Theatergeschichte

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

2 Christentum und Theater vom 5. bis 16. Jahrhundert

Das Kapitel ringt mit der Frage, ob Theater im Mittelalter neu entdeckt wurde. Zunächst werden exemplarisch Bußszenen in ihrer graduellen Unterschiedlichkeit als szenische Vorgänge erläutert (Kap. 2.1, Seite 79). Das geschieht im Umfeld von Alltagsverhalten und Liturgie. Denn die öffentliche Buße berührt das Problem, ob das Mittelalter als ein ‚christliches‘ zu apostrophieren ist oder besser von unterschiedlichen kulturellen Strömungen im Mittelalter zu sprechen wäre. Eine besondere Betonung des christlichen Mittelalters geschieht in jenen umfangreicheren theaterhistoriografischen Werken, die sich entweder der literaturwissenschaftlichen Tropentheorie anschließen (Kap. 2.2, Seite 89) oder sich für eine reine Ereignisaufzählung entscheiden. Die Frage angesichts der sozial randständigen Narrenfigur lautet, ob sie nicht vielleicht szenisch über Wiedergeburt und Verkehrung eine recht zentrale Position für mehrere Theaterformen einnimmt (Kap. 2.3, Seite 99), die auch für die Commedia all’improvviso der nächsten Kapitel von Bedeutung ist. Ein sogenanntes Theatervakuum von 400 Jahren (530 – 930) ermöglicht es, eine ‚zweite Geburt‘ von Theater anzunehmen statt parallel nebeneinander existierende Theaterformen (Kap. 2.4, Seite 109). Es trägt dazu bei, dass die an den Rand der Gesellschaft gedrängten Mimen und Spielleute (Kap. 2.5, Seite 122) auch im Diskurs zurückstehen, während die wesentlichen Bühnentypen des Mittelalters (Kap. 2.6, Seite 130) besser erforscht sind. Die Bewertungen der Forschung zum Mittelalter differieren enorm, sodass ein fragender Gestus auch für dieses Kapitel angebracht erscheint.

2.1 Bußszenen

Auf dem europäischen Kontinent gab es keine integrale kulturelle Kontinuität von einer römischen, geschweige denn griechischen Antike hin zu einem Mittelalter, das nur zum Teil in Italien, vornehmlich aber in von Rom in unterschiedlichem Grade abhängigen Gebieten zu erforschen ist. Wenn die Kulturen jener Regionen durch die Völkerwanderung ab 375 stärker hervortreten, spätestens aber nach der Implosion des römischen Imperiums im Jahr 476, kann schon deshalb nicht von kultureller [<< 79] Kontinuität die Rede sein, weil die vielen lokalen keltischen, germanischen, sla­wischen und anderen Traditionen, wie etwa der Nerthuskult der Germanen, von dem schon Cäsar berichtete, mitbedacht werden müssen.1 Zwar bemüht sich die katholische ­Kirche um eine umfassende Christianisierung, aber diese zieht sich über mehrere Jahrhunderte hin und bedarf zahlreicher Kompromisse. Die öffentliche Buße ist einer der Gradmesser für ihren Erfolg.

2.1.1 Bann, Acht, öffentliche und private Buße

Weder die Griechen noch die urchristlichen Gemeinden kannten eine freiwillig übernommene Buße außerhalb der über einzelne verhängten Strafen.2 Ein Vergehen in der Gemeinschaft bestrafte diese durch Ausschluss, selten durch Einschließung. Der Bann, wie spätestens vom 8. Jahrhundert an auch das weltliche Gegenstück, die Acht, wurden dem Betroffenen aufgezwungen, unabhängig davon, ob er bei der Verkündung zugegen war oder ob er Einwände erhob. Die Strafmaßnahmen erfolgten auf Beschluss, bedurften aber eines szenischen Vorgangs, um in Kraft zu treten. Eine Hervorhebung der Person, die über die Entscheidungsgewalt verfügte, war bei diesen Anlässen notwendig, die Konsequenzverminderung hing jeweils von der Erreichbarkeit des Bestraften, also von der Durchsetzbarkeit der Strafe ab.

