Geschichten aus Baden und dem Elsass

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From the series: Lindemanns #79
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„Ah. Sie kamen mit den Elsässern, die de Gaulle aus Russland geholt hat?“

Er nickte.

„Aber Sie sind kein Elsässer“, stellte der Offizier fest, „das hört man an Ihrem Dialekt. Sie sind Deutscher.“ Da musste er die Militärverwaltung in Colmar einschalten, das konnte er nicht entscheiden.

Nachdem er mehrmals weiterverbunden wurde, landete er schließlich beim zuständigen Oberst. Robert hörte ihn mehrmals „oui, mon colonel“ sagen, wobei sein Gesicht eine immer rötere Farbe annahm. Schließlich legte er den Telefonhörer langsam und vorsichtig auf. Er rückte seine Krawatte zurecht. „Ich habe den Herrn Oberst beim Mittagessen gestört“, berichtete er seinem Kollegen. „Er schrie mich an, es sei eine Frechheit, ihn wegen so einer Lappalie anzurufen. ‚Warum der Gefangene eine Freilassung hat, geht Sie einen Dreck an’, genau so hat er es gesagt.“ Er gab Rudolf den Entlassschein zurück und nickte ohne ein weiteres Wort der Erklärung in Richtung Deutschland.

Erst als Rudolf auf der anderen Seite der Brücke war, drehte er sich noch einmal um. Er konnte gerade noch das Bürogebäude erkennen, sonst nichts. Erleichtert schaute er den Soldaten auf der deutschen Seite entgegen. Da fiel ihm fast das Herz in die Hose, es waren wieder Franzosen. Sie wiesen ihn in ein Büro, das genau so aussah wie auf der anderen Seite. Hinter der Abtrennung stand allerdings ein Deutscher in Zivil. Robert hielt ihm den Entlassschein entgegen. Der warf einen kurzen Blick darauf und lächelte. „Herzlich willkommen in der Heimat. Es sind noch nicht viele entlassene Kriegsgefangene hier durchgekommen. Kommen Sie gut nach Hause.“

Mail-Verkehr (2007)

Von: Berthold Kamuf

Datum: 21. November 2008 16:10

An: Maja-Studio

Betreff: Bestellung

Sehr geehrte Damen und Herren,

bitte senden Sie mir: 500 Cellophanhüllen, 12 x 20 cm,

Sonderposten, 14,50 Euro, Best. Nr. 1352

Mit freundlichen Grüßen

Berthold Kamuf, freier Fotograf

Von: Maja-Studio

Datum: 22. November 2008 8:30

An: Berthold Kamuf

Betreff: Bestellung

Sehr geehrter Herr Kamuf,

gerne bestätigen wir Ihren Auftrag: 500 Cellophanhüllen,

12 x 20 cm, Sonderposten, 14,50 Euro, Best. Nr. 1352, zzgl. 5 Euro Versandkosten. Rechnung geht Ihnen mit gleicher Post zu.

Mit freundlichen Grüßen

Maja Steller

Maja-Studio

Von: Maja-Studio

Datum: 3. Dezember 2008 9:15

An: Berthold Kamuf

Betreff: Rechnung

Sehr geehrter Herr Kamuf,

wir bestätigen den Eingang des Rechnungsbetrages, leider haben Sie für Versandkosten nur 1,45 Euro und nicht 5 Euro bezahlt. Wir bitten um die Überweisung von 3,55 Euro auf das Ihnen bekannte Konto bis zum 15. Dezember 2008.

Mit freundlichen Grüßen

Maja Steller

Maja-Studio

Von: Berthold Kamuf

Datum: 4. Dezember 2008 16:44

An: Maja-Studio

Betreff: Rechnung v. 28.11. 08

Sehr geehrte Frau Steller,

die Sendung hatten Sie als Brief für 1,45 Euro versandt.

Deshalb gibt es keinen Grund, Ihnen mehr zu erstatten.

