Wandler des Mondes

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Wandler des Mondes
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Barbara Kuhn

Lady of Glencoe & Lochaber

Wandler

des

Mondes

Geheimnis des Waldes


Widmung

Für meine Kinder.

Wandler des Mondes

Alle Figuren

sowie die Handlung selbst,

sind frei erfunden.

Inhalt

Kapitel 1 Ankunft

Kapitel 2 Hochsitz

Kapitel 3 Grabstein

Kapitel 4 Narben

Kapitel 5 Schlafende

Kapitel 6 Trank

Kapitel 7 Erwachen

Kapitel 8 Jagdhütte

Kapitel 9 Schlucht

Kapitel 10 Geheimnis

Kapitel 11 Zärtlichkeiten

Kapitel 12 Überfall

Kapitel 13 Versprechen

Kapitel 14 Sechs Tage

Kapitel 15 Gehörnter

Kapitel 16 Opfer

Kapitel 17 Gefährte

Erläuterung

Weitere Bücher

Autorin

Impressum

Beschützer der Pflanzen,

der Tiere

sowie der Menschen,

bis zum unvermeidlichen Tod.

Eins - Ankunft

Heute ist morgen und morgen ist heute, so stand es jedenfalls in einem Buch. Aber, was machte ich heute in diesem verschlafenen Nest? Ein kleines, verschlafenes Dorf, irgendwo im nirgendwo. Wahrscheinlich würden sich, wenn man genau hinsah, Fuchs und Hase dort gute Nacht sagen. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Okay, ich hatte eine schreckliche Zeit hinter mir. Einen Monat in der Klinik und weitere Wochen zu Hause, wo mir langsam aber sicher die Decke auf den Kopf fiel. Meine Arbeit hatte mir nahegelegt, meinen Urlaub vom vergangenen Jahr und von diesem Jahr zu nehmen, damit ich wieder völlig gesund zurückkäme. Gesund!

Was für ein einfaches Wort und doch sagte dieses Wort alles über mich aus. In den Augen der Ärzte war ich gesund, körperlich. Doch das sagte nicht annähernd etwas über meinen seelischen Zustand aus. Dabei war ich vor acht Monaten noch voller Leben und Zuversicht.

Ich war stellvertretende Geschäftsführerin, bei einer noblen Textilfirma, die sich mitten in Frankfurt am Main befand. Hatte ein gutes Gehalt, eine hübsche Wohnung und ein nagelneues Auto. Kurz und gut ich war am Ziel meiner Träume. Doch es gab einen Haken, ich konnte das mit niemanden teilen. Mit meinen vierundzwanzig Jahren, hatte ich es allerdings weit gebracht.

Meine Haare waren lang und rotbraun, Ich hatte grüne Augen und helle, makellose Haut. Zugegeben ich ging nicht wie die meisten auf die Sonnenbank oder ständig zum Frisör. Ich mochte es, wenn meine Haut durch die Sonne etwas gebräunt wurde. Zwei Mal in der Woche jogge ich, in einem kleinen Park, und sah hin und wieder den Enten auf dem Teich zu.

Ich liebte die Natur, auch wenn ich nicht viel Zeit dafür hatte. Selten ging ich mit Freunden aus und schon gar nicht um Spaß zu haben. Ein echter Workaholic eben. So sah mich jedenfalls mein Freundeskreis und wahrscheinlich hatten sie damit auch recht. Ja, bis vor acht Monaten war das zumindest so und mir war überhaupt nicht bewusst, wie zufrieden ich damit war.

Vor über acht Monaten wusste ich auch noch nicht, dass sich mein Leben auf grauenhafte Weise verändern würde. Jenny und Kai hatten mich überreden lassen, mit ihnen auf eine Vernissage von Marc zugehen. Nicht, dass es irgendwie seltsam war, dass sie mich einluden, nur dieses Mal ging ich tatsächlich mit. Es waren ungefähr vierzig geladene Gäste. Jeder hatte sich in Schale geworfen und zeigte seinen geheuchelten Kunstgeschmack.

Okay, Marc hatte ein Händchen für Kunst. Ich kannte ihn schon bevor er diese Vernissage überhaupt in Erwägung gezogen hatte. Ständig musste ich seinen Annährungsversuchen ausweichen, bis heute. Allerdings heute, war er der Star und umringt von jungen, gutaussehenden Frauen. Als Marc mich sah, kam er wie immer auf mich zu und gab mir eine herzliche Umarmung. Seinem südländlichen Charme und Aussehen konnte man sich auch schlecht entziehen.