Die Buße ist nun das Pendant des Bannes auf der Seite des Individuums. Der Priester erlegt eine Bußstrafe erst nach einer freiwilligen Beichte der Sünden auf. Die Person überantwortet sich freiwillig der kirchlichen Jurisdiktionsgewalt. Eine Normierung der Buße samt Klassifizierung nach Bußstufen machte sich notwendig, als nach der decischen Verfolgung (249 – 251) Tausende Christen, die unter Androhung von Folter gezwungen gewesen waren, gemäß der Staatsreligion heidnisch zu opfern, um Wiederaufnahme in die Gemeinschaft der Gläubigen baten. Man musste jetzt unterscheiden zwischen dem, der wirklich geopfert hatte, und jenem, der sich zum Beispiel nur eine falsche Bescheinigung, dass er geopfert hätte, verschafft hatte, um dem Pogrom zu entgehen. Letzterer wurde in eine höhere Bußstufe eingereiht. Die Wiederaufnahme der lapsi dauerte mindestens zwei bis drei Jahre, in welchen sie in folgenden Bußstufen aufstiegen: Erstens, die Weinenden, unterste Stufe. Sie hielten [<< 80] sich im Vorhof der Kirche auf, waren ausgeschlossen von allen zeremoniellen Handlungen und flehten unter Tränen die Eintretenden an, doch für sie zu beten. Zweitens, die Hörenden. Sie durften an der Verlesung des Evangeliums teilnehmen, standen dabei an einem besonderen, für die Gemeinde gut sichtbaren Platz im hinteren Teil der ­Kirche. Drittens, die Niederfallenden. Ihnen wurde nach dem Weggang der Hörenden unter Gebet noch die bischöfliche Handauflegung zuteil, wobei sie auf dem Boden ausgestreckt lagen. Viertens, die Mitstehenden. Sie waren wie die anderen durch ihr Bußgewand kenntlich, aber schon in die Gemeinde integriert und nur noch von der Oblation und der Kommunion ausgeschlossen.3

Die Bußstufen garantierten eine außerordentliche Anteilnahme der Gläubigen. Jedes Glied der Gemeinde verfolgte den Weg der lapsi bis zur Wiederaufnahme, leistete Fürbitte. Die Büßer mussten nicht auswandern und verkümmerten nicht in einem abgelegenen Verlies. Sie lebten zu Hause, besuchten nur täglich in möglichst zerrissenen Kleidern, laut betend, schmutzbedeckt und halb verhungert die Portalstufen der Kirche und umklammerten dort die Knie der Kleriker, um vom Bischof eine Reduktion, einen Dispens, zu erhalten. Niemand konnte nachprüfen, ob dem äußeren Erscheinungsbild ein innerer Zustand reuiger Zerknirschung entsprach. Die Verwilderung wurde als innere Reinigung interpretiert. Der Klerus verließ sich auf den eigenen Augenschein und zufällige Berichte anderer Gemeindemitglieder. Ganzjährig galten die Verbote des Scherens der Haare, des Gesprächs mit anderen, des Beischlafs und verschiedene Fastengebote (kein Fleisch, Käse, keine fetten Fische, kein Bier, Wein, Met), wobei die Einhaltung der meisten Gebote schwer nachprüfbar war. Durch Schwächung des Körpers kam es oft zu Wahnzuständen.4 Noch auf dem Konzil von Toledo 693 wurde eindringlich vor dem Selbstmord von Büßern gewarnt, obwohl die strengen Bußstufen seit der Völkerwanderungszeit im Verfall begriffen waren. Es schwand allmählich auch die Bereitschaft, eine öffentliche Buße zu übernehmen. Da nun die gesamte Bevölkerung am Gottesdienst teilnahm, nicht mehr nur eine kleine befehdete Gemeinde, konnte ein Sündenbekenntnis vor allen oder die Verkündung des Verbrechens von der Kanzel Ruf und Ehre kosten, Leib und Leben bedrohen: statt frommer Anteilnahme Ausschluss aus der Gemeinschaft. Auch Laien forderten deshalb die in den Klöstern schon übliche Privatbuße, die irische Mönche seit dem 7. Jahrhundert auf dem Festland eingeführt hatten: Nach einem privaten Sündenbekenntnis erlegte der Priester dem Sünder eine Buße auf. Nach Ableistung derselben meldete [<< 81] sich der Sünder, um Absolution zu erlangen. Hatte in der Spätantike vornehmlich der Bischof die Art und Dauer der Buße bestimmt, verwandte man unter den Bedingungen der Privatbuße zunehmend Bußbücher, libri poenitentiales, aus denen jede Relation zwischen Vergehen und Sühnestrafe ersichtlich war und einem Tarif entsprach. Der Vorteil der Tarifbuße bestand darin, dass die Umstände der Tat, eventuell sogar die Tat selbst, geheim gehalten und somit auch der Selbst- und Gruppenjustiz entzogen werden konnten. Die Frömmigkeit der Gemeinde, ihr Vergebungs- und Integrationswille, wurde nicht mehr auf die Probe gestellt. Außerdem festigte die Geheimhaltung des Verbrechens die kirchliche Autorität.

