Triangel

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Es war stickig. Im gesamten Haus stand die Luft. Kleinigkeiten, ein falsches Wort, genügten, dass jemand austickte. Die Absonderungshafträume, in denen Insassen die bei Ordnungswidrigkeiten über sie verhängten Strafen verbüßten, waren überfüllt. Die Zeit verging quälend langsam. Regina starrte auf den schmalen Streifen tiefblauen wolkenlosen Himmels zwischen dem gegenüberliegenden Zellentrakt und der Obergrenze der Fenster, die denen in den Hafträumen glichen, aber tiefer angebracht waren. Glas mit Sichtschutz, Gitter. Ein Stück weiter rechts verdeckte ein höherer Gebäudeteil den Himmel. Der Kollege in der Anmeldezone blätterte in einer kleinformatigen Zeitung. Ein zweiter reinigte mit einem Zahnstocher seine Nägel. Er benagte seine Unterlippe und wirkte hochkonzentriert.

Noch eine knappe Stunde. Draußen war Badewetter. Dementsprechend kamen nur wenige Besucher. Eine äußerst knapp bekleidete dünne junge Frau presste ihre Hand gegen die verschmierte Glasscheibe, hinter der ein bulliger Mann mit Stoppelglatze saß. Beide starrten einander an und schwiegen. Eine südländische Großfamilie lärmte in der Koje nebenan und musste zur Ruhe ermahnt werden. Die kamen zuverlässig zu Besuch, die Ausländer. Zumeist die ganze Familie gemeinsam – von der Großmutter bis zum Kleinkind. Sie veranstalteten einen Trubel, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstand, und Abschiedsszenen, als müssten sie ihren Vater, Bruder oder Sohn für immer hier zurücklassen. Vor allem die Frauen boten ganz großes Theater. Regina betrachtete sie mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu. Wie konnte man sich nur in der Öffentlichkeit so gebärden? Diese Leute hielten die Besuche oft die gesamte Haftzeit durch. Kaum in Freiheit, beschissen die Kerle dann die dummen Weiber oder verpassten ihnen bei der geringsten Kleinigkeit eine Abreibung, dass sie tagelang nicht mehr aus dem Haus konnten. Selber schuld, dachte sie. Bei Inländern brachten meist nur die Frauen von Berufsverbrechern so ein Durchhaltevermögen auf. Insassen aus dem Rotlichtmilieu wurden von ihren Leuten ebenfalls regelmäßig besucht und durchgehend mit Geld versorgt. Am Entlassungstag stand nicht selten ein dicker Mercedes vor der Tür der Strafanstalt, und der Gauner wurde standesgemäß ins nächste Puff kutschiert. Erzählten jedenfalls die altgedienten Kollegen. Dazwischen zerbrochene Beziehungen, wohin man sah, und Insassen, die heulten wie kleine Kinder oder sich die Pulsadern aufschnitten, wenn die Frau wegblieb oder kein Brief mehr kam. Die ließen sich dann von den Sozialarbeiterinnen trösten. Die Mütter freilich kamen über all die Jahre verlässlich zu Besuch, auch noch nach der Verlegung in die Vollzugsanstalt, schickten Briefe und Pakete und überwiesen regelmäßig Geld an den missratenen Sohn. Die Anwaltskosten fraßen ihre Renten auf. Schuldgefühle wahrscheinlich, dachte Regina. Immerhin dürften sie einiges verbockt haben, wenn der Nachwuchs mit schöner Regelmäßigkeit verhaftet wurde und für Jahre hinter Gittern verschwand.

Diese Frau Ritter ist so ein Fall, dachte sie damals. Die kleine energische Frau mit dem markanten Profil kam mit schöner Regelmäßigkeit schon seit einem Dreivierteljahr einmal die Woche. Immer am frühen Nachmittag. Soweit Regina wusste, war sie der einzige Besuch für Svoboda, der auf der gesperrten Abteilung, wo die Mörder und Totschläger einsaßen, auf seine Verhandlung wartete. Svoboda war wegen Mordes angeklagt, wegen Nötigung und weiterer Gewaltdelikte. Sie hatte ihn zweimal in der Vernehmungszone vorgeführt, als er seinen Anwalt traf. Er war Anfang zwanzig, mittelgroß, schlaksig und bewegte sich mit aufreizender Langsamkeit. Seine Art, einen anzusehen, hatte etwas Unangenehmes an sich. Es machte Regina verlegen.

»Ich muss austreten. Soll ich euch etwas vom Automaten mitbringen?« Berti und Drazdal schüttelten den Kopf. Berti übernahm ihren Posten.

