Geschichten aus Baden und dem Elsass

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From the series: Lindemanns #79
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Geschichten aus Baden und dem Elsass
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für den elsässischen Teil meiner Familie



Anton Ottmann, Jahrgang 1945, Lehrer für Mathematik und Physik, promoviert in Erziehungswissenschaften, schreibt seit fast 50 Jahren wissenschaftliche Artikel und Bücher zur Mathematikdidaktik und erstellt Arbeitsmaterialien für den Unterricht. 1996 erschien sein Erfolgsband „Weihnachten ist jedes Jahr“ (3. Auflage, 2012), 2004 der Erzählband „Die Pariserin“, 2009 „Geschichten aus Baden und dem Elsass“ (2. Auflage, 2018), 2013 der Roman „Trauerjahr“ und 2018 „Begegnungen in der Weihnachtszeit“. Als Mundartpreisträger veröffentlichte er 2014 „Kurpfälzer Gebabbel“ und Kurzgeschichten in verschiedenen Anthologien.




Anton Ottmann

Geschichten

 aus Baden

 und dem Elsass




* Die Jahreszahlen geben den Zeitraum an, in dem die Geschichte spielt.



Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek



Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

 Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

 sind im Internet über http: // dnb.ddb.de abrufbar.



Titel unter Verwendung eines Fotos von www.photocase.de



© 2. Auflage, 2018 · Alle Rechte vorbehalten.



Nachdruck, auch auszugsweise, ohne Genehmigung



des Verlages nicht gestattet.



Lindemanns Bibliothek, Band 79



Info Verlag GmbH



Karlsruhe · Bretten, Germany



www.infoverlag.de



ISBN 978-3-96308-086-9




„Schwowe“ ist im Elsässischen das Synonym für „Deutsche“





Gaulsknoppel und Kuhplatscher

 (1950)



Ein Jahr nach dem Einzug „der Flüchtlinge“ in ein kleines Dorf im Kraichgau hatte Anneliese Wipfler der Frau Rieger, die mit ihrem Sohn Adolf unter dem Dach wohnte, ein Stück ihres Garten abgetreten. Ihre Großzügigkeit bereute sie aber bald, als sie sah, dass bei ihrer Untermieterin die Kartoffeln, Bohnen, Karotten und Zwiebeln viel schöner wuchsen als bei ihr. „Kein Wunder“, dachte sie, „die ‚Sauteufel‘ liegen ja Tag und Nacht auf der Lauer und holen die Kuhplatscher und Gaulsknoppel von der Straße, kaum dass die Kuh oder der Gaul sie haben fallen lassen.“



Eines Tages stellte Anneliese sie zur Rede: „Frau Rieger, so geht das nicht, die Gaulsknoppel und Kuhplatscher vor dem Haus stehen allen Hausbewohnern zu.“



„Na und“, gab diese frech zurück, „warum sammeln sie diese dann nicht selbst ein?“



„Das ist jetzt die Höhe. Bis ich Besen und Schaufel geholt habe, ist ihr Adölfchen schon auf der Straße.“



„Wir könnten uns doch einigen“, lenkte Frau Rieger ein. „Sie sammeln bis zum 12-Uhr-Läuten und wir sind dran bis es dunkel wird.“



Anneliese stimmte dem schnell zu, weil sie beobachtet hatte, dass die Viecher, die morgens frisch vom Stall kamen, sich meistens vor ihrem Haus erleichterten.



Eines Tages sah Anneliese vom Küchenfenster aus, dass vor der gegenüber liegenden Schule gerade der neue Lehrer und seine Frau vom Leiterwagen des Bauern Oswald klettern. In dem Moment hoben die beiden Pferde die Schweife und drückten einträchtig einen Bollen nach dem anderen heraus. „Das gibt vier Schaufeln voll“, dachte sie und holte schnell Schaufel, Kehrwisch und Eimer. Da kam auch schon das Adölfchen die Treppe herunter gestürzt. „Halt“, schrie sie, „das sind meine Knoppel!“



Der Junge ließ sich nicht aufhalten: „Nein, die gehören uns.“ Und vom Treppenabsatz oben tönte die hysterische Stimme seiner Mutter: „Frau Wipfler, es ist fünf Minuten nach zwölf Uhr, die Glocken haben eben aufgehört zu läuten.“



Zornig ging Anneliese zurück in ihre Küche und knallte lautstark die Türe zu. „So ein undankbares Volk“, schimpfte sie vor sich hin, „für die kann man machen, was man will, da kommt einfach nichts zurück.“



Eines Morgens traf Anneliese den Lehrer auf der Straße. Er hatte genau wie sie Schaufel, Kehrwisch und Eimer in der Hand.