Mit freundlichen Grüßen

Berthold Kamuf, freier Fotograf

Von: Maja-Studio

Datum: 5. Dezember 2008 18:30

An: Berthold Kamuf

Betreff: Rechnung v. 28.11. 08

Sehr geehrter Herr Kamuf,

als Selbstständiger sollten Sie eigentlich wissen, dass Versandkosten nicht gleich Portokosten sind. Ich muss die Sendung auch verpacken und zur Post bringen. Wenn ich gewusst hätte, dass Sie nur Schwierigkeiten machen, hätte ich Ihnen das Sonderangebot, an dem ich eh nichts verdiene, nur per Vorkasse oder Nachnahme zugesandt. Ich darf Sie nochmals nachdrücklich bitten, innerhalb von 2 Wochen den Restbetrag zu überweisen.

Mit freundlichen Grüßen

Maja Steller

Maja-Studio

Von: Berthold Kamuf

Datum: 6. Dezember 2008 9:23

An: Maja-Studio

Betreff: Ihr Schreiben v. 5.12.08

Sehr geehrte Frau Steller,

wenn Sie die Kosten für Verpackung (1 DIN A 4 Umschlag) und die Arbeitszeit rechnen, kommen vielleicht 30 Cent dazu. Großzügig gerechnet macht das dann 2 Euro Versandkosten, aber niemals 5 Euro. Falls Sie Wert darauf legen, überweise ich Ihnen die fehlenden 55 Cent. Zu weiteren Zugeständnissen bin ich aber auf keinen Fall bereit. Ich habe die Cellophanhüllen auch nur genommen, weil sie so preisgünstig sind.

Mit freundlichen Grüßen

Berthold Kamuf, freier Fotograf

Von: Maja-Studio

Datum: 7. Dezember 2008 17:32

An: Berthold Kamuf

Betreff: Ihr Schreiben v. 6.12.08

Sehr geehrter Herr Kamuf,

was sind Sie für ein Kleinkrämer. Wahrscheinlich machen Sie dieses Theater nur, weil ich eine Frau bin. Von mir aus behalten Sie die 3,55 Euro und werden glücklich damit.

Mit freundlichen Grüßen

Maja Steller

Maja-Studio

Von: Berthold Kamuf

Datum: 8. Dezember 2008 10: 40

An: Maja-Studio

Betreff: Ihr Schreiben v. 7.12.08

Sehr geehrte Frau Steller,

gegen den Vorwurf des Kleinkrämers muss ich mich aufs Heftigste verwahren. Die Tatsache, dass ich mich mit Ihnen sachlich auseinandersetze, zeigt, dass ich Frauen als gleichberechtigte Partner betrachte. Ich möchte nicht, dass Sie in Ihrer Existenz bedroht sind, weil ich den geforderten Betrag nicht zahle. Wenn Sie mir glaubhaft versichern, dass Sie auf das Geld angewiesen sind, überweise ich es. Sie sollten allerdings bedenken, dass Sie vielleicht einen Kunden verlieren, der auch in Zukunft bei Ihnen bestellen möchte. Nicht nur Cellophanhüllen. Ich kann Ihnen versichern, dass ich als zuverlässig und zahlungsfähig gelte.

Mit freundlichen Grüßen

Berthold Kamuf, freier Fotograf

Von: Maja-Studio

Datum: 9. Dezember 2008 17:30

An: Berthold Kamuf

Betreff: Ihr Schreiben v. 8.12.08

Sehr geehrter Herr Kamuf,

auf einen Kunden wie Sie kann ich gerne verzichten. Behalten Sie Ihr Geld und lassen Sie mich in Zukunft in Ruhe.

Mit freundlichen Grüßen

Maja Steller

Maja-Studio

Von: Maja-Studio

Datum: 11. Dezember 2008 9:00

An: Berthold Kamuf

Betreff: Ihr Schreiben v. 8.12.08

Sehr geehrter Herr Kamuf,

auf meinem Konto sind 5 Euro von Ihnen eingegangen. Almosen brauche ich nicht, ich werde Ihnen die überzahlten 1,45 Euro zurücküberweisen. Auf jeden Fall freue ich mich, dass Sie einsichtig geworden sind.