Bei Reginas Rückkehr bot sich ein völlig anderes Bild. Die Kollegen standen direkt vor der Besucherkoje der Ritter, die wie eingefroren dasaß. Die Serben starrten offenen Mundes nach nebenan, wo der Insasse wie von Sinnen gegen die Glasscheibe drosch und nur mit Mühe von mehreren Kollegen gebändigt werden konnte.

»Ich bringe sie um«, brüllte Svoboda. Und dann: »Führt mich ab! Abführen!« Berti forderte weitere Kollegen an. Erst als der tobende Svoboda aus ihrem Blickfeld verschwunden war, erhob sich die Frau.

Die serbische Großmutter erwachte aus ihrer Starre und war trotz ihrer Leibesfülle erstaunlich schnell nebenan. »Was hast du gesagt, warum ist er aufgeregt?«, fragte sie mit deutlichem Vorwurf in der Stimme, während die Svoboda-Besucherin ihren Unterarm aus dem Klammergriff der Alten zu befreien suchte. Ihr Blick traf Regina.

»Lassen Sie die Frau los«, mahnte Regina. »Ihre Besuchszeit ist zu Ende.«

Das übliche Abschiedsdrama begann. Raschen Schrittes verließ Frau Ritter den Besucherraum.

Sie versuchte es noch mehrere Wochen. Jedes Mal vergeblich. Svoboda, zu dem außer seinem Anwalt niemand kam, verweigerte den Besuch. Die kleine energische Person, die so selbstsicher auftrat und die Wartezeit wie die regelmäßige Ablehnung ihres Besuchs stoisch ertrug, tat Regina leid.

»Er verzichtet auf den Besuch«, informierte der Beamte an der Anmeldung.

Die Frau nickte. Sie stand sehr gerade, die schmalen Schultern wirkten wie nach hinten gezurrt. Es musste wehtun, so sehr Haltung zu bewahren, dachte Regina. Das war ihr nicht fremd: Stärke zu zeigen, auch wenn man innen zerbrach, zerbarst, ein Scherbenhaufen übrig blieb. Lächeln. Weitermachen, als wäre nichts geschehen. Sie wusste, wie sich das anfühlte.

Ihre erste Begegnung außerhalb der Anstalt war Regina noch gut in Erinnerung: Sie war müde, hatte aber wenig Lust, nach Hause zu fahren. Ihr Auto, ein alter VW Golf, stand ein gutes Stück von der Anstalt entfernt. Hier gab es immer Probleme mit den Parkplätzen. Einen Standplatz in der Justizgarage konnte sie sich noch nicht leisten. Die Luft flimmerte vor Hitze. Regina war binnen Minuten nassgeschwitzt. Sie fühlte sich leicht benommen, wechselte die Straßenseite und tastete nach ihrer Sonnenbrille. Sie trug eine helle Leinenhose und ein weißes ärmelloses Top, das ihren Bauch und das Speckröllchen um die Mitte unvorteilhaft hervorhob. Sie hasste den Sommer in der Stadt. Ihre Wohnung im dritten Stock ging nach Westen und war jetzt bestimmt aufgeheizt wie ein Backofen.

Sie sah die Frau erst im letzten Moment. Die Svoboda-Besucherin saß auf einer Bank wenige Meter vor Reginas Auto im Halbschatten und hielt die Augen geschlossen. Sie wirkte erschöpft. Regina zögerte kurz und ging weiter. Wandte sich noch einmal um. So waren sie ins Gespräch gekommen. Damals.

»Es geht mir gut, danke. Die Hitze in der Stadt macht mir zu schaffen. Das bin ich nicht gewöhnt.« Sie machte eine Pause und musterte die junge Beamtin. »Und Sie? Wie halten Sie das aus – all die Tage hinter diesen Mauern? Mit künstlichem Licht. Mit Menschen, die voller Wut und Hass sind. Oder resigniert haben.«

Regina lachte ein wenig unsicher. Und beantwortete dann all die Fragen, die die andere ihr stellte. Sie fühlte sich wohl. Vergaß ihre Vorsicht. Mit wem sie sprach. Einer Angehörigen. Sie erzählte: von ihrer Ausbildung. Ihrer Arbeit. Von ihrer winzigen Wohnung unterm Dach, die sie sich kaum leisten konnte. Damals hörte sie zum ersten Mal von dem Haus.

Nach einer guten Stunde erhob sich die Frau langsam. »Ich muss zum Bus.«

»Werden Sie ihn wieder besuchen?«

»Ihm schreiben. Und es dann noch einmal versuchen. Ja.«

»Was haben Sie ihm gesagt, dass er …?«

Die Besucherin straffte sich. Das Lächeln verschwand. Regina hätte ihre Frage gern zurückgenommen. »Dass Linda aussagen wird. Seine Schwester.«

»Er hat Angst vor der Verhandlung«, verteidigte Regina einen Mann, der ihr unsympathisch war.