„Was machen Sie denn da?“, fragte sie erstaunt.



„Das sehen Sie doch, ich sammle Mist für meinen Garten.“



Die Knoppel lagen auf seiner Straßenseite, eine weitere Diskussion war überflüssig.



Von da an lag sie auf der Lauer. Zwei Tage später erwischte sie dann den sauberen Herrn, wie er vor ihrem Haus, mit zufriedenem Lächeln und elegantem Schwung einen Platscher auf die Schaufel hob. Sie rannte schnell hinaus und baute sich vor ihm auf: „Herr Lehrer, was Sie da machen, ist nicht recht.“



„Wie meinen Sie das?“



„Die Knoppel stehen Ihnen nur bis zur Mitte der Straße zu.“



„Und wer sagt das?“



„Aber Herr Lehrer, das war doch schon immer so.“



„Das interessiert mich nicht.“



Anneliese kochte vor Wut, rannte schnurstracks ins Haus und hoch zur Frau Rieger. Die hörte sich die Geschichte an und gab ihr schließlich recht: „Wo kämen wir denn da hin, wenn jeder einsammeln würde, wo es ihm einfällt. Wir beschweren uns beim Bürgermeister.“



„Alle Achtung, da wäre ich nicht drauf gekommen. Die Flüchtlinge sind doch nicht so blöd“, dachte Anneliese.



„Herr Lehrer“, eröffnete der Bürgermeister die Sitzung des örtlichen Friedensgerichtes, „die beiden Damen hier, Frau Wipfler und Frau Rieger, führen Beschwerde über Sie. Von alters her ist es bei uns üblich, dass jeder vor seinem Haus die Gaulsknoppel und Kuhplatscher zwecks Düngung seines Gartens einsammeln darf. Dieses Recht gilt bis auf die Mitte der Straße, genau wie die Kehrpflicht. Nun behaupten die beiden, dass Sie sich nicht an diese Vorschrift halten. Was sagen Sie dazu?“



„Herr Bürgermeister, das ist alles Quatsch, zum Lachen ist das. Die Straße ist öffentlich, jeder darf sie benutzen und jeder darf den Mist aufsammeln, wo es ihm gefällt.“



„Herr Lehrer“, mischte sich da Frau Rieger ein, „wenn Sie auf der Straße einen Zehn-Mark-Schein finden, wem gehört der?“



„Dem Eigentümer“, gab dieser schlagfertig zurück.



„Wenn das so ist“, meinte da der Beisitzer vom Friedensgericht, der Bauer Oswald, „dann habe ich auch etwas dazu zu sagen: Das, was meine Pferde fallen lassen, gehört also mir. Und wenn ich es nicht selbst einsammle, verzichte ich darauf, ist das richtig?“



Nachdem rundum zustimmend genickt wurde, fuhr er fort: „Ehrlich gesagt, mir ist es scheißegal, wer den Mist einsammelt, ich habe zu Hause genug davon.“



„Oswald“, regte sich der Bürgermeister auf, „das ist dummes Geschwätz, irgendwie muss die Sache geregelt werden, also gehen wir nach dem Gewohnheitsrecht.“



Plötzlich grinste der Lehrer breit über das ganze Gesicht. „Also meine Damen und Herren, ich halte das ganze ja für Unfug. Aber vielleicht gibt es eine Lösung. Wenn Sie, Herr Oswald, so viel Mist haben, bringen Sie mir einfach eine Fuhre für meinen Garten, dann können von mir aus die beiden Damen auf der ganzen Straßenbreite so viel einsammeln, wie sie wollen.“



In dem Moment fiel dem Bauer Oswald blitzschnell sein Seppl ein, der beim Lehrer in die Schule ging, und stimmte ganz schnell zu: „Bürgermeister, du weißt doch, wenn ich etwas für die Allgemeinheit tun kann, bin ich immer dabei.“



Den Abend haben dann alle im Gasthaus zur Sonne beim Freibier vom Bürgermeister beschlossen.