Marc war ein Jahr älter als ich. Seine Eltern hatten eine Reihe von Restaurants und eine Villa außerhalb der Stadt. Aber er konnte mich damit nicht ködern. Wir beide waren nur gute Freunde. Sehr gute Freunde. Manchmal diente ich ihm als Alibi, wenn er irgendwo auf einer Party versackt war und sein Alkoholpensum über die Strenge schlug. Seine Eltern hatten in diesem Fall kein Verständnis und so half ich ihm oft aus der Patsche.

An diesem besagten Abend lernte ich Erich kennen. Er war anscheinend ein alter Freund von Marc. Sie hatten sich zwar jahrelang nicht mehr gesehen, aber er schien ganz nett zu sein. Nach ein paar Gläsern Champagner verabredeten wir uns beide zum Essen. In einem vornehmen Nobelrestaurant, für den kommenden Abend. Ich war ganz aufgeregt. Wann hatte ich mich schon Mal, mit einem Mann verabredet?

Wahrscheinlich hatte Erich keine Schwierigkeiten damit. Nicht nur, dass er hervorragend aussah mit seinem kurzen schwarzen Haaren und seinen dunklen Augen. Nein, er hatte auch einen sehr muskulösen Körper. Sicher ging er regelmäßig in ein Fitnessstudio oder war sonst irgendwie sportlich aktiv. Sein englischer Akzent ließ mich förmlich dahinschmelzen.

Erich wartete bereits an einem Tisch und hatte schon eine Flasche Champagner bestellt, die in einem Sektkübel bereitstand. Nach einem ausführlichen Essen machten wir einen Spaziergang, im naheliegenden Park. Dieser war jetzt im Sommer gut besucht.

Er erzählte mir von seinen Auslandsreisen und seiner Arbeit, als Kunstsachverständiger, bei seinen ausländischen Auftraggebern. Dadurch kam Erich weit in der Welt herum, was ich von mir nicht gerade behaupten konnte. Kein Wunder, das Marc ihn eingeladen hatte mit seinem Fachwissen.

Als wir durch den abendlichen Park gingen, legte Erich wie selbstverständlich seinen Arm um mich und sprach einfach weiter. Ehrlich gesagt störte es mich nicht wirklich, ja, ich genoss es sogar. Ich fand es schön, dass ein Mann so sein Interesse an mir zeigte. Die meisten interessierten sich eher für mein Bankkonto, als für mich. Bei ihm schien es anders, dachte ich damals jedenfalls.

Eigentlich fand ihn ich sehr charmant und witzig. Allerdings glaube ich, dass ich mehr als nur berauscht von ihm und seinem männlichen Charme war. Dies war mir überhaupt nicht wirklich bewusst geworden. Im Nachhinein wusste ich auch warum. Er hatte mir lösliche Psychopharmaka, also K.-o.-Tropfen, verabreicht und dadurch war völlig willenlos.

***

Ein lautes Hupen brachte mich in die Gegenwart zurück. „Bist du blöd da vorne?! Es ist grün! Fahr endlich du dumme Nuss!“

Verdammt, ich sollte nicht nachdenken und gleichzeitig Auto fahren. Wahrscheinlich würde ich gleich in den nächsten Graben landen. Ich beschloss erst einmal irgendwo anzuhalten und in einem Café etwas zu trinken. Mit wackligen Beinen betrat ich eine kleine Gaststätte und setzte mich an einen Ecktisch.

Nachdem ich einen Kaffee bestellt hatte, vertiefte ich mich in die Straßenkarte, die ich mir extra besorgt hatte. Zugegeben das kleine Dorf, mitten auf einem Berg umgeben von extrem viel Wald, sollte mir meine innere Ruhe wiedergeben. Aber ob ich das auch wirklich durchziehen würde, war eine andere Sache.

Gaby, meine langjährige Freundin, hatte ein hübsches Ferienhaus in der Eifel. Anscheinend lag dieser Ort im westlichen Teil des Rheinischen Schiefergebirges. Ich hatte schon erhebliche Mühe dieses Nest überhaupt auf einer Straßenkarte zu finden. Okay, nach meiner Karte konnte es nicht mehr weit sein. Vielleicht wusste die Kellnerin, wie lange ich noch fahren musste?

