Ius Publicum Europaeum

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Handbuch
Ius Publicum Europaeum

Band III

Verwaltungsrecht in Europa: Grundlagen

Herausgegeben von

Armin von Bogdandy

Sabino Cassese

Peter M. Huber

Unter Mitwirkung von

Diana Zacharias

Mit Beiträgen von

Jean-Vernard Auby • Giovanni Biaggini • Armin von Bogdandy

Ignacio Borrajo Iniesta • Giacinto della Cananea • Sabio Cassese

Michel Fromont • Eduardo García de Enterría • Luc Heuschling

Mats Kumlien • Herbert Küpper • Marin Loughlin

Bernardo Giorgio Mattarella • Jean-Louis Mestre • Kjell Å. Modéer

Benjamin Schindler • Ewald Wiederin • Andrzej Wróbel


Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-8114-8903-5

E-Mail: kundenservice@cfmueller.de

Telefon: +49 89 2183 7923

Telefax: +49 89 2183 7620

www.cfmueller.de

© 2011 C.F. Müller GmbH, Waldhofer Straße 100, 69123 Heidelberg

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Vorwort

Nachdem sich die ersten beiden Bände des Handbuchs Ius Publicum Europaeum den Grundlagen und Grundzügen des Verfassungsrechts widmen, erschließen die folgenden drei Bände Grundlagen und Grundzüge des Verwaltungsrechts im europäischen Rechtsraum. Mehr noch als in den ersten beiden Bänden werden dabei rechtsvergleichende und rechtsordnungsspezifische Elemente kombiniert.

Der hiermit vorgelegte dritte Band behandelt die Grundlagen des Verwaltungsrechts ausgehend von den Begriffen Staat und Verwaltung. Sie bilden zwei Grundbegriffe des öffentlichen Rechts im europäischen Rechtsraum, wie sich schon aus EU-Vertrag und AEU-Vertrag ergibt. Das Anliegen ist dabei nicht, einen staatsrechtlichen Zugang zum ius publicum europaeum oder gar den Begriff Staat als disziplinbegründende Kategorie des öffentlichen Rechts im europäischen Rechtsraum zu propagieren. Vielmehr wird gezeigt, welche geschichtlichen Ereignisse, theoretischen Konstrukte und dogmatischen Bestände mit diesen ebenso wichtigen wie schwierigen Begriffen in den verschiedenen Rechtsordnungen verbunden sind. Nicht zuletzt die Redaktion dieses Bandes hat ergeben, dass die Worte Staat und Verwaltung zwar leicht zu übersetzen sind, dass es aber überaus schwierig ist, die mit ihnen verbundenen juristischen Konzeptionen anschlussfähig zu übertragen. Die Logik dieses Bandes entfalten die einleitenden Randnummern zu § 42, der am Ende zudem den die Beiträge leitenden Fragebogen abdruckt.

Das Projekt ist weiterhin der Fritz Thyssen Stiftung zutiefst verpflichtet. Sie hat die aufwändige und kostenträchtige Zusammenarbeit in der Form der Finanzierung einer Tagung und von Übersetzungen nachdrücklich gefördert. Ohne ihre ebenso unbürokratische wie substanzielle Hilfe hätte dieser Band nicht in dieser Form verwirklicht werden können. Unser Dank geht weiter an den C.F. Müller Verlag für die Fortsetzung der Reihe. Dankend zu erwähnen sind des Weiteren Nicole Betz, Dr. Matthias Hartwig, Matthias Kottmann, Dr. Karin Oellers-Frahm, Franziska Sucker und Christian Wohlfahrt für die Anfertigung von Übersetzungen, Mark Ciesielczyck, Ute Emrich, Margit Dagli, Cornelia Glinz, Dr. Felix Hanschmann und Marc Jacob für Literaturrecherche, redaktionelle Bearbeitung bzw. abschließendes Korrekturlesen sowie Hannes Fischer, Dominik Fronert, Lea Katharina Roth-Isigkeit und Frauke Sauerwein, die das Projekt als fleißige studentische Hilfskräfte unterstützt haben.