Zehn Jahre später tuckern in aller Frühe die Traktoren vor Annelieses Küchenfenster vorbei. Da muss sie manchmal an die Zeit denken, als sie mit Frau Rieger, die längst nicht mehr bei ihr wohnt, und dem Lehrer über die Gaulsknoppel und Kuhplatscher gestritten hat. Dass sich die Welt verändert hat, kann sie ja noch verstehen, aber dass man seit Neuestem die wertvolle „Suddelbrüh“ von den Toiletten in die Kanalisation laufen lässt und dafür Blaukorn zum Düngen der Erdbeerpflanzen nimmt, kann sie nicht nachvollziehen. „Früher haben die Leute beim Schaffen halt doch mehr im Kopf gehabt“, denkt sie, die Anneliese.




Ein elsässischer Gast

 (1945)



Erna Straub rückte die Stühle um die Tische zurecht, ging zum Schanktisch, nahm ein Glas nach dem anderen und wischte es mit dem Geschirrtuch blank. Da ging die Tür auf und ein französischer Soldat in Uniform kam herein.



„Hübscher Kerl“, schoss es ihr durch den Kopf. Dann aber erschrak sie: Seine Augen waren brennend, starr, irr.



Da stand er auch schon vor ihr und sprach sie auf deutsch an: „Geld her, schnell!“



Da erst nahm sie die Pistole in seiner Hand wahr. Sie lachte: „Was willst du? Geld? Das kannst du haben. Ich kann eh nichts damit anfangen.“



„Reden Sie nicht. Machen Sie die Kasse auf oder ich schieße.“



„Junge, Junge, du bist doch von drüben, aus dem Elsass, vielleicht kenne ich deine Mutter. Was würde die sagen, wenn sie wüsste, was du hier treibst!“



Der Soldat wurde blass, langsam ließ er die Pistole sinken.



Erna griff vorsichtig nach der Waffe und legte sie auf den Schanktisch. „Komm, setz dich und trink ein Glas Wein mit mir.“



Er wusste nicht, wie ihm geschah. Er hatte sich alles so genau überlegt und dann brachte ihn diese Alte mit seiner Mutter durcheinander. In ihrer Kittelschürze, die Haare zum Knoten gebunden und mit den strengen dunklen Augen sah sie ihr auch noch ähnlich. Wortlos nippte er an seinem Glas.



Erna ließ ihn einen Moment seinen Gedanken nachhängen. „Erzähle, warum hast du das gemacht, Junge?“



Er senkte verlegen den Kopf. „Das verstehen Sie nicht. Und sagen Sie nicht immer Junge zu mir, ich heiße François.“



„Gut François, was verstehe ich nicht? Ich bin auch nicht von gestern und habe schon einiges erlebt in diesem Krieg.“



„Ich hasse euch Deutsche!“



„Meinst du, mir gefällt der Krieg? Vorher hatten wir immer viele Kunden von der anderen Seite. Gemütliche und lustige Leute, und wenn drüben Kirchweih war, sind wir mit dem Boot zum Tanzen gefahren. Und meine erste große Liebe war so ein junger Mann wie du, ein Elsässer. Soll ich euch jetzt auch hassen? Deine Kameraden, die uns verhungern lassen?“ Es musste mal raus, all das, was sie die letzten Tage beschäftigt hatte und über das sie mit niemandem reden konnte. „Aber eines sage ich dir, wenn ich eine Tochter hätte und die Marokkaner hätten sie vergewaltigt, wie es hier im Dorf passiert ist, würdest du nicht hier sitzen.“ Ganz in Gedanken hatte sie nach dem Küchenmesser gegriffen, das zufällig auf dem Tisch lag.

 



Erschrocken wich er zurück.



Sie warf es wieder hin und strich mit der Hand ihre sowieso schon straffen Haare glatt. „Was hat der Krieg nur aus uns gemacht!“



Beide schauten in ihr Glas und hingen ihren Gedanken nach.



„Und wie bist du auf diese blöde Idee gekommen?“



Er zuckte mit den Schultern: „Als die Deutschen das Elsass besetzt haben, war das am Anfang gar nicht schlimm. Meine Eltern hatten keine schlechte Meinung von ihnen und irgendwann würden sie wieder verschwinden, meinten sie. So wie schon einmal. Dann zogen sie meinen Vater ein, er fiel im Kessel von Stalingrad. Bevor sie mich auch noch holten, flüchtete ich mit einem Freund in die Schweiz. Zwei Jahre lang habe ich das Bild meiner Freundin Jacqueline mit mir herumgetragen. Im Internierungslager bei Basel warben mich die Franzosen an. Zuerst wurde ich in Nordafrika in der französischen Armee ausgebildet, dann ging es quer durch Frankreich.