Sofort winkte ich die Bedienung zu mir und fragte: „Entschuldigen Sie bitte. Könnten Sie mir vielleicht sagen, wie weit ich noch zu dem Ort fahren muss? Nach meiner Karte zu urteilen, kann es nicht mehr weit sein.“

Erstaunt schaute die junge Frau auf die Straßenkarte und musterte mich eingehend. „Das ist hier ganz in der Nähe. Wollen Sie dort jemanden besuchen?“ Verunsichert schluckte ich.

War das so offensichtlich oder passte ich generell nicht hierher? Zugegeben ich hatte meine Nobelsachen, gegen etwas legere Kleidung eingetauscht. Aber scheinbar sah man mir dennoch an, wo ich tatsächlich zu Hause war.

Die Bedienung, so Mitte Zwanzig, sah mich abwartend an und ich wusste nicht so recht, was ich darauf antworten sollte.

„Ich… ich besuche meine Freundin, Gaby Schoranth. Kennen Sie sie vielleicht?“ Die junge Frau schüttelte den Kopf und reichte mir wieder die Karte. „Nein, ich kenne nur die Einheimischen aus dem Nachbarort. Ansonsten habe ich keinen Kontakt. Ich wünsche Ihnen viel Spaß bei Ihrer Freundin.“

„Tina! Du wirst nicht fürs schwätzen bezahlt, also mach dich in die Küche!“

„Tut mir leid, ich muss gehen. Möchten Sie noch einen Kaffee oder etwas anderes?“ Ihre ruhige Art machte mir ein wenig Mut, bei der ganzen Sache hier. In diesem seltsamen nirgendwo.

„Bringen Sie mir bitte noch einen Kaffee und die Rechnung.“ Gesagt getan. Kurz danach brachte sie meinen Kaffee und ich bezahlte die Rechnung, mit einem guten Trinkgeld natürlich.

„Vielen Dank, für Ihre Hilfe Tina.“ Wortlos nickte sie und verschwand hinter dem Tresen. Nach einer Weile saß ich wieder im Auto und fuhr eine Straße, eher gesagt einen befestigten Feldweg, entlang. Wenn das die normalen Straßen waren, wie sahen dann erst die Feldwege hier aus?

 

Irritiert hielt ich an und sah erneut auf die Karte, anscheinend gab es nur diese eine Straße, also weiter. Nach etwa einer Stunde kam ich endlich an dem besagten Haus an und sah mich verwundert um. Zugegeben das Haus wirkte von außen, wie ein älterer Bungalow aus den Siebzigern. Außerdem war es von hohen Tannen umgeben.

Der Bungalow hatte allerdings einen gepflegten Vorgarten, eine Doppelgarage sowie eine Satellitenanlage. Na ja, wenigstens hatten sie Fernsehen, das machte die Sache schon etwas erträglicher. Meinen Wagen stellte ich vor der Garage ab und machte schließlich den Motor aus. Erst einmal sehen, ob der Schlüssel überhaupt passt.

Gaby hatte mir einfach den Schlüssel und eine Wegbeschreibung vorbeigebracht. Sie sagte mir, dass sie das Ferienhaus nur selten nutzten, weil es viel zu ländlich war. Sicher hatte sie jemanden, der sich um das Haus und den Garten kümmerte.

Ich fragte mich, wie lange Gaby schon nicht mehr hier gewesen war. Nach ihrer Aussage, hatte sie das Haus von ihrer Oma geerbt und wäre zwei- oder dreimal dort gewesen. Was ich ehrlich gesagt, vollkommen verstehen konnte.

Wahrscheinlich würde jeder hier vor Langeweile sterben und ich hatte mir ernsthaft vorgenommen, meinen Urlaub an diesem einsamen Ort zu verbringen. Egal, ich war jetzt an Ort und Stelle und würde das Beste daraus machen.

Langsam stieg ich aus, nahm meinen Rollkoffer, meine Umhängetasche und ging in Richtung Eingang. Vorsichtig steckte ich den Schlüssel ins Schloss. Er passte! Hoffentlich war es wenigstens drin sauber?

Mit einem knarrenden Geräusch ging die Tür auf, worauf ich prompt meinen Koffer losließ. Zu meinem Erstaunen, sah ich in einen großen hellen Raum. Es gab keinen engen Flur, sondern man betrat nach wenigen Schritten ein großes Wohnzimmer, mit eichenfarbigen Möbeln. Okay, etwas rustikal für meinen Geschmack, aber alles schien in einem ordentlichen Zustand zu sein. Ich nahm meinen Koffer und zog ihn hastig hinter mir her. Sofort verschloss ich leise die Tür.