Ganz besonders haben die Herausgeber Dr. Diana Zacharias zu danken, in deren Händen die Gesamtredaktion lag. Die Bearbeitung der Beiträge dieses Bandes hat gezeigt, wie weit die untersuchten Verwaltungsrechtstraditionen auseinander liegen, gerade auch in der Mikrostruktur der juristischen Darstellung. Es ist vor allem ihrer tiefgreifenden begrifflichen Bearbeitung zu verdanken, dass die Texte nunmehr gut an rechtswissenschaftliche Diskurse aus dem deutschen Sprachraum anknüpfen. Hier liegt nicht nur eine große redaktionelle, sondern zudem und vor allem eine herausragende wissenschaftliche Leistung für das entstehende ius publicum europaeum.

Heidelberg, Rom und München, im Oktober 2010

Armin von Bogdandy/Sabino Cassese/Peter M. Huber

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Verfasser

Einführung

§ 41Die Entfaltung des Verwaltungsstaates in Europa

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen

§ 42Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Deutschland

§ 43Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Frankreich

§ 44Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Großbritannien

§ 45Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Italien

§ 46Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Österreich

§ 47Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Polen

§ 48Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Schweden

§ 49Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Schweiz

§ 50Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Spanien

§ 51Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Ungarn

Zweiter Teil Rechtsvergleichender Zugriff

§ 52Verwaltungsrechtliche Paradigmen im europäischen Rechtsraum

§ 53Grundverständnisse von Staat und Verwaltung

§ 54Verwaltungsrecht und Verfassungsrecht

§ 55Typen staatlichen Verwaltungsrechts in Europa

§ 56Die Transformation der Verwaltung und des Verwaltungsrechts

Personenregister

Sachregister

Verfasser


Jean-Bernard Auby, Dr. iur., Professor für öffentliches Recht, Direktor des Lehrstuhls für „Transformation des öffentlichen Rechts und Governance“, Institut d’Etudes Politiques de Paris (Sciences Po);


Giovanni Biaggini, Dr. iur., Professor, Lehrstuhl für Staats-, Verwaltungs- und Europarecht, Rechtswissenschaftliches Institut, Universität Zürich;


Armin von Bogdandy, Dr. iur., M.A., Professor, Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg;


Ignacio Borrajo Iniesta, Dr. iur., LL.M., Catedrático de Derecho, Letrado del Tribunal Constitucional, Madrid;


Giacinto della Cananea, Dr. iur., Professor für Verwaltungsrecht und Europarecht, Facoltà di scienze politiche, Università di Napoli „Federico II“;


Sabino Cassese, Dr. iur., Dr. h. c. mult., Professor für die „Geschichte und Theorie des Staates“ an der Scuola Normale Superiore in Pisa und Richter am italienischen Verfassungsgerichtshof;


Michel Fromont, Dr. iur., Dr. h. c. mult., Professor emeritus, Université Paris I Panthéon-Sorbonne;


Eduardo García de Enterría, Dr. iur., Dr. h. c. mult., Catedrático jubilado de Derecho administrativo, Universidad Complutense de Madrid;


Luc Heuschling, Dr. iur., Professeur agrégé de droit public, Faculté des sciences juridiques, politiques et sociales, Université de Lille II;


Peter Michael Huber, Dr. iur., Professor, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Staatsphilosophie, Ludwig-Maximilians-Universität München; Innenminister des Landes Thüringen;


Herbert Küpper, Dr. iur., Privatdozent, Honorarprofessor der Andrássy Gyula Deutschsprachigen Universität Budapest; Geschäftsführer des Instituts für Ostrecht München;


Mats Kumlien, Dr. iur., Professor für Rechtsgeschichte, Juridiska fakulteten, Uppsala Universitet;


Martin Loughlin, LL.M., Professor of Public Law, Dean des Law Department, London School of Economics & Political Science;


Bernardo Giorgio Mattarella, Dr. iur., LL.M., Professor für Verwaltungsrecht, Facoltà di giurisprudenza, Università di Siena, Scuola superiore della pubblica amministrazione;