»Er hasst sie«, erklärte ihr Gegenüber ruhig.

»Ihr Sohn hat …«

Die Fremde hob den Blick. Ihr Mund wurde schmal. »Er ist nicht mein Sohn. Es sind nicht meine Kinder. Obwohl – es hat sich so angefühlt. Lange Zeit.« Sie schwieg.

Regina wusste nicht, wohin mit ihren Händen. Was sollte sie sagen? Ihr Gesicht glühte. Sie hüstelte nervös.

Die Ältere wandte sich um, stellte ihre Tasche ab und kramte nach einem Zettel, einem Stift. Sie warf ein paar Zeilen aufs Papier und reichte es Regina. »Rufen Sie mich an, wenn Sie sich das Haus ansehen wollen. Es wird Ihnen gefallen. Jetzt, wo … ich habe Platz. Wir werden eine Lösung finden.« Dann eilte sie davon.

Regina sah ihr lange nach.

Paul Marek verstand nicht, warum seine Frau ihn verlassen hatte. Karin hatte eine Zeitlang herumgenörgelt, dann eine Weile trotzig geschwiegen und schließlich verkündet, dass alles keinen Sinn mehr habe. Es sei aus.

Vor fünf Jahren hatten sie einander kennengelernt. Nach einem guten Jahr waren sie zusammengezogen, und von da an ging es mit ihrer Beziehung bergab. So sah es Karin. Paul hatte keine großen Veränderungen bemerkt. Der Alltag lief gut, sie waren ein eingespieltes Team. Karin richtete die Wohnung ein. Paul tischlerte ihr in der Werkstatt eines Kollegen eine Küche nach ihren Vorstellungen – eine aufwändige Angelegenheit, die viel Zeit in Anspruch nahm, ihm aber Freude machte. Er war geschickt mit seinen Händen, weniger mit Worten.

Früher hatte Karin seine ruhige Art gemocht, seine Geduld. Und genau das warf sie ihm vor, als sie ging: Du kriegst den Mund nicht auf, du kriegst nichts mit. Ich bin kein Möbelstück, ich bin ein lebender Mensch, stell dir vor! Ich will etwas mit dir unternehmen, träumen, planen, umsetzen. Ich brauche Bewegung, Luft zum Atmen, Abwechslung, Feuerwerk. Ich will spüren, dass ich lebe, verdammt! Ist das so schwer zu verstehen?

Beide arbeiteten. Er bei der Wache, sie in dem Haushaltswarengeschäft, in dem sie einander zum ersten Mal gesehen hatten. Am Wochenende kamen Freunde zu Besuch. Hin und wieder gingen sie ins Kino oder machten in der Gruppe eine Ausfahrt mit ihren Motorrädern, bis Karin ihre Maschine verkaufte (das erste Geld für den Absprung in ein neues Leben ohne ihn, wie er viel zu spät registriert hatte) und nur noch selten als Sozia mitkam, wenn er sie eine Weile bekniet hatte. Karin wünschte sich ein Kind, aber damit ließen sie sich Zeit, und zuletzt war davon nicht mehr die Rede gewesen. Karin war meistens genervt, nicht nur vor den Tagen, und er traf sich öfter mit Kollegen und begann wieder zu trainieren. Karin nahm zu, aber das störte ihn nicht. Noch am Abend, bevor sie die Trennung bekannt gab, hatten sie Sex.

 

Nun lebte Paul schon seit sieben Monaten allein in der zu großen Wohnung am Stadtrand, die er ihr zuliebe gemietet hatte, mitten in der Ödnis, weil sie »am Land« hatte leben wollen. Karin ließ wenige Tage nach ihrem Auszug ihre Möbel abholen. Er kaufte nur ein neues Sofa und einen kleinen Beistelltisch. Ein Provisorium. Karin würde zurückkommen.

Eine Zeitlang hatte Paul gewartet. Oder eigentlich nicht gewartet. Er war aktiv geworden, hatte um Karin gekämpft. Endlose Telefonate, SMS, kleine Geschenke, Blumen. Karin war stur geblieben. Das musste Gründe haben! Paul hatte ihre Eltern gefragt, ihre Freundinnen kontaktiert, war schließlich an ihrem Arbeitsplatz aufgetaucht und danach fast sicher, dass sie etwas mit dem Juniorchef hatte. Der hatte ihn mit der Selbstsicherheit des Siegers aus dem Geschäft gewiesen. Paul schäumte noch heute bei dem Gedanken an die Begegnung.