 Ich schaute oft ihr Foto an. Wir hatten nichts miteinander, habe mich nicht getraut, weil ich dachte, sie ist ein anständiges Mädchen und wartet auf mich. Nach dem Krieg würden wir heiraten. Ja, und dann war ich bei der Kompanie, die in unser Dorf einmarschierte. Die Menschen standen am Straßenrand. Freunde, Schulkameraden und Nachbarn jubelten und weinten vor Freude. Ich suchte Jacqueline, aber fand sie nicht. Meine Großmutter war inzwischen gestorben und meine Mutter hatten sie nach meiner Flucht ins KZ gesteckt. Mein Cousin Richard war der letzte Verwandte im Dorf. Von ihm erfuhr ich schließlich, dass Jacqueline mit dem deutschen Lehrer ein Verhältnis hatte und ein Kind bekam. Eines Abends hat sie mich in meinem Quartier besucht. Ich habe sie fortgeschickt.“



„Und was hat das mit deinem Überfall hier zu tun?“



„Ich wollte mich rächen, für meine Mutter, für Jacqueline.“



„Und was wolltest du mit dem Geld?“



François wurde rot. „Ich wollte“, stotterte er, „ich wollte mir damit ein Mädchen kaufen.“



Sie legte ihre Hand auf seine. „Junge, Junge, du brauchst dich doch nicht zu schämen. Wenn es das ist, was du brauchst, bediene dich. Ich bekomme so gut wie nichts mehr für die alten Reichsmark, aber wenn es dafür reicht, bitte!“



François liefen die Tränen herunter. Erna stand auf und drückte ihn an sich. „Was für ein Elend, ich glaube, was dir fehlt, ist vor allem eine Mutter.“



„Ich will doch gar nicht ins Bordell, ich will Jacqueline“, schluchzte er.



„Viele Soldaten, die Monate und Jahre von zu Hause weg sind, machen das manchmal und trotzdem lieben sie ihre Frau. Auch Frauen sind allein und einsam. Da kann man kein Urteil fällen. Für deine Jacqueline war es bestimmt auch nicht leicht, als du von heute auf morgen verschwunden bist. Hör dir doch erst einmal an, was sie zu sagen hat. Der Krieg hat so viele unschuldige Menschen zurückgelassen.“



Als François gehen wollte, umarmte ihn Erna. „Lass von dir hören, ich würde mich freuen.“



Ein paar Jahre später kam ein Brief:



Liebe Frau Straub,



ich bin der junge Mann, der Sie im Frühjahr 1945 überfallen hat. Mit Jacqueline habe ich dann doch geredet, wie Sie mir geraten haben. Wir trafen uns noch ein paar Mal und haben versucht, neu anzufangen, aber wir passten einfach nicht mehr zusammen. Es war zu viel passiert.



Inzwischen bin ich mit einer deutschen Frau verheiratet, die ich als Besatzungssoldat in Speyer kennengelernt habe. Wir haben eine Tochter von zwei Jahren und einen fünfjährigen Sohn und sind sehr glücklich. Ich bin hier geblieben und arbeite jetzt in der BASF. Noch ein paar Jahre und ich bin selbst ein Deutscher!




Streitkultur

 (2002)



Sie:Schau mal hinter der Zeitung vor, ich will etwas

 mit dir besprechen.



Er: Ich kann lesen und zuhören gleichzeitig.



Sie: Dass ich nicht lache.

 Alles muss ich dir dreimal erzählen. Jetzt hör mal zu!



Er: Bist du mit deinem Teil schon fertig?



Sie: Die Todesanzeigen habe ich gelesen.

 Es ist niemand dabei, den wir kennen.



Er:Ist das alles, was dich interessiert?



Sie: Wenn ich nicht jeden Tag nachschaue, würdest du Weihnachtskarten an Leute verschicken, die gestorben sind.



Er: Jeden Morgen das Gleiche: „Es hat den alten Herrn Maier erwischt.“ Oder: „Das hätte ich nicht gedacht, dass das Mariechen so alt geworden ist.“ Man könnte meinen, es gäbe keinen größeren Spaß als zu sterben.



Sie: Es ist schon ein schönes Gefühl, wenn du nicht selbst dabei bist. Aber – könntest du mal im Horoskop

 nachsehen, ob wir diese Woche im Lotto gewinnen?



Er: Davon steht nichts drin. Aber, dass ich Glück in

 der Liebe habe.



Sie:Wenn du mich weiter so aufregst, mit mir nicht!

 Das kann ich dir versprechen.



Er: Dann halt mit einer anderen.



Sie: Da muss ich aber lachen. Wer soll dich alten Simpel

 wollen?