Jean-Louis Mestre, Dr. iur., Professor, Institut Louis Favoreu, Faculté de droit et de science politique, Université Paul Cézanne Aix-Marseille III, Aix-en-Provence;


Kjell Åke Modéer, Dr. iur., Dr. h. c. mult., Professor emeritus für Rechtsgeschichte, ehemaliger Inhaber der von den Torsten und Ragnar Söderberg Stiftungen gestifteten Professur zum Gedächtnis Samuel Pufendorfs, Juridiska fakulteten, Lund Universitet;


Benjamin Schindler, Dr. iur., MJur, Professor für öffentliches Recht an der Universität St. Gallen;


Ewald Wiederin, Dr. iur., Professor, Institut für Staats- und Verwaltungsrecht, Universität Wien;


Andrzej Wróbel, Dr. iur., Professor, Instytut Nauk Prawnych, Polskiej Akademii Nauk in Warschau; Richter am Obersten Gerichtshof Polens.

Einführung

Einführung › § 41 Die Entfaltung des Verwaltungsstaates in Europa

 

Sabino Cassese

§ 41 Die Entfaltung des Verwaltungsstaates in Europa

I.Gemeinsame Grundlagen1 – 7

II.Zwei Modelle von Staatlichkeit in Europa8 – 18

III.Zur Herkunft der beiden Modelle19 – 21

IV.Gemeinsame Entwicklungen: Eine Sache der Interpretation22 – 25

V.Die Nachzügler26 – 32

VI.Vereinheitlichungstrends33 – 38

VII.Die Charakteristika der traditionellen Gestalt der Verwaltung und des Verwaltungsrechts39 – 51

VIII.Kontinuität und Wandel52 – 68

Bibliographie

Einführung › § 41 Die Entfaltung des Verwaltungsstaates in Europa › I. Gemeinsame Grundlagen

I. Gemeinsame Grundlagen

Der Beitrag wurde aus dem Englischen übersetzt von Cornelia Glinz und Dr. Diana Zacharias.

1

Die Entstehung des Verwaltungsrechts, das einen Bereich reguliert, in dem weder die Politik vollständig herrscht noch vollständige bürgerschaftliche Gleichordnung besteht, ist eine vergleichsweise junge Erscheinung. Auch wenn sich die Verwaltungssysteme und das Verwaltungsrecht bereits seit der Renaissance herausgebildet haben, so wird die Schwelle zu den modernen administrativen Phänomenen erst im 19. Jahrhundert überschritten. Maßgeblich dafür ist zum einen die Trennung der gerichtlichen Funktionen von der vollziehenden Gewalt. Zum anderen entwickeln sich sowohl die Verwaltungssysteme als auch das Verwaltungsrecht erst in dem spezifischen Kontext des Nationalstaates, und zwar in „staatenlosen Ländern“ wie England[1] ebenso wie in „etatistischen Ländern“ wie Frankreich oder aber in Ländern mit einer geringen Ausprägung von Staatlichkeit, etwa Italien[2] und Polen.[3] Wesentliche Kraft hinter der Entwicklung von Verwaltungssystemen und Verwaltungsrecht ist stets die Regierung, die eine nationale politische Einheit herstellen wollte, die wir „Staat“ nennen. Somit bilden sich öffentliche Verwaltungen als Teil einer nationalen Gemeinschaft und zugleich in struktureller Abhängigkeit von deren Regierungen aus. Im Lichte des Grundsatzes der Gesetzesbindung wurden diese Verwaltungen zunehmend einer rechtlichen Regelung unterworfen. Dieses Verwaltungsrecht war im Wesentlichen staatliches Recht. Für lange Zeit galten öffentliche Verwaltungen ausschließlich als staatliche Phänomene, da es eine Verwaltung mit einem exekutiven Gewaltmonopol nur innerhalb eines Staates geben und sich nur hier die Dialektik von Autorität und Freiheit, die das Verwaltungsrecht kennzeichnet, entfalten konnte.