Meine Tasche legte ich mit den Schlüsseln, auf einen kleinen Tisch an der Seitenwand, nahe der Eingangstür. Stellte meinen Koffer ebenfalls dort ab und machte mich schließlich zu einer Erkundungstour auf.

Als Erstes sah ich mir das Wohnzimmer an. Man musste drei Stufen abwärts gehen, um in das eigentliche Wohnzimmer zu gelangen. Dort stand eine riesige Couch, die zu einer Rundung gestellt war. Das Sofa gehörte scheinbar eher zu den neueren Gegenständen und wirkte mit dem cremefarbigen Stoff sehr einladend. In der Mitte befand sich ein runder, eichenfarbiger Tisch, mit einem vollen Obstteller darauf. Oh, wie aufmerksam!

Wieder ging ich drei Stufen nach oben, nach links und kam in einen abgetrennten Raum. Die Küche. Diese war modern eingerichtet, mit ihrem Heißluftherd und der Spülmaschine. Sicher hatte man dies auf Gabys Geheiß eingebaut. Ich machte den Kühlschrank auf, der bis obenhin gefüllt war. Darunter öffnete ich die Tür zum Gefrierschrank, auch diesen hatte sie, mit Pizza und allerlei Sachen bestückt. Nun ja, verhungern würde ich bestimmt nicht, das war schon einmal beruhigend.

Nachdem ich etliche Schränke geöffnet hatte und Kaffeepulver, Tee und Fertigprodukte entdeckte, ging ich durch eine weitere Tür, die sich auf der rechten Seite befand. Ich betrat das Esszimmer. An einem alten, verschnörkelten Eichentisch, hatten locker acht Personen Platz. Der Raum wirkte, trotz der Größe, sehr einladend auf mich. Seine hellen Tapeten sowie geschmackvollen Bilder, mit den Blumenmotiven, machten dieses Zimmer zu einem einladenden und ruhigen Ort.

Schließlich ging ich an das große Fenster. Schob die Gardine beiseite und schaute hinaus. Anscheinend gab es noch einen großen Garten hinter dem Haus, mit einem Teich. Das würde ich mir aber erst nach dem Auspacken ansehen.

Entschlossen drehte ich mich um und verließ das Esszimmer. Erneut ging ich durch die Küche, in das Wohnzimmer und auf die andere Seite des Hauses. Dort entdeckte ich ein großes Schlafzimmer, völlig in Weiß gehalten und mit modernster Technik ausgestattet. Flachbildschirm, Stereoanlage und vieles mehr. Das war bestimmt das Schlafzimmer von Gaby und ihrem Mann? Hier würde ich bestimmt nicht schlafen.

Ich verschloss die Tür und fand tatsächlich noch ein weiteres Schlafzimmer. Es war zwar etwas kleiner, aber dennoch mit demselben Luxus. Jedes Schlafzimmer hatte ein anliegendes Badezimmer, mit Dusche oder Badewanne.

Augenblicklich entschied ich mich für dieses Schlafzimmer, das in einem weinroten Ton gehalten wurde. Weinrot war immer schon meine Lieblingsfarbe gewesen. Nicht nur, dass die Tapeten, Vorhänge und Tagesdecke farblich zusammenpassten, nein, auch die Badezimmerhandtücher und die Einrichtung waren farblich darauf abgestimmt. Okay, vielleicht etwas exzentrisch. Aber was machte das schon?

Inzwischen ging zurück ins Wohnzimmer, sah noch einmal nach ob ich die Eingangstür verriegelt hatte, und brachte meinen Koffer ins weinrote Schlafzimmer. Das Bett, der Kleiderschrank, ja, sogar der Frisiertisch bestanden aus edlem weißem Holz, was sich sehr angenehm anfühlte.

Mittlerweile war ich meine Sachen am Auspacken, legte sie in den geräumigen Kleiderschrank und nahm eine ausgiebige Dusche. Nachdem ich im Wohnzimmer in einem Barfach Whisky, Wein und andere alkoholische Getränke entdeckt hatte, machte ich mich auf in den Keller.

Dort war neben einem Weinkeller, auch eine Vorratskammer, mit weiteren Lebensmitteln. Es gab sogar einen Fitnessraum, eine Waschküche, mit Waschmaschine und Trockner. Okay, so wie es aussah, musste Gabys Oma ziemlich viel Geld gehabt haben. Hätte ich überhaupt nicht erwartet.