Mit freundlichen Grüßen

Maja Steller

Maja-Studio

Von: Berthold Kamuf

Datum: 12. Dezember 2008 8:05

An: Maja-Studio

Betreff: Ihr Schreiben v. 11.12.08

Liebe Frau Steller,

es tut mir leid, dass Sie meine Überweisung vollkommen falsch verstanden haben. Zugegeben, es macht mich nicht arm, wenn ich für Versandkosten 5 Euro statt 1,45 Euro zahle. Ich habe mich nur geärgert, weil ich mich über den Tisch gezogen fühlte. Und das hat überhaupt nichts mit der Höhe des Betrages zu tun. Glauben Sie mir, ich weiß wie ein kleiner Selbstständiger, pardon Selbstständige (ich will mir nicht wieder einen Macho-Vorwurf einholen) zu kämpfen hat. Deshalb nehmen Sie die 1,45 Euro Überzahlung einfach als Ersatz für die Zeit, die Sie beim Mail-Schreiben aufgewendet haben. Für das bevorstehende Weihnachtsfest wünsche ich alles Gute.

Mit freundlichen Grüßen

Berthold Kamuf, freier Fotograf

Von: Maja-Studio

Datum: 12. Dezember 2008 15:30

An: Berthold Kamuf

Betreff: Ihr Schreiben v. 12.12.08

Lieber Herr Kamuf,

was bilden Sie sich eigentlich ein? Meinen Sie vielleicht, ich bin auf 1,45 Euro angewiesen? So wie Sie sich äußern, sind Sie ein Macho, da können Sie noch so viel „Kreide fressen“. Ich kann mir gut vorstellen, wie Sie sich amüsieren, weil Sie jetzt doch das letzte Wort behalten haben. Dies war natürlich der beste Zug, großzügig mehr zu bezahlen!

Auch ich wünsche Ihnen frohe Weihnachten und hoffe, dass damit die Angelegenheit beendet ist.

Mit freundlichen Grüßen

Maja Steller

Maja-Studio

Von: Maja-Studio

Datum: 13. Dezember 2008 12:21

An: Berthold Kamuf

Betreff: Blumenstrauß

Lieber Berthold,

ich darf Sie doch so nennen? Was fällt Ihnen nur ein, mir einen Blumenstrauß zu schicken? Das letzte Mittel des Macho-Mannes, um eine Frau zum Nachgeben zu bringen? Trotzdem, die Blumen sind wunderschön und es ist lange her, dass ich welche bekommen habe. Ich kann nicht anders. Ich muss mich herzlich bedanken. Altmodische Männer haben doch etwas Besonderes an sich. Bei den modernen, emanzipierten wird man zum Kaffee eingeladen und wenn man dann nicht „die Briefmarkensammlung“ anschauen will, muss man selbst bezahlen.

Herzlichen Gruß und noch mal schöne Feiertage.

Maja

Von: Berthold Kamuf

Datum: 13. Dezember 2008 13: 24

An: Maja-Studio

Betreff: Blumenstrauß

Liebe Maja,

irgendwie erscheinst du mir so vertraut, deshalb das „du“. Ich hoffe, du hast nichts dagegen. Ehrlich gesagt, ich mag selbstbewusste Frauen, die sich zu wehren wissen, sonst hätte ich längst unseren Mail-Verkehr eingestellt. Mit „altmodisch“ liegst du nicht ganz falsch, aber ich bin bestimmt kein „Macho“. Nimm den Strauß einfach als kleine Geste der Sympathie, das hat überhaupt nichts mit unserer Auseinandersetzung zu tun. Die ist doch beigelegt, oder?

 

Herzlichen Gruß von Berthold

Von: Maja-Studio

Datum: 14. Dezember 2008 8:00

An: Berthold Kamuf

Betreff: Dein Schreiben

Lieber Berthold,

nichts dagegen, dass wir uns duzen. Ich möchte mich jetzt doch noch entschuldigen. Die fünf Euro waren tatsächlich ursprünglich für Porto gedacht. Als ich bemerkte, dass ich die Sendung einfach als Groß-Brief verschicken kann, freute ich mich, doch noch auf meine Kosten zu kommen, denn ich hatte die Cellophanhüllen um vier Euro heruntergesetzt. Ich hoffe, du nimmst die Entschuldigung an. Aber trotzdem, ich kann mir nicht helfen, ein wenig bist du doch Macho, oder nicht? Und was soll eigentlich diese deplatzierte Bemerkung „Mail-Verkehr“?