Er: In meinem Alter hat schon mancher seine Frau

 gegen eine jüngere eingetauscht.



Sie: Aber nicht mit deiner Rente und deinen Marotten.

 Da musst du schon etwas mehr zu bieten haben.

 Außerdem habe ich gestern gelesen, dass „reife Frauen bei jüngeren Männern große Chancen haben“.



Er: Was willst denn du mit einem Jungen anfangen?



Sie: Das Gleiche wie du. Der würde mir vielleicht auch

 einmal Blumen mitbringen und ich müsste mir nicht dauernd anhören, dass ich mir die selbst im Garten

 holen kann. So einem ist die äußere Schönheit

 nicht so wichtig.



Er: Irgendwann wacht er auf und sieht eine alte Schachtel neben sich im Bett.



Sie: Jede Frau ist schön, man muss nur richtig hinschauen.



Er: Da musst du dir aber einen suchen, der auf beiden

 Augen blind ist.



Sie:Jetzt reicht es wieder, leg endlich die Zeitung weg.



Er:Ich habe gedacht, wenn ich Rentner bin, kann ich morgens ganz in Ruhe meine Zeitung lesen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Seit ich daheim bin, fängt es gleich nach dem Frühstück an: „Du könntest den

 Mülleimer leeren, könntest den Hof kehren,

 könntest Einkäufe machen. Der Keller müsste auch mal wieder aufgeräumt werden, das Auto in die Inspektion gebracht, das Schlafzimmer frisch gestrichen und die Schrauben am Küchentisch angezogen werden.“ Ich frage mich, wer das früher alles gemacht hat.



Sie: Wahrscheinlich hatte ich einen Liebhaber, der das

 alles aus Dankbarkeit erledigt hat.



Er:Ich glaube eher, du machst ab und zu heimlich

 etwas kaputt, damit es mir nicht langweilig wird.



Sie: Genauso wird es sein.



Er: Kann ich jetzt weiterlesen?



Sie: Nein, das kommt nicht in Frage. Wenn ich jetzt

 ins Bad gehe, verkrümelst du dich und ich sehe dich erst wieder zum Mittagessen.



Er:A propos Bad, ich weiß auch nicht, was du da immer

 so lange zu tun hast. Von den vielen Salben wirst

 du auch nicht schöner.



Sie: Womit wir wieder mal beim Thema wären. Wenn

 ich dir nicht mehr gefalle, such dir halt eine andere.



Er:Jetzt reg dich wieder ab, ich weiß doch, dass ich so

 eine wie dich nicht mehr finde. Wer kann heute noch Schnorrgickel, Grießknöpf’ und Dampfnudel kochen? Und dein Hefezopf, der ist einmalig.



Sie: Klar, bei den alten Männern muss man sich damit abfinden, dass die Liebe nur noch durch den Magen geht. Aber könnten wir jetzt mal vom Wochenende reden?



Er: Warum, ist da etwas Besonderes?



Sie: Du hast schon wieder alles vergessen. Tanja kommt doch mit den Kindern.



Er: Und unser Schwiegersohn hat mal wieder keine Zeit?



Sie:Habe ich das gesagt?



Er:Drück dich halt präzise aus. Immer muss ich mir die Hälfte von dem, was du sagen willst, selbst ausdenken.



Sie:Mein Gott, muss ich so blöde Diskussionen mein

 restliches Leben aushalten?



Er: Nein, da bin ich mir ganz sicher. Hier steht in der

 Zeitung, „die Lebenserwartung der Frauen liegt sechs Jahre höher als die der Männer.“ Und das ist bloß der Durchschnitt, das heißt, wenn die Frau so plagt wie du, geht’s noch schneller. Also, richt’ dich darauf ein, bald bist du mich los. – Gerade hat’s geläutet.



Sie: Na und, das wird eh für dich sein.



Er: Deswegen kannst du trotzdem die Türe aufmachen.



Sie:Warum immer ich? Hast du schon bemerkt, dass wir im

 Zeitalter der Gleichberechtigung leben?



Er:Aber du sitzt doch viel näher dran. Jetzt geh schon,

 es hat schon wieder geläutet.



Sie:Ich sehe nicht ein, dass immer ich die Dumme bin.



Er: Du wolltest doch da sitzen damit du nicht so weit zum Herd hast.



Sie: Ab morgen darfst du kochen. So oft, wie du den Köchen



im Fernsehen zuschaust, musst du es langsam können.



Er:Jetzt ist er weg.



Sie: Wer?



Er: Das weiß ich doch nicht.