Ich ging wieder nach oben, ins Wohnzimmer, öffnete eine der drei Terrassentüren und betrat den Garten. Garten war wohl der falsche Ausdruck. Es war mehr eine parkähnliche Anlage, mit direktem Zugang zum nahestehenden Wald.

Gerade wollte ich mich über den Fischteich beugen, als ich ein Geräusch sowie eine Bewegung wahrnahm. Abrupt stand ich auf und schaute in die entsprechende Richtung, doch nichts war zu sehen. Seltsam, hatte ich mir das alles nur eingebildet?!

Zögernd ging ich zum Haus zurück, öffnete gerade die Terrassentür, als plötzlich eine ältere Frau vor mir stand. Lautstark zuckte ich zusammen und rang hörbar nach Luft.

„Oh, das tut mir außerordentlich leid. Sie sind bestimmt Frau Jaldesie, die Ihren Urlaub hier verbringen möchte? Frau Schoranth hat mich über alles informiert. Ich werde einmal in der Woche nach dem Rechten sehen und Ihnen die Vorräte oder Sonstiges auffüllen. Haben Sie sich schon für ein Schlafzimmer entschieden, Frau Jaldesie?“

Schweigend ging ich in Richtung Küche. Verzweifelt suchte ich ein Glas, damit ich mir einen Orangensaft aus dem Kühlschrank einschütten konnte. Die Haushälterin machte automatisch eine Schranktür auf und reichte mir, wie selbstverständlich, ein Glas. Schweigend stellte ich dieses auf die Ablage, gleichzeitig schaute ich sie abwartend und zögernd an.

„Oh, Entschuldigung, ich habe mich nicht einmal vorgestellt. Ich bin Agnes Pahlus, ich wohne hier ganz in der Nähe.“ Vorsichtig reichte ich ihr die Hand. „Hallo“, mehr sagte ich nicht.

„Hallo“, erwiderte sie, wobei ein mütterliches Lächeln ging über ihr Gesicht. Sie hatte grau gewelltes Haar, eine dunkle Brille und einen außergewöhnlichen Anhänger, der an einer langen silberfarbigen Kette hing. Warum mir im Nachhinein ihre Kette so ins Auge gefallen war konnte ich noch nicht einmal sagen. Jedenfalls fand ich sie äußerst sympathisch und hatte sofort zu ihr Vertrauen gefasst. Was ich eigentlich nicht mehr so leicht tat.

Nachdem wir uns einen Kaffee gemacht hatten, unterhielten wir uns über all die Dinge, die ich hier benutzen konnte. Ihr Mann Gustaf war anscheinend für den Garten und den anliegenden Wald zuständig. „Mein Mann erledigt die meisten Einkäufe und kann Ihnen selbstverständlich alles besorgen, was Sie eventuell benötigen.“

Erleichtert atmete ich aus und versuchte, meine innere Unruhe weitgehend in den Griff zu bekommen. Jedoch konnte ich nicht verhindern, dass ich sie unsicher ansah. Wieviel wusste sie von mir? Hatte Gaby irgendetwas über mich erzählt?

Laut räusperte ich mich, worauf ich leise sagte. „Das ist sehr nett von Ihnen, aber hauptsächlich bin ich hierhergekommen, um mich zu erholen. Ich glaube, der Wald wird mir sicher genug Abwechslung bringen. Kann ich Sie irgendwo erreichen, falls etwas Unvorhersehbares vorfällt? Ich kenne ja sonst hier niemanden. Verstehen Sie meine Bedenken, Frau Pahlus?“

Die Frau stellte ihre Tasse in die Spülmaschine und sah mich überrascht an. „Selbstverständlich. Dies ist die Telefonnummer von unserem Zuhause und hier die Nummer von dem hiesigen Arzt. Ich meine natürlich nur, falls Sie vielleicht einmal einen brauchen. Frau Schoranth sagte mir, Sie wären eine ganze Weile im Krankenhaus gewesen und müssten umgehend wieder zu Kräften kommen. Also, wenn Sie sich irgendwann nicht wohlfühlen, scheuen Sie sich nicht uns anzurufen.“ Eigentlich wollte ich etwas sagen, als man in dem Moment eine Autohupe hörte.