2

Diese exklusive Verbindung zwischen Staat und Verwaltung fand international eine überaus erfolgreiche Deutung durch den amerikanischen Politikwissenschaftler Dwight Waldo in seinem 1948 publizierten Buch „The Administrative State“.[4] Wo es einen Staat gibt, gibt es eine Verwaltung, und umgekehrt. Da aber die Verwaltungssysteme und das jeweilige Verwaltungsrecht nach den Bedürfnissen der Staaten ausgestaltet wurden und diese Staaten sich entlang divergierender Linien entwickelten, unterscheiden sich auch deren Verwaltungen. Die öffentlichen Verwaltungen wurden so zum Ausdruck des jeweiligen nationalen, bisweilen nationalistischen Entwicklungspfads. Jede Verwaltung wird, da Teil der Geschichte einer partikularen Gesellschaft, bisweilen als einzigartig angesehen. Vergleiche erscheinen danach nutzlos, denn sie würden zur Gegenüberstellung disparater Institutionen und Rechtssysteme führen, die nicht zu einer „Familie“ gehören und denen es deshalb an Gemeinsamkeiten und Verbindungen mangelt. Aus dieser Perspektive betrachtet steht das Verwaltungsrecht in einem schroffen Gegensatz zum Privatrecht, das zumeist als Ausdruck eines gemeinsamen kulturellen Erbes begriffen wird. Auch wenn die nationalen Ausprägungen des Privatrechts gewisse Besonderheiten und Variationen aufweisen, so gibt es doch bedeutsame Gemeinsamkeiten und universelle Institute (wie Familie, Eigentum und Vertrag), in deren Licht Unterschiede erkannt und eingeordnet werden können.[5] Gegen dieses Verständnis ist allerdings anzuführen, dass trotz des Fehlens einer dem Privatrecht vergleichbaren gemeinsamen administrativen Tradition die Verwaltungssysteme und die verschiedenen nationalen Verwaltungsrechte in Europa ein gemeinsames Substrat aufweisen. Dieses Substrat kann durch eine Betrachtung der Geschichte der Institutionen, des Rechts, das sie regelt, und der Rechtskulturen, in die sie eingebettet sind, aufgedeckt werden.

3

Wie von einem prominenten Historiker in einer Abhandlung über den Staat der Renaissance aufgezeigt, „befinden wir uns“ im 16. Jahrhundert „nicht in Gegenwart eines staatlichen Nationalismus, sondern einer […] Art ‚kosmopolitischer‘ Öffnung […]. Wenn im Leben des Staates im 16. Jahrhunderts Gefühle eine Rolle spielen, dann sind es religiöse und weniger nationale oder patriotische“.[6] Der Staat stützt seine Fundamente „auf das Gefühl der Treue gegenüber dem König“.[7] Erst in späteren Zeiten sollte ein nationaler Patriotismus in den Vordergrund treten, der eine engere Verbindung zwischen Nation und Staat etablierte sowie die Unterschiede zwischen den partikularen territorialen Erfahrungen hervorhob.

4

Zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert gingen Rechtswissenschaftler und Praktiker von „mores Europae“, von einer „praxis totius Europae“, einer „communis interpretatio“ und einer „communis opinio totius orbis“ aus. Die universalistische Jurisprudenz bewirkte Verbindungen zwischen den verschiedenen Rechtssystemen: Juristen konnten die Begrenzungen der souveränen Staaten überwinden, und Gerichte konnten Gesetze, Urteile und die opinio doctores fremder Länder berücksichtigen (lex alius loci).[8] Man sah, dass „[d]ie ganze Rechtsgeschichte und Rechtsentwicklung der europäischen Völker seit tausend Jahren eine Geschichte von gegenseitigen Rezeptionen ist, wobei wir unter ‚Rezeption‘ […] einen wechselseitigen, oft mit starken Widerständen verbundenen Vorgang der Inkorporation, der Anpassung und Fortbildung verstehen [….]“.[9]

 