Die nächsten Wochen war Paul ihr gefolgt. In sicherer Entfernung. Er schämte sich dafür, aber er musste Gewissheit haben. Karin wohnte bei ihren Eltern, ging zur Arbeit, verbrachte viel Zeit mit ihren zwei besten Freundinnen, die ganz in der Nähe wohnten. Sie fuhr mit ihrer alleinerziehenden Schwester und deren Kindern für zwei Woche in den Süden und kam gebräunt und strahlend wieder. Der Juniorchef traf sich während der ganzen Zeit regelmäßig mit einer anderen Frau. Sie wirkten sehr vertraut miteinander. Karin zog bei den Eltern aus und mietete eine Wohnung mitten in der Stadt. Nur Freundinnen kamen zu Besuch. Sie ging selten weg. Mehrmals läutete Paul abends vergeblich bei ihr an, bis ihre Eltern ihn anriefen und unverhohlen mit einem Anwalt und Anzeige drohten, sollte er weiterhin Karins Nähe suchen.

Paul ertappte sich bei kindischen Rachegedanken und meldete sich zur Ablenkung in einer Singlebörse an. Die Treffen, die nach wenigen Mails zustande kamen, waren ernüchternd. Frauen, die ihm auf ihren Fotos gefallen hatten, saßen ihm vier Wochen nach Kontaktaufnahme um zehn Jahre gealtert und fünfzehn bis zwanzig Kilo schwerer gegenüber und beklagten wortreich ihre schlechten Erfahrungen mit Männern. Einige leidlich gut aussehende luden ihn zu einer Art Casting oder Bewerbungsgespräch vor, das er die ersten Male geduldig über sich ergehen ließ. Es gab Prinzessinnen, die er bereits nach wenigen Mails enttarnte, und solche, die erst nach drei, vier Treffen zu zicken begannen. Paul hatte zwei One-Night-Stands, traf eine der Frauen immerhin zwei Monate, bis sie ihm ihren dringenden Kinderwunsch gestand und erklärte, dass er ab sofort auf Kondome verzichten solle. Er brach ihr das Herz, wie sie ihm heulend versicherte, und fühlte sich schlecht, bis er sah, dass sie trotz frischen Herzbruchs munter weiterdatete und Gästebucheinträge beantwortete. Paul löschte sein Profil und forcierte sein Training.

Ein für drei Tage anberaumter Raubprozess mit mehreren Beteiligten ging nach zweieinhalb Tagen zu Ende. Als Regina die Kantine betrat und sich in dem gerammelt vollen Raum umsah, hatte Kowalsky sie bereits entdeckt. »Prinzessin«, dröhnte er. Regina nickte einigen Kollegen zu und bemerkte zwei Tische weiter Paul Marek, der sich umwandte und ihr zuwinkte. Offensichtlich war er wieder genesen. Sie grinste. Er lächelte erfreut.

»Was ist?«, fragte Kowalsky so laut, dass sich einige umdrehten. »Streng dich nicht an. Die gehört mir, Burli.« Die Kollegen grinsten. Der Kowalsky!

Eduard Kowalsky, groß, glatzköpfig, schwitzend, gut 120 Kilo in eine zu enge Uniform gepresst, hatte einen Grillteller vor sich. Er legte das Messer sorgfältig an den Tellerrand, wischte sich bedächtig den Mund ab und streckte Regina seine Hand hin. Die linke hielt die Gabel. Sein Bauch ruhte auf mächtigen Schenkeln und weit gespreizten Beinen. Er hatte den Hemdkragen gelockert. Es sah ein wenig schlampig aus. »Mahlzeit.« Reginas Hand verschwand in seiner Pranke. Er hatte Schwielen an den Händen und drückte wie immer zu fest zu. Regina verzog keine Miene. Kowalsky wies auf den freien Platz an seiner Seite und bedeutete dem blassen Gehringer, der mit ihm am Tisch saß und das Gespräch wieder aufnehmen wollte: »Später, Fritz.« Gehringer wandte sich gleichmütig wieder seinem panierten Fisch zu.

Es war stickig. Küchendünste, nassgeschwitzte Uniformhemden und über allem ein penetranter Fischgeruch. Ein Freitag. Trotz weit geöffneter Fenster stand die Luft. Uniformierte Männer und Frauen kamen und gingen. Weiter hinten saßen die Leitenden, Fachdienste und Seelsorger – alle in Zivil. Die junge Psychologin lachte laut auf. Man war bereits beim Kaffee. Matte Scherze und mehr oder weniger beflissene Kellner zwischen den Tischen. Sowohl in der Küche für die Insassen als auch in der Küche und Kantine für die Beamten arbeiteten ausschließlich männliche Gefangene. Vor allem der Job in der Beamtenkantine war einiger Vergünstigungen wegen sehr begehrt.