„Oh, das wird mein Mann sein. Ich wünsche Ihnen angenehme Tage. Wir sehen uns dann am Samstag. Auf Wiedersehen, Frau Jaldesie.“ Ich folgte ihr noch bis zur Eingangstür.

„Frau Pahlus, nennen Sie mich doch bitte Miriam. Vielen Dank für Ihr Kommen und auf Wiedersehen.“ Sie winkte mir, auf dem Weg zum Auto, noch einmal zu und verschwand in einem alten, dunkelgrünen Mercedes.

Mit einem mulmigen Gefühl schaute ich ihnen nach und ging gemächlich zum Haus zurück. Als Frau Pahlus und ihr Mann verschwunden waren, rief ich Gaby an. Ich bedankte mich erst einmal für ihre Einladung und versprach ihr, mich in einer Woche spätestens bei ihr zu melden.

Jetzt war es soweit, trotz der ganzen Ablenkung. Der erste Abend allein in einem fremden Haus. Mittlerweile hatte ich mir einen bequemen Jogginganzug angezogen und lief barfuß durch das große Haus. Irgendwann entdeckte ich, in einem Schrank, einen Fernseher und setzte mich, mit einem Glas Rotwein, auf die äußerst bequeme Couch. Doch das hiesige Fernsehprogramm ließ meine Gedanken nicht zur Ruhe kommen und nach einer Weile schlief ich auf der Couch ein.

Zwei - Hochsitz

Erschrocken fuhr ich hoch, als ich ein ungewohntes Geräusch hörte. Ängstlich sah ich aus dem Fenster und erkannte, dass draußen ein heftiges Gewitter tobte. Müde stand ich auf, schaltete die Alarmanlage an und ging in mein neues, weinrotes Schlafzimmer. Doch der heftige Sturm ließ mich nur in eine Art Dämmerzustand fallen.

Plötzlich sah ich die beiden großen Männer, die damals vor uns im Park standen. Erich sagte irgendetwas zu ihnen, aber ich konnte ihn, trotz meiner guten Englischkenntnisse, nicht verstehen. Der große, dunkelhaarige, der eher an einen Boxer erinnerte, grinste mich merkwürdig an. Wodurch ich mich noch näher an Erich klammerte. Er lachte laut, sah zu dem Mann der ihn begleitete und sprach erneut in dieser seltsamen Sprache.

Der andere Mann wirkte auf mich allerdings unheimlicher. Er hatte seine langen, roten Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und musterte mich ebenfalls. Diesmal sprach er jedoch mit Erich, als würden sie sich schon ewig kennen.

Plötzlich zog mich Erich an nahen an sich und gab einen intensiven Kuss. Als ich danach aufschaute waren die beiden Männer verschwunden. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich mir nichts dabei, irgendwann gingen wir schließlich zu Erichs Auto zurück.

Er überredete mich noch zu einem Schlummertrunk, in seiner Unterkunft. Geschmeichelt willigte ich letztendlich ein. Wir fuhren aus dem Frankfurter Stadtzentrum und hielten an einem kleinen Haus, mitten auf dem Land. Ich fand es zwar ein wenig merkwürdig, dass er in einem solchen Haus wohnte, aber was wusste ich schon von seinem Leben? Nichts!

Wir fuhren durch ein eisernes Tor, in einen verwilderten Garten und hielten vor einem Haus, das mit Efeu bewachsen war. Er machte die Zündung aus, stieg aus und öffnete mir galant die Tür. Danach gingen wir auf das Haus zu, worauf er es mit einem alten Schlüssel öffnete. Kaum waren wir eingetreten verriegelte er die Tür und legte den Arm um meine Taille. Im Inneren befand sich eine geräumige Eingangshalle, die mit zahlreichen Kerzen beleuchtet war. Merkwürdig, gab es hier den kein Strom? Ach, sicher hatte das nichts zu bedeuten, manchmal hatte ich auch keine Lampe an.

 

Wir gingen langsam durch die Halle und blieben an einer Tür, im hinteren Bereich, stehen. Plötzlich hörte ich ein seltsames Gemurmel, was sich eigenartig sowie beängstigend anhörte. Erich öffnete die Tür, worauf ich einige Personen, mit langen, schwarzen Kapuzenumhängen erkennen konnte. War das hier eine Veranstaltung, aber von was?

Unerwartet packte mich Erich am Ellbogen und zog mich durch die Menschenmenge. Diese schauten mich jetzt neugierig an. Nein, sie starrten regelrecht, so dass ein kalter Schauer über meinen Rücken lief. Was… was hatten sie mit mir vor?