Herzlichen Gruß

Maja

Von: Berthold Kamuf

Datum: 17. Dezember 2008 19: 04

An: Maja-Studio

Betreff: Pralinen

Liebe Maja,

du überraschst mich immer wieder von Neuem, ganz, ganz herzlichen Dank für die Pralinen, die gestern mit der Post kamen. Ich habe sie schon alle aufgegessen, sie waren prima, woher weißt du, dass ich eine Schwäche für Süßigkeiten habe?

Herzlichen Gruß

Berthold

Von: Maja-Studio

Datum: 18. Dezember 2008 18:30

An: Berthold Kamuf

Betreff: Pralinen

Lieber Berthold,

das war nur eine Kleinigkeit als Entschuldigung und als Dank für die Blumen. Irgendwie dachte ich, sind wir uns doch in vielem ähnlich, und da ich diese belgischen Pralinen für mein Leben gern esse (ich führe sie übrigens in meinem Versand), dachte ich, sie müssten dir auch schmecken.

Es wäre schön, wenn du mir etwas über dich schreiben würdest. Ich möchte gerne mehr über dich erfahren.

Liebe Grüße

Maja

Von: Berthold Kamuf

Datum: 19. Dezember 2008 15:10

An: Maja-Studio

Betreff: letzte Mail

Liebe Maja,

gerne schreibe ich dir einiges über mich. Ich habe 46 Jahre auf dem Buckel und schon einiges erlebt. Früher hatte ich ein Fotogeschäft, geerbt von meinen Eltern. Jetzt arbeite ich als selbstständiger Fotograf für die hiesige Zeitung, manchmal auch für andere Blätter und manchmal werde ich auch für Geburtstage oder Hochzeiten engagiert. Ich bin geschieden, meine beiden Kinder leben bei der Mutter und ich sehe sie nur alle vier Wochen. In diesem Jahr bin ich an Weihnachten das erste Mal alleine, vielleicht könnten wir uns über die Feiertage treffen, was meinst du? Meine Hobbys: Ich bin ziemlich frankophil, das heißt, ich liebe die französische Küche, fahre oft an die französische Atlantikküste in Urlaub und ich tanze gerne. Jetzt reicht es aber, jetzt bist du dran!

Herzlichen Gruß

Berthold

Von: Maja-Studio

Datum: 19. Dezember 2008 17:30

An: Berthold Kamuf

Betreff: Weihnachten

Lieber Berthold,

auf dem Foto finde ich dich sympathisch, obwohl du, ehrlich gesagt, schon ein alter Knabe bist! Na ja, Hauptsache man ist im Kopf jung geblieben. Ich bin 34 Jahre alt und habe schon einige Enttäuschungen hinter mir. Gegen ein Treffen an Weihnachten hätte ich nichts. Zu meinen Eltern muss ich auf jeden Fall an Heiligabend, aber an den Feiertagen bin ich frei. Von mir möchte ich eigentlich erst erzählen, wenn wir uns sehen. Anbei ein Foto, damit du wenigstens weißt, mit wem du es zu tun hast.

Herzliche Grüße

Deine Maja

Von: Berthold Kamuf

Datum: 20. Dezember 2008 11:11

An: Maja-Studio

Betreff: Weihnachten

Liebe Maja,

ich bin begeistert. Darf ich dich am ersten Weihnachtstag zum Essen ins Restaurant Schwarz einladen? Hast du schon von dem Sterne-Koch in Heidelberg gehört? Bitte mach mir die Freude!

Herzlichen Gruß

Dein Berthold

Von: Maja-Studio

Datum: 21. Dezember 2008 17:30

An: Berthold Kamuf

Betreff: Betrüger

Herr Kamuf,

ich habe über Sie recherchiert, bitte belästigen Sie mich nicht mehr. Sie sind ein Betrüger. Auf eine weitere Enttäuschung in meinem Leben kann ich verzichten.

Maja Steller

Von: Berthold Kamuf

Datum: 21. Dezember 2008 17:40

An: Maja-Studio

Betreff: letzte Mail

Liebe Maja,

gib mir bitte eine Chance und lass dir erklären. Bestimmt hast du herausbekommen, dass ich noch verheiratet bin. Aber glaube mir, wir leben eigentlich getrennt und wir werden uns in Kürze scheiden lassen. Ich wollte mir die Chancen bei dir nicht verderben, deshalb habe ich diese Notlüge benutzt. Sag mir, wo und wann wir uns treffen können, ich fahre auch hinunter zu dir nach Offenburg, damit ich alles erklären kann.