»Grüß Gott. Was darf ich bringen?« Der schlaksige blonde Kellner verharrte mit schief gelegtem Kopf neben Regina. Wie die Karikatur eines devoten Wiener Kaffeehaus-Obers, dachte sie.

»Fisch«, antwortete Kowalsky. »Wie ich dich kenne.«

»Fisch«, bestellte Regina mit einem Blick auf den fetten Mayonnaisesalat auf Gehringers Teller, »und grünen statt Erdäpfelsalat. Essig und Öl extra. Apfelsaft mit viel Wasser.«

Der Kellner wiederholte die Bestellung. »Sehr wohl, sehr gern, kommt sofort.« Dann schwirrte er ab.

Regina mochte diese aalglatten Typen nicht, die von den Kollegen gern in den Betrieben im Haus beschäftigt wurden, weil sie pflegeleicht waren. Die saßen fast ausnahmslos wegen Betrugsdelikten ein und hielten sich etwas darauf zugute, schlauer zu sein als die anderen. Regina war sich zudem sicher, dass alle unappetitlichen Geschichten, die zum Beispiel aus der Küche erzählt wurden, absolut der Wahrheit entsprachen. Man konnte Beamten aus Rache für tatsächliche oder vermutete Ungerechtigkeiten alles Mögliche ins Essen praktizieren. Die Rede war vor allem von Körpersäften. Schaudernd betrachtete sie die sämige Soße auf Kowalskys Teller, die das gebratene Fleisch fast völlig bedeckte. Alle wussten, Kowalsky schätzte das Üppige.

»Prinzessin«, hob Kowalsky wieder an, »was ist jetzt? Kommst du zu mir auf die Abteilung? Dein Versetzungsgesuch muss spätestens am Donnerstag im Personalreferat liegen.«

Der Apfelsaft wurde gebracht. Regina nahm einen Schluck. Zu warm und zu süß. Gehringer hatte sein Mahl beendet. Er stand auf, nickte ihnen zu.

»Kowalsky, danke.«

»Heißt das, du willst nicht?« Kowalsky wurde schon wieder laut. »Und warum nicht, zum Teufel? Das sind keine Gründe, die du da letztens genannt hast. Wir sind eine gute Partie, und an die Nähe der Pülcher wirst du dich auch gewöhnen. Willst du dich auch noch die nächsten Jahre von den Deppen in der Diensteinteilung herumschicken lassen wie ein Junger?« Nebenan lachte jemand. Kowalsky kaute grimmig, nahm eine Flechse auf die Gabel und legte sie vorsichtig am Tellerrand ab. Regina schwieg. »Oder«, er schaute sie streng an, »hast du ein besseres Angebot? Und scheißt auf den alten Kowalsky?« Er war verstimmt.

»Edi.« Regina legte ihm die Hand auf den fleischigen Oberarm.

Der Kellner wieselte heran. Er roch intensiv nach einem teuren Parfum. Frisch eingesprüht. Sie hielt den Atem an. »Fischfilet. Salat. Essig, Öl. Bitte sehr. Bitte gern. Guten Appetit.« Regina dankte. Sie griff nach dem Salz, marinierte sorgfältig den Salat und begann die Panade vom Fisch abzulösen.

Kowalsky starrte auf ihren Teller. Er schnaufte. »Sturschädel«, knurrte er.

»Immer schon gewesen«, versetzte sie. Kowalsky nickte. Beide schwiegen.

»Isst du das noch?«, fragte er schließlich. Und als Regina den Kopf schüttelte, schaufelte er die fette Panier auf seinen Teller. »Nichts auf den Rippen«, murmelte er. »Damals, damals hast du mir gefallen. Äußerlich.«

»Und jetzt …« Regina musste grinsen. Sie wusste, was kam.

»… ist es genau umgekehrt«, ergänzte Kowalsky.

Schon vor knapp achtzehn Jahren, bei ihrer ersten Begegnung, war Eduard Kowalsky eine beeindruckende Erscheinung gewesen. Kowalsky stand damals noch im Kampf gegen die Kilos und seinen immer schütterer werdenden Haarwuchs. Er hatte die Kämpfe in den folgenden Jahren verloren oder aufgegeben, sie wusste es nicht.

Er war sichtlich schlechter Laune gewesen, als Regina mit einem Vorführzettel die Abteilung betrat. Regina grüßte vernehmlich. Kowalsky musterte sie prüfend. »Hier grüßt man einander mit Handschlag«, informierte er sie und zerquetschte ihre Rechte. Sie biss die Zähne zusammen. Ein Kollege erhob sich, um den Haftraum aufzusperren. Sein Schlüsselbund klirrte bei jedem Schritt. Er entriegelte den Balken. Regina starrte den Gang hinunter und fühlte sich unbehaglich. Die Uniform war noch ungewohnt, der Arbeitsalltag auch. Der dicke Riese stellte sich neben sie und schwieg. Ihre Knöchel schmerzten. Die Zeit dehnte sich. In der offenen Zellentüre lehnte der junge Abteilungsbeamte und wartete. Der Insasse trödelte wohl.