In diesem Moment riss Erichs Stimme mich aus der Starre. „Du brauchst keine Angst zu haben. Sie möchten dich nur kennenlernen. Sie sind nur gespannt, wie du wirklich bist, mehr nicht.“ Fassungslos schaute ich ihn an.

„Auf was sind sie gespannt?“ Er lachte, schaute mich mit seinem intensiven Blick an. Ich schmolz förmlich dahin, trotz der vielen Fragen. „Das werde ich dir sage, wenn du mit mir angestoßen hast.“

Einer der Kapuzenträger reichte Erich zwei Weingläser. In den Gläser befand sich sicher so etwas wie Rotwein. Er nahm die beiden Gläser, reichte mir eins davon und stieß mit mir an. Allerdings nippte ich nur kurz daran, aber Erich bestand darauf, dass ich es ganz austrank. Nach einer Weile wurde mir furchtbar heiß und meine Umgebung konnte ich nur noch schemenhaft wahrnehmen.

Irgendwann drehte ich mich um und sah, wie einige Kapuzenträger auf mich zukamen. Erschrocken schaute ich zu Erich, doch dieser packte mich ziemlich grob an und lachte süffisant. Mit einem Mal spürte ich ihre Hände auf meinen Körper und hörte Stoff reißen. Dann überkam mich eine vollkommende Schwärze.

***

Schreiend schreckte ich hoch. Verdammt, ein Albtraum! Es war nur einer dieser Albträume. Allmählich wurde ich mir meiner Umgebung bewusst, ich befand mich ja in dem Haus von Gaby. Dort wollte ich mich von den Strapazen erholen und Kraft tanken Ich am Leben, allein und nicht in irgendeinem gottverlassenen Waldstück.

Langsam stand auf, ging in das nächste Badezimmer und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht. In der Zwischenzeit wurde mir erst einmal bewusst, dass ich vor Kälte zitterte. Also, nahm ich mir meine bunte Strickjacke aus dem Schrank und zog sie schnell über. Auf dem Weg ins Wohnzimmer, knipste ich das Flurlicht sowie die kleine Lampe im Wohnzimmer an. Schließlich nahm ich mir die volle Flasche Whisky, aus dem Barfach.

Egal, ob sie Gaby gehörte oder nicht, ich brauchte sie jetzt. Nachdem ich ein Glas gefunden und einen Whisky intus hatte, fühlte ich mich besser. Mit der Flasche und einem halb vollen Glas, setzte ich mich auf die große Couch im Wohnzimmer. Beides stellte ich auf den Tisch und fing bitterlich an zu schluchzen.

Ich hasste diese Träume. Zeigten sie mir doch, was ich mittlerweile für ein beschissenes Leben hatte. Nach einem weiteren Whisky hatte ich mich weitgehend gefangen. Früher hätte ich noch nicht einmal Whisky angefasst, aber nach diesen schrecklichen Monaten war nichts mehr wie früher. Irgendwann fand ich eine Wolldecke und schaltete den Fernseher wieder ein. Wann hatte ich ihn eigentlich ausgemacht? Muss wohl ein Reflex gewesen sein?

Nachdem ich mich in die Decke eingemummelt hatte, starrte ich desinteressiert auf den flimmernden Bildschirm. Diese Menschen konnten gut lachen. Sicher hatten sie nicht das mitgemacht, was ich erlebt hatte? Weshalb hatte ich das überhaupt überlebt? Nie hatte ich irgendjemanden etwas Böses getan und doch musste ich dieses grausame Martyrium ertragen.

***

Grelles, helles Licht. Verwirrt schaute ich mich um. Ich lag in einem weißen Bett, mit einem Metallgestell. Überall entdeckte ich an mir Schläuche sowie Nadeln. Erschrocken hielt ich die Luft an, als ein Mann, mit weißem langem Kittel, auf mich zukam. Er war überaus freundlich und stellte sich als Doktor Rüderseh vor. Nachdem er mich untersucht hatte, erfuhr ich, dass ich mich anscheinend in einem Krankenhaus befand. Wie war ich hierhergekommen?