Sie:Du gehst mir auf den Wecker mit der Diskutiererei.

 War das schön, als du noch arbeiten gegangen bist.



Er: Da muss ich dir ausnahmsweise recht geben. Was



meinst du, warum ich morgens so lange Zeitung lese?



Sie: Weil du nichts zu tun hast.



Er:Das ist mal wieder typisch. Nein, ich such’ mir

 einen Job.



Sie: Und, hast du schon was gefunden?



Er: Du wirst lachen, ich bin Dozent an der Volkshochschule.



Sie: Ausgerechnet du, du kannst doch niemand was beibringen.



Er:Täusch dich da mal nicht. Der Andrang ist so groß,

 dass ich den Kurs zweimal halten muss.



Sie:Also, ehrlich, das kann ich mir nicht vorstellen.



Er:Da kann man sehen, dass du meine wahren Fähigkeiten noch gar nicht erkannt hast.



Sie: Und was soll das für ein Kurs sein?



Er: „Streitkultur im Rentnerleben.“ Untertitel: „Erfahrener Rentner verrät rhetorische Tricks und Tipps.“



Sie:Ah, jetzt weiß ich, warum du die letzten Wochen wegen



jedem Mist mit mir rumgestritten hast.



Er: Ja, da hab’ ich Erfahrungen für meinen Kurs gesammelt.



Sie:Eigentlich sollte ich mich darüber aufregen. Aber wenn ich auf diese Weise öfter mal meine Ruhe habe, soll es mir gerade recht sein.




Ein badischer Elsässer

 (1945)



Rudolf Holzwarth stand wie jeden Morgen erschöpft und hungrig in der Reihe. Irgendwann würden sie ihn in die Krankenbaracke tragen, und von da waren bisher die wenigsten zurückgekommen. In diesem Moment riss ihn das Wort „Elsass“ aus seiner Lethargie – „Alle Elsässer raustreten!“



Später hätte Rudolf nicht mehr genau sagen können, warum er spontan die drei Schritte nach vorne gemacht hatte. Der Kommandant kam auf ihn zu: „Du kennen de Gaulle?“



Rudolf nickte: „Französischer General.“



„Weiter“, der Kommandant bohrte ihm den Zeigefinger in die Brust.



Rudolf wurde es warm. Was war de Gaulle noch? „Chef der Exilregierung.“



Der Druck des Fingers wurde stärker. „Falsch, de Gaulle ist Regierungschef von legitimer Regierung. Du mitkommen“, er drehte sich auf dem Absatz um.



„Dawei“, ein Wachsoldat stieß ihn vorwärts.



In der Schreibstube blätterte der russische Offizier in seiner Akte. „Du bist in Breisach geboren, das ist doch in Deutschland?“ Er schaute fragend hoch.



„Nein, in Breisach im Elsass, auf der anderen Seite des Rheins. Das war vor dem Krieg französisch.“



„Warum du deutscher Soldat, Nazi?“



Rudolf stöhnte innerlich. „Der kapiert überhaupt nichts.“



„Ich bin in Breisach in Frankreich geboren“, versuchte er es noch einmal. „Wir wurden besetzt. Die Deutschen sagen, das Elsass ist deutsch, deshalb wurden wir zur deutschen Armee eingezogen.“ Er nahm ein leeres Blatt und einen Bleistift vom Schreibtisch und malte eine lange Linie von oben nach unten, „das ist der Rhein.“ Dann einen Kreis am unteren Ende. „Das ist Basel in der Schweiz, linke Seite Elsass, rechte Seite Deutschland.“ Mittendrin zeichnete er noch einen großen und einen kleinen Kreis: „Das ist Breisach in Deutschland und das ist Breisach in Frankreich.“ Außerdem zeichnete er Straßburg, Colmar und die Vogesen ein und machte einen großen Bogen um das Ganze. „Das ist das Elsass, wir sprechen deutsch und französisch. Die Deutschen sagen, wir sind deutsch, die Franzosen, wir sind französisch.“ Er fasste mit der Hand ans Herz, „hier sind wir Franzosen.“

 



Der Kommandant rief nach seiner Sekretärin, die ihm ein Formular auf den Schreibtisch legte. „Ministerium suchen für de Gaulle Elsässer.“ Der Kommandant unterschrieb, knallte einen Stempel drauf und grinste Rudolf breit an. „Du frei.“



Nun ging alles sehr schnell. Unter den wachsamen Augen eines russischen Aufsehers räumte er seine Habseligkeiten zusammen. Auf dem Hof wartete ein Lkw mit laufendem Motor. Die Fahrt endete am Bahnhof einer Kleinstadt. Dort führte ihn ein Unteroffizier an das Ende des Bahnsteigs zu etwa zwanzig weiteren Gefangenen, die verschmutzt, krank und verlaust herumstanden oder dösend dahockten. Links und rechts hörte Rudolf den ihm so bekannten Dialekt, manche sprachen auch französisch. „Das sind alles Elsässer! Was passiert, wenn die merken, dass ich keiner von ihnen bin?“ Er setzte sich etwas abseits auf seinen Rucksack und drückte die Mütze ins Gesicht.