Plötzlich stürzte der Dicke unvermittelt nach vorn, riss dem Kollegen die Tür aus der Hand und brüllte in den Haftraum: »Was ist, kommst jetzt heraus oder muss ich nachhelfen?«

Regina eilte ihm nach. Kowalsky stand breitbeinig in der Tür. Sein Bauch quoll über die Hose. Er schnaufte vernehmlich. Sein Gesicht war gerötet. Der junge Kollege stand ruhig neben ihm und schwieg. Feigling, dachte Regina. »Finden Sie nicht …«, begann sie vorsichtig.

»Was?«, blaffte der Dicke und fuhr herum.

»Mit Ruhe, Ernst und …« Regina verschluckte die »Festigkeit« und die »Wahrung der Menschenwürde« und erstarrte unter seinem Blick.

»Aaaahhh, ein G’scheiterl«, bemerkte der Beamte beunruhigend sanft und kniff die Augen zusammen. »Genau darauf haben wir die ganze Zeit gewartet.« Dann wandte er sich um, als wäre sie nicht mehr da, und plärrte in den Haftraum: »Wird’s bald?«

Ein eifriger, gut frisierter Mann in Freizeitkleidung wurde sichtbar und sah erstaunt von den beiden männlichen Beamten zu Regina. »’tschuldigen, Chef.« Aus dem Haftraum drang Gelächter.

»Kommen Sie«, befahl Regina, grüßte schroff und verließ mit dem Insassen die Abteilung.

In den folgenden Wochen wappnete sie sich jedes Mal, bevor sie die Abteilung betrat. Sie war im sogenannten Halbgesperre eingeteilt, holte also die Insassen aus den Betrieben und von den Abteilungen in die Vorführzone, wo Richter und Anwälte sie erwarteten. Später wurden die Männer in Gruppen wieder ins Zellenhaus zurückgebracht und auf den Abteilungen den zuständigen Beamten zum neuerlichen Einschluss übergeben.

Kowalsky gab ihr die Hand, als wäre nichts gewesen. Sie fühlte sich gedemütigt. Wenn sie dem Kollegen begegnete, der damals Zeuge ihrer Zurechtweisung gewesen war, spürte sie die Scham wieder, die unvermittelt in heißen Zorn umschlug. Während sie innen glühte, erstarrte sie nach außen. Das kannte sie gut. Rachefantasien waren ein kleiner Trost. Irgendwann, schwor sie sich, irgendwann büßt du dafür. Sie sprach mit niemandem darüber.

Der Dicke lachte zu laut. Er dröhnte. Er blaffte einen Kollegen an, der ein entspanntes »Passt schon, Kowalsky« zurückgab. In der Kantine und in einem der vielen Betriebe im Haus sah sie ihn manchmal leutselig plaudern, auch hier viel zu laut, und einmal überraschte sie ihn, wie er einen Insassen heftig gegen die Schulter boxte und dann ernst und erstaunlich leise auf ihn einredete, während sie nebeneinander den Gang entlanggingen. Er blieb in der offenen Zellentüre stehen, hörte eine Weile still zu, bevor er erklärte: »Das bringt einen nicht um. Glaub mir.« Dann ging er mit schwerem Schritt zurück ins Dienstzimmer. Sein Gesicht wirkte verschlossen. Immer wieder fiel ihr Kowalsky durch seine deftige Wortwahl auf. Die anderen schienen das normal zu finden.

Als ihr zum ersten Mal ihr Spitzname »Miss Moral« zugetragen wurde, war ihr auf der Stelle klar, dass er dahinterstecken musste: Kowalsky. Sie fühlte blanken Hass. Drei Tage später beorderte Kowalsky sie ins Dienstzimmer. Der Insasse könne warten. Der Anwalt, der Schnösel, auch. Warum sie ihn ansehe, als ob sie ihn fressen wollte? Regina schwieg und starrte ihn an. Er wirkte unbeeindruckt.

 

»So, Mädchen, damit du’s weißt: Ich hab keine Freude mit euch Weibern hier. Alles kommt in Aufruhr: die Kollegen, die Insassen. Die Arbeit leidet.« Er machte eine Pause. »Gut, man wird sich auch daran gewöhnen. Es wird sich alles einspielen. Aber, und jetzt hör gut zu …« Kowalsky kam näher. Sie roch seinen Kaffeeatem. »Woran ich mich nicht gewöhnen werde und will, ist dein verdammter beleidigter Gesichtsausdruck, Prinzessin auf der Erbse. Das werde ich mir nicht anschauen, verstanden? Das hier ist eine verdammte Haftanstalt, kein Mädchenpensionat. Wenn du das nicht aushältst, bist du fehl am Platz. Dann ziehst du die Uniform besser gleich wieder aus.«

»Die Uniform aus …« Sie starrte ihn an und glaubte zu ersticken.