Plötzlich sah ich ein anderes Bild. Meine Arme waren gefesselt, aber ich war nicht mehr in diesem dunklen Raum oder in diesem Krankenhausbett. Erschrocken sah ich mich um. Meine Nase nahm einen furchtbaren, ekelerregenden Gestank war. Irgendwie wurde mir bewusst, dass ich mich nicht mehr bei diesen Teufelsjüngern befand. Doch wo war ich? Wo hatten sie mich nur hingebracht? War das etwa Müll neben mir? Befand ich mich etwa zwischen lauter Abfällen? Hatten sie mich einfach weggeworfen, wie Müll?

Mittlerweile registrierte ich, dass meine Kleidung oder auch Kutte zerrissen war, wodurch ich entsetzlich fror. Unkontrolliert begann mein Körper an zu zittern. Außerdem hatte ich furchtbaren Hunger, vor allem aber Durst. Sehr viel Durst. Meine Kehle fühlte sich an, als wäre sie vollkommen ausgetrocknet. Doch das Schlimmste war die Müdigkeit, die mich abermals überwältigte.

Wie von selbst fielen mir die Augen zu und ich trieb in einem seltsamen Schlaf. Irgendwann spürte ich etwas an mir, worauf ich abrupt die Augen aufriss. Laut schrie ich auf, doch durch den Knebel hörte man nur ein leises Geräusch. Entsetzt schaute ich zu meinen Füßen und erschrak noch mehr. Ratten! Verdammt!

Ratten nagten an meinen Füßen oder waren es schon die Beine? Nein, so wollte ich nicht sterben! Ich wollte nicht lebendig von diesen Monstern aufgefressen werden!

Immer lauter schrie ich und trat mit meinen fast tauben Füßen die Ratten fort. Mit letzter Kraft kam ich auf die Beine und versuchte, aus dem Müllhaufen irgendwie zu entkommen. Nach unendlicher langer Zeit hatte ich es schließlich geschafft. Endlich konnte ich richtig Luft bekommen. In diesem Augenblick erkannte ich erst das wahre Umfeld. Ich stand tatsächlich auf einer riesigen Müllkippe, irgendwo auf dem Land.

Unerwartet hörte ich einen lauten Motor hinter mir und drehte mich automatisch um. Dann sah ich sie, die Macht des Verderbens. Eine Planierraupe! Sie kam mit ihrer Schaufel auf mich zu und versuchte, mich mit ihrer machtvollen Kraft doch noch zu zerstören. Was konnte ich tun?

Sofort fing ich erneut an zu schreien und versuchte irgendwie auf die Seite zuspringen. Im letzten Moment, bevor die Raupe mich tatsächlich erfasst hatte, sah der Fahrer mich. Ruckartig riss er die Planierraupe zur Seite, sodass nur ein kleiner Teil der großen Schaufel mein Bein erwischte. Der Schmerz war unerträglich, worauf in mir, jetzt auch noch Panik breit machte. Ich würde doch hier an diesem Ort sterben. War das wirklich mein Ende, auf einer stinkenden Müllkippe zu verbluten?

Erneut änderte sich das Bild, ich war im Krankenhaus. Der behandelnde Arzt hatte mir inzwischen mitgeteilt, dass ich schon mehr als drei Wochen im Koma lag. Da die Polizei bei mir keine Papiere fand, hatten sie schließlich ein Bild, von mir, in den Nachrichten veröffentlicht. Gott sei Dank erkannte mich Gaby, worauf ich endlich wieder einen Namen hatte. Doch auch die jenigen, die mir das angetan hatten, wussten dass ich noch lebte. Somit war ich weiterhin in Gefahr. Das Merkwürdigste war allerdings, dass ich fünfhundert Kilometer von meinem Heimatort aufgefunden wurde. Wie bin ich nur dahin gekommen?

***

Urplötzlich knallte ich auf etwas Hartes. Als ich die Augen öffnete, lag ich der Länge nach auf dem Fußboden. Verdammt, was für eine katastrophale Nacht. Morgen würde ich wieder Schlaftabletten nehmen, damit ich endlich ein wenig Schlaf bekam.

Selbst wenn ich diese Tabletten hasste, weil sie mich vollkommen benebelten, brauchte ich sie. Eins wusste ich genau, ich wollte bestimmt nie wieder willenlos sein!

Nach mehreren Versuchen, schaffte ich es vom Boden aufzustehen und schleppte mich in die Küche. Zuerst stellte ich die Kaffeemaschine an und ging danach ins Badezimmer. Dort stellte ich mich unter die fast heiße Dusche. Dabei hatte ich immer das Gefühl, als würden all meine Sorgen und Ängste vom Wasser davongeschwemmt.