Bitte, bitte, bitte ...

Dein Berthold

Von: Berthold Kamuf

Datum: 20. März 2009 13:10

An: Maja-Studio

Betreff: Verzweiflung

Liebe Maja,

ich bin ganz verzweifelt, gib doch endlich Antwort. Ich habe schon 5 Briefe und Dutzende von Mails geschrieben, versucht dich anzurufen, du gibst einfach keine Antwort. Findest du das fair? Gib mir noch eine Chance.

Berthold

Von: Mailor-Daemon@mail.gmx.net

Datum: 20. März 2009 13:25

An: Berthold.Kamuf@info.de

Betreff: Failure notice

Ihre Nachricht kann an die angegebene Adresse nicht

übermittelt werden.

Mein Cousin Albert

(1957)

Mein Cousin Albert und ich sind 1945 geboren, er ist allerdings ein halbes Jahr älter als ich, was sich im Laufe unseres Heranwachsens immer wieder bemerkbar machte. Wir haben beide französische Mütter und deutsche Väter, allerdings bin ich im Kraichgau als Deutscher, er in Colmar als Franzose aufgewachsen.

Wenn ich in den Sommerferien mit meiner Mutter zu den Großeltern nach Colmar kam, war Albert mein Spielkamerad, der mich schon früh mit den Mädchen in der Umgebung bekannt machte. Aber wir spielten nicht nur „Dokterles“, sondern warfen und rollten „Stinzer“, wie die „Klicker“ oder „Murmeln“ im Elsass genannt werden, bewunderten die historischen Kanonen im Park bei dem nahe gelegenen Stadion und kauften uns, wenn wir ein paar Sous (Münzen) hatten, Bärendreck, eine kaugummiartige Form von Lakritze. Von ihm erfuhr ich, dass auf der roten Bahn um das Fußballfeld Radrennen stattfinden. Damals zeigte sich schon, dass es für ihn, neben den Mädchen, noch eine Leidenschaft gab: das Radfahren.

Als ich so zwölf Jahre alt war, durfte ich alleine ins Elsass fahren. Albert lebte jetzt in seiner neuen Familie mit einem Stiefvater und drei kleinen Schwestern.

Eines Tages beschlossen wir, mit den Fahrrädern einen Ausflug nach Buhl, einem kleinen Ort am Fuß des elsässischen Belchen, zu machen, um dort unseren Onkel Antoine zu besuchen. Auf dem Heimweg wollten wir dann in Voeglingshofen beim Pfedri, wie der Bruder unseres Großvaters von allen genannt wurde, vorbeifahren. Wir waren morgens spät dran, weil Albert zuerst die Bremsen und Lichter unserer Räder überprüfte. Er reparierte überhaupt gerne, obwohl ich nicht weiß, was es da immer zu reparieren gab. Auf jeden Fall kamen wir gerade rechtzeitig zum Mittagessen nach Buhl. Statt uns zu begrüßen, fragte meine Tante Yolande mit hochrotem Gesicht, wo denn der Rest der Familie sei. Ich hatte ihr nämlich eine Postkarte geschickt, auf der kurz und bündig stand: „Ich bin bei Albert in Ferien, wir kommen am Dienstag zum Mittagessen.“

Nachdem sie sich vom ersten Schock erholt hatte, trug sie auf. Das üppige, dreigängige Menü war für elf Personen gerechnet, mit Onkel, Tante und den beiden Cousinen waren wir aber nur sechs. Albert und ich gaben uns redlich Mühe, trotzdem blieb die Hälfte übrig. Meine Tante, die sich kaum am Tischgespräch beteiligt hatte, warf die Reste wütend in den Mülleimer. Mein zaghafter Hinweis, dass es schade um das schöne Essen sei und man das doch aufwärmen könne, quittierte sie mit der kurz angebundenen Bemerkung, dass sie das letzte Mal für mich gekocht hätte.