Die karolingischen Reformen des 8. Jahrhunderts versuchten gegenüber solchen Vorzügen vergeblich, die öffentliche Buße in alter Blüte wiederherzustellen. Als Teilerfolg blieb nur der Grundsatz übrig: „Wer öffentlich gesündigt hat, soll auch öffentlich büßen“ – der fortan wenigstens für einige Vergehen noch die öffentliche Buße anmahnte, zum Beispiel für Mord und Ehebruch.5 Damit trat der Strafcharakter der öffentlichen Buße stärker zutage, während der heilende Aspekt der Privatbuße zufiel.

Büßen im Sinne der Tarifbuße hieß, nach bestimmten Vorgaben fasten und beten, entweder in einem Kloster, in einem Klosterkerker, oder aber zu Hause. Einige Tarifbeispiele sollen zeigen, dass es im Interesse des Büßenden lag, möglichst der Aufsicht über sein Tun zu entkommen: Ein römisches Bußbuch des 12. Jahrhunderts legt für Mord eine zehnjährige Buße bei Wasser und Brot fest, für Bestialität 15 Jahre. Sodomie zehn Jahre Buße, drei davon bei Wasser und Brot. Ehebruch und Entführung drei Jahre, Abtreibung vier Jahre, Selbstbefleckung ein Jahr, gemeinsames Baden von Männern und Frauen ebenfalls ein Jahr, dasselbe für unkeusche Absichten. Meineid und Betrug wurden mit sieben, das Zinsnehmen mit drei Jahren Buße geahndet, bei Klerikern mit Absetzung. Brandstiftung sieben Jahre, Einbruch fünf, Entwendung von Esswaren 40 Tage. Der Abfall vom Glauben forderte zehn Jahre Buße, die Teilnahme an heidnischen Festen zwei, Wettermachen sieben Jahre, Befragung von Wahrsagern drei bis fünf. Der betrunkene Priester musste 14 Tage, der betrunkene Laie sieben Tage büßen.6 Sobald unter Aufsicht mehrere Jahre in Rede standen, entfiel jede Konsequenzverminderung, im Kloster entfiel zudem Hervorhebung, solche Bestrafungen sind keine szenischen Vorgänge.

 

Im 7. bis 9. Jahrhundert bildeten sich die sogenannten Redemptionen heraus: Schwere Bußstrafen konnten in leichtere umgewandelt oder durch Geldspenden [<< 82] ersetzt werden. Die Umrechnungstabellen der Priester besagten, dass zum Beispiel 20-mal auf den Boden fallen, wobei Hände und Knie diesen gleichzeitig zu berühren hatten, oder 200 Kniebeugen einem Bußtag entsprachen. Eine Woche strengen Fastens ersetzte man durch 300 Psalmen kniend oder 450 Psalmen stehend beten, einen Monat durch 1.200 Psalmen kniend oder 1.680 stehend.7 Größere Zeiträume konnten mit Geld abgegolten werden. Die Redemptionen, eigentlich gedacht für Kranke, die keine strenge Buße bei Wasser und Brot überlebt hätten, wurden allmählich allgemeine Praxis. Von ihnen zum Ablass war es im 11. und 12. Jahrhundert nur ein Schritt.