Aber er war noch nicht fertig. »Wenn dir was nicht passt, dann mach, zum Teufel, dein Maul auf. Dann kann man das ändern. Oder du musst es fressen, wie es serviert wird. Kann auch sein. Ich habe weder Zeit noch Lust, herumzurätseln, was dein zartes Seelchen verletzt hat.« Jetzt starrte er sie finster an.

Was nahm sich der Kerl heraus? Das Maul aufmachen? Okay, konnte er haben! »Ich finde Sie respektlos, anmaßend und laut. Sie machen mich zur Sau vor anderen und finden das in Ordnung. Ich bin keine Miss Moral, ich bin keine Prinzessin auf der Erbse. Ich bin nicht Ihr Mädchen. Was Sie von Frauen halten, sehe ich. Und dass Sie die Insassen wie Vieh behandeln.« Sie holte Luft und bemerkte, dass ihr Kinn leicht zu zittern anfing. Alles, nur das nicht!

»Na alsdann, geht ja«, befand er. »Die Miss Moral ist nicht von mir.« Sein Mund ging in die Breite. »Passt aber, wenn man mich fragt.«

»Es fragt Sie aber keiner. Es geht mir am Arsch vorbei, was Sie von mir halten. Machen Sie Meldung, schmeißen Sie mich raus. Ich hab mich auf diesen Scheißjob gefreut, aber wenn ich hier wie eine Idiotin behandelt werde von jedem aufgeblasenen Arschloch«, mittlerweile war ihr alles egal, »dann pfeif ich drauf. Ich bin jung, ich bin eine Frau, okay, aber ich hab mehr Scheiße erlebt und durchgestanden als die meisten von euch. Ich bin jedes Mal wieder auf die Beine gekommen, und ich werde auch diesmal nicht liegen bleiben. Verlassen Sie sich drauf!«

»Was willst du – Mitleid? Da bist du bei mir falsch.« Jetzt sah er ernst aus. Etwas war anders. Sie spürte sein Interesse. War irritiert. Kowalsky hielt ihrem Blick stand. Regina schluckte. Sie begriff: Das war eine Mitteilung, keine Provokation.

»Ich will, dass Sie mich fair behandeln«, sagte sie mit fester Stimme. »Nicht mehr und nicht weniger. Ich brauche kein Mitleid und keine Sonderbehandlung.« Sie zögerte, bevor sie fortfuhr: »Okay, ich bin neu und weiß noch nicht alles …«

»Wenn du was nicht verstehst, dann frag«, sagte er ruhig. »Kann ja keiner riechen. Ich bin der Eduard. Edi. Aber alle sagen Kowalsky.« Er streckte ihr die Hand hin.

»Regina Aigner.« Ihre Stimme kratzte. Sie schlug ein und begriff langsam: Er würde keine Meldung machen. Er mochte das wohl, wenn man polterte wie er. Sie blitzte ihn an.

»Na ja, zur Königin reicht es noch nicht ganz«, konstatierte Kowalsky trocken. Regina verdrehte die Augen. »Was?«, blaffte er.

»Ihre … deine Witze sind grottenschlecht.«

»Ja, Prinzessin, daran wirst du dich gewöhnen müssen.«

»Sieht so aus«, knurrte Regina. Ganz traute sie dem Frieden noch nicht.

Der Nachtdienst ging zu Ende. Regina spürte die Müdigkeit in allen Knochen. Im Haus war bereits reger Betrieb. Frisch geduschte, ausgeschlafene Kollegen trafen auf solche mit grauen Gesichtern und müden Augen.

»Du hast was mit dem Kowalsky?« Paul Marek grinste breit, als Regina das Wachzimmer betrat. Er schien auf sie gewartet zu haben. »Da hab ich freilich keine Chance.«

»Sehe ich auch so.« Sie meldete sich beim Dienstführenden, griff dann nach ihrem Handy, tippte und warf Paul einen raschen Blick zu. Er wirkte irritiert, lächelte aber gleich darauf wieder und blieb neben ihr stehen.