Gegen Abend erschien ein Offizier und ließ sie antreten, Rudolf hoffte inständig, dass ihn keiner ansprach. In gebrochenem Deutsch wurde ihnen erklärt, dass sie mit dem Zug zunächst nach Tambow in ein Sammellager kämen, bevor man sie weiter nach Frankreich schickte. Dann wurden Zigaretten ausgeteilt. Rudolf steckte seine ein. Er rauchte nicht, würde sie aber zum Tauschen einsetzen. Eine Stunde später kamen zwei Frauen mit einem Kessel wässriger Suppe und einer Scheibe Brot für jeden.



Plötzlich entstand auf dem Bahnsteig Unruhe. Befehle wurden laut. Eine Dampflok mit mehreren Waggons stampfte mit Getöse in den Bahnhof. In den vorderen Wagen stiegen Zivilisten aus und ein, ganz normale Leute. Die Kriegsgefangenen, es waren inzwischen über vierzig, wurden zum Viehwagen am Ende des Zuges geleitet. Sie fuhren die ganze Nacht und den nächsten Tag durch die immer gleiche eintönige Landschaft, manchmal standen sie stundenlang auf einem Nebengleis,

 einige Male wurden sie an einen anderen Zug angehängt. Schnell hatten sich kleine Gruppen gebildet, die von zu Hause erzählten und mit selbst gebastelten Karten spielten.



Am zweiten Tag setzte sich ein Colmarer zu ihrer Gruppe. Als er Rudolf sprechen hörte, fragte er: „Deinen Dialekt kenn ich nicht, wo kommst du her?“



Rudolf sagte rasch: „Aus Breisach!“



„Aber nicht aus Neuf-Brisach.“



„Der ist aus Alt-Breisach“, meinte ein anderer.



Rudolf war blass geworden. Also wussten sie, dass er nicht aus dem Elsass kam.



„Dann ist er ja ein Schwob!“



Die ganze Runde lachte. Einer sagte: „Na und, der ist wie wir im Dreck gelegen. Früher war ich oft drüben in Alt-Breisach.“



„Was ist, spielen wir weiter?“, meinte ein anderer, der nur kurz von seinen Karten hochgeschaut hatte.



Rudolf konnte es nicht glauben. Alle hatten es gewusst und keiner hatte ihn verraten, es schien ihnen nicht einmal besonders wichtig zu sein.



In Tambow fiel Rudolf nicht auf, hier waren Belgier, Franzosen, Luxemburger und Deutsche bunt zusammengewürfelt. Ausländische Nazis, die freiwillig in die Deutsche Armee eingetreten waren, genauso wie zwangsrekrutierte Elsässer oder ehemalige französische Fremdarbeiter. Eines Tages wurden die rund 1.000 hier im Lager zusammengezogenen Elsässer zu einem langen Zug mit offenen Waggons gebracht. Ihnen wurde versichert, dass es jetzt endgültig nach Frankreich gehe. Auf der langen Fahrt frischte Robert seine Schulkenntnisse in Französisch auf. Sie überquerten die Wolga, in Polen die Oder. In Seelow, der ersten deutschen Stadt, ermunterte ihn Werner, mit dem er sich angefreundet hatte, abzuhauen und sich so durchzuschlagen. Auf dem Bahnsteig patrouillierten aber zu viele russische Soldaten. Ohne gültige Entlassungspapiere würde er es nie bis nach Hause schaffen, das wurde ihm schnell klar.



In der folgenden Nacht fuhren sie durch Berlin. Alle drängten sich an die offenen Türen. Links und rechts im Mondlicht sahen sie eine gespenstische menschenleere Ruinenlandschaft. Wie konnte man hier überleben?



Vorerst endgültiger Halt war in Kevelaer nahe der holländischen Grenze, letzte Chance für eine Flucht. Aber ohne Papiere traute er sich wieder nicht. Er blieb lieber bei der Gruppe, bei der er sich relativ sicher fühlte.