Die Kreuzzüge verschlangen ungeheure finanzielle Mittel, und ihre Durchführung bedurfte opferbereiter Kämpfer. So wurde den Kreuzfahrern nach reumütiger Beichte vollkommener Ablass zuteil: Sie waren von jeglicher zeitlichen Sündenstrafe frei. Wer durch Geschäfte, Krankheit oder Ähnliches verhindert war, am jeweiligen Kreuzzug teilzunehmen, konnte durch die Beichte und eine Geldspende denselben Nachlass erlangen wie die Kreuzfahrer.

Die stellvertretende Übernahme der Buße durch andere Personen gegen Lohn akzeptierte zwar schon der Kirchenlehrer Beda Venerabilis im 8. Jahrhundert, aber nur, falls der Schuldige die Buße nicht selbst leisten konnte. Eine angelsächsische Bußordnung des 10. Jahrhunderts verallgemeinert diese Praxis: Ein Magnat, ein hoher Adliger, kann eine siebenjährige Buße in drei Tagen leisten, indem er zunächst zwölf Männer zu Hilfe nimmt, die drei Tage fasten, und dann noch siebenmal 120 Männer, die ebenfalls drei Tage für ihn fasten. Die Frömmigkeit aller Beteiligten weicht hier einem fast merkantilen Gebaren. Das Prinzip der Stellvertretung, aus den ältesten Sühnopferbräuchen entlehnt, aufersteht als geduldete Form der Redemptionen. Warum sollten nicht auch Menschen stellvertretend für andere Genugtuung leisten, wenn Christus dies für die gesamte Menschheit getan hatte?8 Ein solcher Gedanke wäre zu Zeiten der Bußstufen als Anmaßung bewertet worden. Wenn man nun zuschauen kann, wie angestellte Helfer für eine andere Person büßen, entsteht, wie schon bei den frühen Bußstufen und den umherziehenden öffentlichen Büßern, ein szenischer Vorgang. Er ähnelt schon sehr dem Halberstädter Adamsspiel. [<< 83]

2.1.2 Das Halberstädter Adamsspiel als Variation der öffentlichen Buße

Wendet sich in einer mittelalterlichen Stadt ein Bürger mit der Bitte an seinen Beichtvater, dieser möge ihm eine Buße auferlegen, weil er einen Totschlag begangen habe, so nimmt der Priester in der Regel das Bußbuch zur Hand und erteilt strenge Auflagen, die im Sinne der Privatbuße zu erfüllen sind. Er absolviert und entlässt den Sünder, meist ohne seinerseits die weltliche Gerichtsbarkeit einzuschalten. Doch in einigen wenigen Städten bleibt bis in das 12. Jahrhundert hinein bei öffentlichen Verbrechen – Totschlag betrifft die Gemeinschaft – die öffentliche Buße als poenitentia publica in Gebrauch.9 Wird zum Beispiel eine Bußwallfahrt in das Heilige Land verordnet, verkündet der Priester in Anwesenheit der Gemeinde und des vor dem Altar ausgestreckt liegenden Sünders das Verbrechen und die Bußstrafe von der Kanzel. Geschieht eine solche Verkündung ganz besonders feierlich am Aschermittwoch, steigert dies die poenitentia publica zur poenitentia solemnis. Die Büßer einer ganzen Diözese werden in Anwesenheit eines Großteils der Stadtbevölkerung feierlich in die Kirche geführt, wo sie vor dem Bischof niederknien. Unter Gesängen und zeremoniellen Handlungen streift er ihnen ein Bußgewand aus Sackleinen oder Ziegenhaaren über, bestreut sie mit Asche und führt sie aus der Kirche.

Zu festgelegten Zeitpunkten haben sich die öffentlichen Büßer bei ihrem Beicht­vater zu melden, der sie jährlich wieder am Aschermittwoch dem Bischof vorstellt und sie schließlich der Rekonziliation an einem Gründonnerstag für würdig befindet. An diesem Tag werden sie nach der Fürsprache des Archidiakons in die Kirche geführt und von ihren zeitlichen Sündenstrafen losgesprochen. Der Bischof besprengt sie mit Weihwasser, erteilt den Ablass und segnet sie. Sie sind zur Kommunion zugelassen. Sie dürfen das Bußgewand ablegen und gehören wieder zur Gemeinschaft. Es fällt auf, dass die zeremoniellen Teile des Gesamtvorgangs wesentlich stärker konsequenzvermindert sind als die dazwischen liegenden, die von Fall zu Fall konkret untersucht werden müssen. Nicht nur die Auflagen für jeden Büßer differieren, sondern auch seine Verhaltensstrategien bei der Erfüllung derselben. Zwischen großem Bußernst, der an Selbstverleugnung und Selbstkasteiung grenzt, und spielerisch karnevalesker Nutzung des Status’ als öffentlicher Büßer liegen unendlich viele Möglichkeiten, mit der durch das Bußkleid gegebenen Hervorhebung umzugehen. [<< 84]