»Weißt du schon …?«, fragte Regina ins Telefon und wandte ihm den Rücken zu. Sie lauschte. Ihr Mund wurde schmal. »Das ist nicht dein Ernst, Johanna. Ich dachte, die Sache ist unter Dach und Fach. Ich habe Micko schon wegen des Baggers gefragt …« Sie setzte sich in Bewegung, marschierte zum Getränkeautomaten und blieb dort stehen. Sie wippte mit der rechten Fußspitze. »Was meinst du mit unter Druck gesetzt? Erpresst? Und jetzt ist es unsicher, ob die notwendige Mehrheit zustande kommt? Ich fasse es nicht!« Sie wendete abrupt und ging geradewegs auf Paul Marek zu. »Ja, entschuldige. Entschuldige! Tut mir leid. Es regt mich einfach auf. Ja, Johanna, verstehe ich …« Sie senkte ihre Stimme. »Aber – ich habe das für einen Versuch gehalten. Nicht mehr und nicht weniger. Dachte, er will uns verunsichern, schauen, was geht. Nachdem du ihm erklärst hast, dass du nicht verkaufst und die – Nichte«, sie stieß das Wort verächtlich lachend hervor, »auch nicht, war doch Ruhe. Wie empört er auf deine Frage reagiert hat: Sie meinen, wenn ich tot bin? Der Drecksack! – Denkst du …« Regina brach ab und lauschte, schaute dann irritiert zu Paul, der sie fragend ansah. Wieder wandte sie sich ab und machte ein paar Schritte in den Raum. »Ja, das ist gut. Ich hab gleich Dienstschluss und komme sofort nach dem Friseur nach Hause. – Ja, du auch. Tut mir leid, Johanna. Bis später.«

»Ist was passiert, sag? Ich meine, kann ich …?« Paul Marek war ihr gefolgt und schaute sie besorgt an.

»Entschuldige?« Regina hatte nicht zugehört. Sie schüttelte den Kopf und berührte ihn leicht am Oberarm, bevor sie sich umwandte. »Passt schon. Danke. Ich muss nur noch eine ganze Menge erledigen und hab den Kopf voll. Wir sehen uns.« Sie schaute auf ihr Handy: sieben Uhr. Dienstschluss. Sie ließ ihn stehen und eilte ins Untergeschoss, wo sich die Duschräume und Garderoben der Beamten befanden.

Als sie wenig später in Zivil das Dienstzimmer durchquerte, war Paul Marek immer noch da. Sie eilte in den Nebenraum und deponierte ihren Schlüsselbund neben der Dienstwaffe, versperrte das Fach und wandte sich zum Gehen.

»Regina!« Marek eilte auf sie zu.

»An der beißt du dir die Zähne aus, Burli. Glaub mir.« Kowalskys Stimme ließ beide herumfahren.

Paul Marek zuckte die Achseln und bedachte den älteren Kollegen mit einem abschätzigen Blick, der an seinem dicken Bauch hängen blieb. Er drückte die Brust heraus und schob das Kinn vor. An seinem Hals pochte eine Ader.

Was zum Teufel, fragte sich Regina, war da los? Jede Begegnung der beiden geriet sofort zu einem Kräftemessen.

Nun hatte Kowalsky sie eingeholt. Der vertraute Geruch seines Parfums verstärkte sich. Kowalsky legte den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Er lachte dröhnend. »Vergiss es, Bub.«

An diesem Tag verweigerte Hassler den Hofgang. Die schwere Türe hinter ihm schlug wieder zu und verschluckte einen Teil der Geräusche aus dem Zellentrakt. Hassler riss die Gewichte hoch und arbeitete, bis ihm die Anstrengung den Nacken rötete und Sehnen und Adern hervortreten ließ. Binnen kürzester Zeit war sein T-Shirt durchgeschwitzt. Hassler pumpte und stöhnte, die Beine fest in den Boden gestemmt, den Blick in die gegenüberliegende Wand. Sein Haftraum unterschied sich in nichts von dem anderer Langstrafiger: eine spartanisch möblierte Zelle, knapp vier Meter lang, drei Meter breit, mit ein paar zusätzlichen, in Eigenregie hergestellten Regalen zugebaut. Ordentlich bis an die Grenze zur Zwanghaftigkeit. An der Stirnseite das einzige Fenster, dessen oberer Teil den strahlend blauen Himmel in kleine Vierecke zerschnitt. Schweißüberströmt setzte Hassler die Gewichte ab, zog sich das T-Shirt über den Kopf und trocknete sich damit Gesicht und Oberkörper. Seine Figur war die eines Boxers, der Nacken scharf ausrasiert. Das linke Schulterblatt zierte eine Raubkatze mit leuchtend grünen Augen, so präzise gestochen, dass sie fast plastisch wirkte. Der linke Unterarm war von wulstigen Narben verunstaltet und über den gesamten Brustkorb zogen sich Tätowierungen älteren Datums, die, teils ungelenk und in dickem, tintigem Blau, teils farbig ausgeführt, einen deutlichen Kontrast zur Rückenansicht des Häftlings boten.