwort ganz genau. Aber sie war sich nicht sicher, ob sie Anatol schon gut genug kannte.

„Er ist kein Zauberwort“, murmelte sie dann.

„Ein Zauberwort?“ Anatol schaute Elvira an.

„Etwa Simsalabim?“ Er lachte:

„Simsalabim wollte ich nicht heißen, glaube ich.“

„Nein“, Elvira schüttelte den Kopf.

„Grün ist ein Zauberwort, zum Beispiel“.

„Grün?“ Er war erstaunt und lachte nicht mehr.

„Grün grün“, murmelte er vor sich hin.

Da hatte Elvira das Gefühl, dass er sie wirklich verstehen wollte, und sie erklärte es ihm.

„Für jeden gibt es natürlich andere Zauberwörter. Aber es gibt eben auch Wörter, die verzaubern fast alle. Und 'Elvira' gehört definitiv nicht dazu. Immer, wenn mich jemand nach meinem Namen fragt, geben die Menschen komische Kommentare ab oder sie lachen. Keiner reagiert ganz normal. Letztes Jahr bin ich in eine neue Schule gekommen. Als ich meinen Namen sagte, haben natürlich wieder alle gelacht.“

Elvira warf noch ein Stück Holz ins Feuer.

Anatol zuckte die Schultern.

„Lachen ist doch gar nicht so schlecht. Und deine Eltern fanden Elvira bestimmt schön. Sie hat er verzaubert. Sonst hätten sie dich nicht so genannt.“

„Meine Eltern!“ Elvira schnaubte durch die Nase.

„Magst du deine Eltern nicht?“.

Anatol schaute Elvira gespannt an. Diese Frage schien ihn sehr zu interessieren.

„Ich glaube schon. Ich habe noch nie darüber nachgedacht. Es sind eben meine Eltern. Aber sie spinnen halt.“

„Da siehst du`s. Man denkt nicht darüber nach, wenn alles in Ordnung ist.“

„Na ja, so ganz stimmt das ja auch nicht. Manchmal gehen sie mir ganz schön auf die Nerven, das kannst Du mir glauben. Besonders Mama. Stell dir vor, sie schreibt einen Blog.“

Elvira beugte sich vor und Anatol konnte die Falten sehen, die sich auf ihrer Stirn gebildet hatten.

„Und weißt du worüber? Über Kochrezepte. Man glaubt es kaum. Kochrezepte.“

Sie tippte mit dem Zeigefinger an ihre Stirn, die sich wieder glättete.

„Ständig ruft sie meine Oma an und fragt nach ihren besten Rezepten. Meine Oma kann super kochen und backen. Fünfegerade. So heißt der Blog. Weil wir fünf sind.“

„Na so was. Das ist ja cool.“ Anatol staunte.

„Den schaue ich mir mal an.“

Sie lebt

In diesem Augenblick schob sich eine dicke Wolke vor den leuchtenden Mond und es raschelte und knackte in der Hecke. Elvira zuckte zusammen. Bella sprang laut kläffend neben das Feuer, wie ein kleiner Drache stand sie da, die Funken wirbelten um sie herum.

„Oh du blöder Hund, was hast du mich erschreckt“, Elvira war wütend. Sie packte die Hündin am Halsband.

„Heute haust du anscheinend dauernd ab.“

Das Halsband war groß und gelb, mit Glitzersteinchen, die im Schein des Feuers funkelten. Elvira schüttelte daran, so ärgerte sie sich.

„Ich glaube, ich bring sie schnell nach Hause. Ob Wiesels noch wach sind?“

Anatol stand auf und schaute über den Zaun.

„Doch, da brennt unten noch Licht. Komm, wir gehen zusammen.“

Er drehte sich wieder zu Elvira und Bella um.

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