Abb 9 Der Bischof streift einem Büßer das Bußkleid über. Holzschnitt von 1572, als die Praxis nur noch in der Halberstädter Variante gepflegt wurde. (Quelle)

Ausschließlich in der Stadt Halberstadt am Nordrand des Harzes konnte dem Sünder eine modifizierte, auf die 40 Tage der Fastenzeit begrenzte öffentliche Buße naheglegt werden. Die erste sichere Nachricht stammt von 1383. In der Rolle des Ursünders Adam wird ein Büßer am Aschermittwoch im Beisein der Bevölkerung durch den Bischof in den Dom geführt, mit dem Bußkleid versehen und anschließend wiederum durch den Bischof mittels eines Stockes spektakulär aus dem Dom getrieben – wie Adam aus dem Paradies. Er darf nicht nach Hause gehen, sondern muss die nächsten 40 Tage auf den Straßen der Stadt zubringen, täglich muss er mehrere Kirchenportale besuchen, wobei er das Innere der Gotteshäuser nicht betreten darf. Er soll mit keinem Menschen sprechen. Ernähren muss er sich von den Gaben, die barmherzige Mitbürger für ihn vor die Tür stellen. Schlaf ist ihm erst nach Mitternacht vergönnt, und zwar auf den Straßen und Plätzen der Stadt, auch bei Regen oder Schnee. Er verwildert mehr und mehr und vertieft dadurch die Bußgesinnung der Bevölkerung, stimmt sie für den Tag der Rekonziliation mildtätig und freigebig.

Am Gründonnerstag wird er, herbeigerufen durch die Adamsglocke im Vierungsturm, wieder in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen. Die vielen Spenden, die der [<< 85] Domklerus nun von denjenigen erhält, die nach Halberstadt kommen, um den Adam zu sehen, fließen sämtlich in die Dombaukasse, denn diese leidet ständig unter Schwindsucht, weil man mit dem benachbarten Magdeburg um den größten und schönsten Dom wetteifert. Umso mehr Anteilnahme und Rührung, desto mehr Spenden. Je länger die Tradition währt, desto mehr wächst die herbeiströmende Menge Schaulustiger an, die einen Ablass erhalten – und beherbergt werden müssen. So etwa lässt sich der Grundvorgang der Halberstädter Adamsaustreibung für das ausgehende 14. Jahrhundert beschreiben. Der Begriff Spiel kann dabei nur sehr bedingt verwendet werden, zunächst gleicht der szenische Vorgang jenem der öffentlichen Buße, was sich jedoch innerhalb der folgenden 200 Jahre ändert. Die innere Dynamik des Vorgangs wandelt ihn in der Zeit der Glaubensspaltung hin zum Spektakulären. Dies geschieht in mehreren Schritten.

In der Urkunde von 1383 heißt der Büßer noch nicht offiziell Adam, aber da nur ein Büßer ausgetrieben wird, liegt der Mythosbezug auf den Ursünder Adam nahe. Papst Bonifatius IX. erteilt am 8. September 1401 der Stadt Halberstadt das Privileg, dass ausschließlich dort die Austreibung „des Adams“, der dies freiwillig tue, ja geradezu fordere, vorgenommen werden dürfe.10 Vor 1464 berichtet dann Aeneas ­Sylvius ­Piccolomini in seiner Historia de Europa über den Halberstädter Adam. ­Sylvius, Humanist, Schriftsteller, Historiker und späterer Papst Pius II., schreibt bezüglich der Ernährung und der Spenden, dass die Kanoniker Adam abwechselnd einladen und er isst, „was ihm vorgesetzt wird“; das Volk spende „ihm Geld, welches er dem Klerus übergibt“.11 Man zahlt also für seinen Auftritt Geld, das einer löblichen Sache zugutekommt. Da er wegen des Kommunikationsverbotes nicht wie andere öffent­liche Büßer oder Pilger um milde Gaben bitten darf, sorgen die Kanoniker für seinen elementaren Lebensunterhalt. Während dieser täglichen Speisung reihum überprüfen die Kleriker seinen Gesundheitszustand und mindern die gesundheitlichen Konsequenzen seines Ausgesetztseins.