Den Onkel konnte das Ganze wie üblich nicht erschüttern. Er war froh, wieder einmal Zuhörer für seine Heldentaten aus dem Krieg zu haben, in dem er das Vaterland mal auf der deutschen, mal auf der französischen Seite verteidigt hatte, allerdings jeweils in der Armeeküche. Sein Lieblingsthema waren die Mädchen, die er dabei kennengelernt hatte. Die Tante brummte dann nur: „Buwe, ihr müsst net alles glüwe.“

Obwohl unser Zeitplan schon ziemlich durcheinander war, fuhren wir auf dem Heimweg nach Voeglingshofen, das am Hang der Vogesen idyllisch in die Weinberge eingebettet ist.

Nach einem mühsamen Aufstieg von der Route Nationale zu dem Winzerdorf durften wir am großen runden Tisch Platz nehmen. Es wurde extra für uns eine Flasche Wein aufgemacht und die Tante buk Eier mit Speck. Nachdem uns der Pfedri die grünlichen Stielgläser mit Weißwein gefüllt hatte, fühlten wir uns richtig erwachsen. Während es draußen allmählich dunkel wurde, gingen wir nach dem Essen noch mit in den Keller, wo er uns den Wein direkt vom Fass probieren ließ. Das gab uns den Rest. Benommen taumelten wir irgendwann an die frische Luft. Der Onkel mit seinem derben Humor lachte nicht weniger als Albert und ich. Leicht schwankend bestiegen wir die Fahrräder und fuhren die steile und kurvenreiche Straße hinunter zur Nationalstraße. Auf dieser großen Verbindungsstraße von Mulhouse nach Colmar fuhr Albert voraus, weil an seinem Fahrrad nur das Vorderlicht, bei mir nur das Rücklicht funktionierte. „Was hat der heute Morgen nur so lange repariert“, ging es mir durch den vernebelten Kopf.

Spät abends warteten Alberts aufgeregte Eltern auf uns. Ich wurde gleich ins Bett geschickt, Albert bekam den Hintern versohlt. Als er endlich in die Mansarde hochkam, lachte er und meinte, er hätte gar nichts gespürt. Aus Wut über die Bestrafung und da wir in der Hektik vergessen hatten, auf die Toilette zu gehen, erleichterten wir uns auf dem Speicher beim Wettpinkeln auf alte Koffer.

Eines Nachmittags gingen wir auf die Foire aux Vins in der Altstadt von Colmar, auch heute noch das größte Weinfest im Elsass. Wir kosteten am Weinbrunnen von allen Sorten. Ausnahmsweise hatten wir genug Geld, da mir meine Eltern etwas „für alle Fälle“ mitgegeben hatten. Die Bedienung schenkte uns ein, ohne nach dem Alter zu fragen. Wenn sich zwei junge Burschen amüsieren wollten, hatte außer den eigenen Eltern damals niemand etwas dagegen. Der Wein verlieh mir ungeahnte Kräfte und ich vermöbelte auf dem Heimweg einen harmlosen elsässischen Jungen, der mir nichts getan hatte. Ich bereue es heute noch.

In den folgenden Jahren kam Albert in den Ferien zu mir nach Dielheim und wir besuchten das Winzerfest in Wiesloch. Inzwischen war er im Radsportverein und legte die 230 Kilometer mit seinem Rennrad in sieben Stunden zurück. Wein und Mädchen gab es in Wiesloch auch und er war immer auf der Suche. Ich wusste manchmal nicht so recht, ob ich ihn für seine Courage bewundern sollte, oft war es nur peinlich. Er ging rund um den Autoscooter von einem Mädchen zum nächsten, bis eine mitfuhr, die er dann kurze Zeit später hinter dem Zelt abknutschte.

Na ja, ich lernte viel von Albert, auf gewissen Gebieten, aber irgendwann wusste ich dann selbst Bescheid. Und Albert war von einem Tag auf den anderen ruhiger geworden, als er Michèle kennen lernte, die ihn an die Kette legte. Nun produzierte er ganz seriös und legal Babys. Von einem machte er mich zum Paten. Für meine Freunde, mit denen ich manchmal ins Elsass komme, verkörpert Albert elsässische Lebensfreude. Sie erinnern sich vor allem an seine Witze, die man aber nur erträgt, wenn man genug getrunken hat.

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