Nach drei Tagen ging es endlich weiter, über Holland und Belgien nach Valenciennes. Die erste französische Stadt, alle jubelten. Der Bahnsteig war schwarz von Menschen. Unbekannte Frauen fielen ihnen um den Hals. Helferinnen vom Roten Kreuz verteilten halbe Baguettes, Wurst und Wein. Die meisten der Ankömmlinge weinten. Endlich zu Hause!



Eine Stunde später ging es weiter. In der Nacht fuhren sie in den Gare de l’Est in Paris ein. Wieder Trauben von Menschen. Viele wollten wissen, woher sie kämen, fragten nach Angehörigen, Männern, Söhnen. Da kamen französische Soldaten in adretten sauberen Uniformen und verschlossenen Mienen und übernahmen sie. Vor dem Bahnhof ließ man sie antreten, dann wurden sie auf Busse verteilt. Sie fuhren durch das dunkle und menschenleere Paris, ab und zu kam ihnen ein Militärlastwagen entgegen. Wieder ein Lager, mitten im Grünen, eingezäunt und bewacht. Sie bekamen Suppe, mussten dann auf dem Boden schlafen, Ausgehverbot. Was kam da auf sie zu? Rudolf konnte den ungebrochenen Optimismus seiner Kameraden nicht teilen.



Am nächsten Morgen saß er vor einem müde aussehenden Zivilisten, daneben ein Offizier der Militärpolizei und eine Frau in Uniform. „Ihr Name“, wurde er sachlich und unpersönlich gefragt. Dem Beamten war anzusehen, dass er die Prozedur langsam satt hatte.



„Rudolf Holzwarth.“



„Dienstgrad?“



„Obergefreiter.“



„Geburtsdatum und Ort?“



„Zwanzigster Juli 1922 in Neu-Breisach.“



„Wann wurden Sie eingezogen?“



„Am ersten Februar 1943.“



„Wo sind Ihre Papiere?“



„Die haben mir die Russen abgenommen.“



„Waren Sie in der NSDAP?“



„Nein.“



„Waren Ihre Eltern in der NSDAP?“



„Mein Vater arbeitete bei der Bahn. Da musste er in die Partei eintreten.“



Die Frau lächelte bitter. „Ja, ja, die Elsässer, keiner war Nazi, alle im Widerstand.“



So ging es noch eine ganze Weile weiter. Dass er nicht gut französisch sprach, störte niemanden. Er war mittlerweile schweißgebadet. Plötzlich hielt er es nicht mehr aus. „Ich bin kein Elsässer“, platzte er heraus. „Ich bin aus Alt-Breisach, die Russen haben mich versehentlich freigelassen.“



Der Zivilist, vor dem Krieg Geschichtslehrer, hatte die ganze Zeit in seinen Akten geblättert. Er schaute plötzlich interessiert hoch. „Das war gar nicht so falsch. Die Russen kennen sich aus in der Geschichte. Breisach ist eine alte elsässische Stadt.“



„Ich meine Alt-Breisach.“



„Ich auch. Wissen Sie nicht, dass Ludwig XIV. dort von seinem berühmten Baumeister Vauban eine Festung bauen ließ?“



„Was machen wir jetzt mit ihm? Zeigen Sie mal Ihren Entlassschein!“, unterbrach der Offizier. „Soweit ich verstehe, wurde er von den Russen als Kriegsgefangener entlassen und nach dem Alliiertenabkommen kann er von uns nur wieder festgesetzt werden, wenn er wegen eines Kriegsverbrechens angeklagt wird.“



„In der Liste steht er auf jeden Fall nicht“, mischte sich die Frau ein. „Ich glaube, er ist in Ordnung.“



Der Offizier stand auf: „Hier haben Sie einen Entlassschein nach Frankreich. Gehen Sie damit zur Zahlstelle und lassen sich Geld und eine Fahrkarte geben. Sie sind frei.“ Rudolf stand auf und reichte ihm die Hand. „Danke.“ Die anderen nickten, „der nächste.“



Nachdem er sich beim Roten Kreuz frische Kleidung besorgt hatte, nahm Rudolf mit einigen Kameraden, die den gleichen Weg hatten, den nächsten Zug nach Straßburg.



Am achten Oktober 1945 betrat Rudolf mit klopfendem Herzen die Behelfsbrücke vom französischen Neuf-Brisach zum deutschen Alt-Breisach. Die Wachposten schauten gelangweilt auf den Fluss und unterhie