Aus einem Augenzeugenbericht des Cornelius Ettenius, kaiserlicher Notar und Schreiber beim apostolischen Archiv, von 1536 geht hervor, dass der Adam im 16. Jahrhundert nicht nur den Dom betreten darf, was ihm vorher verwehrt war, sondern er nimmt sogar noch im Chor Platz, was anderen Laien untersagt bleibt.12 Er erhält einen neuen Status, der mit dem des öffentlichen Büßers unvereinbar ist: Die Kleriker dürfen mit den kanonischen Stunden erst nach Eintreffen des Adams beginnen. Eine solche Verkehrung kann sich nur unter der Voraussetzung herausgebildet haben, dass das Bußgeschehen [<< 86] in den Hintergrund getreten ist. Dafür sprechen auch das graue Wams und der große albanesische Hut13, die er für seine Mühen erhält. Das Geschenk mindert nicht die Härte des Grundvorgangs, bei schmaler Kost und ohne Kommunikation 40 Tage allen Witterungsunbilden ausgesetzt zu sein, aber es hilft, die Mühsal vergessen zu machen.

Nach dem lutherischen Theologen Martin Chemnitz wird im 16. Jahrhundert „ein Armer von den Dumherrn vmb lohn gedinget / das Spiel der öffentlichen Buße vnd Absolution zu halten“. Den Begriff des Spiels anzuwenden bedeutet hier, den Theaterbegriff einzusetzen. Zu einer Zeit, da Katholiken wie Lutheraner vergeblich versuchen, die alte öffentliche Buße wiederherzustellen, wird eine Person angestellt, die die Rolle des Büßers übernimmt. Aus katholischer Sicht bleibt dieses Vorgehen solange legitim, wie an eine alte Tradition angeknüpft, die Gemeinde zur Bußfertigkeit angehalten und obendrein ein Gewinn erzielt wird. Die Domherren retten den Ablauf bar seines disziplinarischen Hintergrundes. Lutherische Theologen wie Chemnitz betrachten hingegen die Bewahrung von Zeremonien ohne deren ursprünglichen Inhalt als Scherz, als Komödie, ausgeführt von Spielleuten: „Hernach als die zucht der offentlichen Buße verfallen war / ist das schauwspiel an die statt komen / dass ein Danus (vnlistiger Bube) das spiel dess beichtenden vnd dess Büßenden treibe.“14

Herzog Heinrich Julius von Braunschweig, zugleich Bischof und Vollender der Reformation in Halberstadt, verbietet in einer Rede vor dem Halberstädter Domkapitel am 23. Februar 1591 das Adamsspiel endgültig.15 Lächerlich erscheint ihm die Vorstellung, dass die vorgeführten Bußhandlungen Schaden von der Stadt abwenden könnten. Abgelehnt wird damit auch jede integrierende Funktion des Adamsspiels. Als erschreckend gelten plötzlich die über Jahrhunderte für normal gehaltenen körperlichen Konsequenzen für eben diesen Adam, seine Entbehrungen. Es war im Laufe der Zeit immer schwerer geworden, einen Büßer und dann einen Darsteller des Büßers zu finden. Von der Strafandrohung führt der Weg hin zur Belohnung, bis selbst diese kaum mehr fruchtet und die Aufhebung des Spiels ohne Widerstand hingenommen wird.