5

Die meisten Staaten entwickelten sich im Kontext größerer Reiche.[10] Reiche (wie das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das Osmanische Reich, das spanische Reich, das Habsburgerreich und später das britische, französische und niederländische Reich) waren aus zahlreichen Staaten zusammengesetzte Organisationen, die einen geringen Grad an Hierarchisierung, starke wechselseitige Verknüpfungen und leicht zu überwindende Binnengrenzen aufwiesen. Das Heilige Römische Reich wurde definiert als „respublica composita ex pluribus rebuspublicis specialibus“[11], welche die „Regia potestas“ und die „Imperialis auctoritas“[12] zusammenhielt. Das Habsburgerreich war eine „monarchische Union von Ständestaaten“[13]. Der imperiale Rahmen bildete die gemeinsame Basis für den Austausch und die Transplantation von Institutionen, Normen, Organisationstechniken und Verwaltungsstilen, was sogar manchmal, wie das Beispiel Österreichs zeigt, den Prozess der Staatsbildung aufhielt.[14]

6

Ein weiterer wichtiger Beitrag zur Entwicklung einer administrativen „koiné“, einer Gemeinsprache oder gemeinsamen Kultur der Verwaltung, war das kanonische Recht. In einer Zeit, in der das moderne Konzept der Trennung von Staat und Kirche unbekannt war, wurden viele Grundprinzipien und Institute des kanonischen Rechts in das Verwaltungsrecht übernommen: Verwaltung (administratio), Gemeinwohl (utilitas publica), öffentlicher Bedarf (necessitas publica) oder öffentlicher Verband (universitas) sind allesamt Begriffe, die aus dem kanonischen Recht in das Verwaltungsrecht eingedrungen sind.[15] Dieser gemeinsame Ursprung führte zu Ähnlichkeiten zwischen den nationalen Verwaltungen. Weiter haben politische Theorie und Verwaltungsrechtswissenschaft einen bedeutenden Beitrag zu der gemeinsamen Grundlage der nationalen Verwaltungen und Verwaltungsrechtsordnungen geleistet. Das ab dem 16. Jahrhundert weit rezipierte Werk von Jean Bodin[16] etwa bot eine theoretische Begründung für die Herausbildung starker Monarchien, in denen sich die Staatssouveränität gegenüber dem Privatrecht durchsetzte und öffentliche Einrichtungen eine dominante Rolle zu spielen begannen.

7

Die Verwaltungsrechtswissenschaft bildete sich gleichwohl erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts heraus. Dieser Erfolg ist den Bemühungen von Juristen zu verdanken, die im römischen Recht, und damit einem gemeineuropäischen Rechtskorpus, ausgebildet worden waren: So hatte etwa Firmin Laferrière, der Vater von Edouard Laferrière, substanziell rechtshistorisch gearbeitet.[17] Paul Laband forschte und lehrte zunächst im Bereich des römischen Rechts und der Rechtsgeschichte,[18] Otto Mayer studierte römisches Recht[19] und sodann französisches Zivil- und Handelsrecht, Rudolf von Gneist war ein Schüler von Friedrich Carl von Savigny; Oreste Ranelletti war Student bei Vittorio Scialoja. Obwohl das römische Recht keinen spezifisch verwaltungsrechtlichen Teil aufweist, lieferte es doch die „rechtliche Grammatik“[20] für die Errichtung des geistigen Gebäudes des Verwaltungsrechts. Darüber hinaus befreite der universalistische Ansatz des römischen Rechts die Verwaltungsrechtswissenschaftler von einer ausschließlich nationalen Perspektive. Otto Mayer erklärt in seiner Einleitung zu der französischen Ausgabe seines opus magnum: „Das Verwaltungsrecht hat in den verschiedenen Nationen, welche die alte europäische Zivilisation repräsentieren, bestimmte allgemeine Prinzipien zur Grundlage, die überall die gleichen sind“.[21] Diese universalistische Sichtweise geriet allerdings mit der Verfestigung der diversen Nationalismen im 20. Jahrhundert aus dem Blick.[22]

Einführung › § 41 Die Entfaltung des Verwaltungsstaates in Europa › II. Zwei Modelle von Staatlichkeit in Europa