Das 40-tägige Halberstädter Adamsspiel kam ohne jegliche Bühne aus, es war so tief der Realität verhaftet, dass der Akteur das, was er zeigen sollte, am eigenen Leibe verspürte, nicht durch Selbstsuggestion, sondern durch echten Hunger. Das Spiel beruhte auf einer Absprache zwischen den Gläubigen und dem Ausgestoßenen, war [<< 87] zunächst nur durch ihre Frömmigkeit, compassio, möglich, später durch ihr Inte­resse. Das Adamsspiel entstand, als viele Gläubige es mit dem Fasten wegen günstiger Redemptionen nicht mehr so genau nahmen. Dann ließ man einen Menschen als mahnendes Anschauungsobjekt umherziehen, um das eigene schlechte Gewissen zu beruhigen. Denn er handelte freiwillig, zunächst, um wieder in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden, später, um etwas zu verdienen. Seitens der Veranstalter spielten zwei Überlegungen eine Rolle: Erstens wurde dem Verlangen der Gläubigen nachgegeben, während ihres irdischen Lebens zumindest Teile der Heilsgeschichte mit eigenen Augen wahrzunehmen. Wie in den geistlichen Spielen wurde die Heilsgeschichte verwirklicht. Zweitens wurde der Fastnacht, die ein sinnliches Gemeinschaftserlebnis hervorbrachte, ein anderes Gemeinschaftserlebnis entgegengesetzt, das bei verkehrten Vorzeichen trotzdem sinnlich erfahrbar blieb. Echten Wein und echte Ausgelassenheit vertauschte ein Stellvertreter mit dem echten Mangel an Wasser und an menschlicher Kommunikation. Öffentliche Bußhandlungen benötigten Frömmigkeit und Gemeinschaftlichkeit, um heilend zu wirken. Einer deutlichen Lockerung auf beiden Feldern zwischen dem 3. und dem 16. Jahrhundert stemmen sich im Spätmittelalter spielerische Intensivierung und spielerische Vergegenwärtigung entgegen. Heinrich Julius von Braunschweig war selbst ein außerordentlich lebenslustiger Bischof, Politiker und Dichter. Als moralisierender Dramatiker ersetzte er die stummen Handlungen des Halberstädter Adams durch elf wortreiche, selbst verfertigte Stücke, die den Beginn des neuzeitlichen deutschsprachigen Dramas darstellen.16

 

Das Halberstädter Adamsspiel zerfällt zunächst in zwei völlig unterschiedliche Teilvorgänge: erstens in die Zeremonien und Rituale am Aschermittwoch und am Gründonnerstag, die Austreibung des Adams und seine Rekonziliation, abgewandelt aus der öffentlichen Buße, und zweitens in die 40-tägige Präsenz des Adams in der Stadt. Im ersten Fall ist Adam ein Büßer, der zugleich die Rolle des Ursünders Adam spielt. Selbst als er angestellt wird, spielt er weiterhin die Rolle eines Stellvertreters für die Gemeinschaft, weshalb ein konventioneller Rollenbegriff für Erklärungs­zwecke ausreicht. Besucht jedoch ein Fremder während der Fastenzeit Halberstadt, sieht er einen Mann umhergehen, der sich durch sein Äußeres von allen anderen Passanten unterscheidet: von den Bürgern durch verwildertes Aussehen, von den Gauklern durch Büßer- oder Trauerkleidung, und von den Bettlern, Büßern und Aussätzigen dadurch, dass er mit niemandem spricht, nirgends Einlass begehrt, auch nicht bettelt und trotzdem nicht verhungert. Der Fremde beobachtet eine sonderbare Realhandlung, [<< 88] nichts, dem er den Begriff Spiel oder Theater sofort zuordnen würde. Dennoch ist der Mann unter allen anderen Passanten hervorgehoben und handelt gleichzeitig konsequenzvermindert, wenn auch nicht ersichtlich ist, zu welchem Zweck, ob er zum Beispiel etwas erprobt oder darstellen will. Die 40-tägige öffentliche Präsenz ist durch die Dominanz des physischen Leidens weniger spielerisch als das Verhalten im Dom, und auch die Hervorhebung kommt wegen der äußerlichen Ähnlichkeiten zwischen Adam und den Bettlern oder Pilgern weniger zum Tragen.17 Diese geringe Differenz zum Lebensprozess ist jedoch keine Schwachstelle oder gar ein Lapsus im Konzept der Veranstalter, sondern im Gegenteil dessen Stärke, weil die enge Verklammerung des Geschehens mit dem Lebensprozess auf die Aktualität des Dargestellten verweist.