Delfinschlaf

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Delfinschlaf
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Andreas Knierim



Delfinschlaf



Botschaften von Mia Schütz aus der Zwischenwelt der persönlichen Karriere





Dieses eBook wurde erstellt bei




Inhaltsverzeichnis





Titel







Vorbemerkungen: Mia Schütz – die erste Kontaktaufnahme







Montag







Dienstag







Mittwoch







Donnerstag







Freitag







Samstag







Sonntag







Montag







Dienstag







Mittwoch







Donnerstag







Freitag







Samstag







Wieder Sonntag







Montag







Dienstag







Mittwoch







Donnerstag







Freitag







Samstag







Wieder Sonntag







Montag







Sonntag (1 Jahr)







Nachbemerkungen: Mia Schütz – die letzte Kontaktaufnahme







Dank







Informationen und Kontakt







Impressum









Vorbemerkungen: Mia Schütz – die erste Kontaktaufnahme





Mia Schütz nimmt über meinen Blog »Geschichten aus dem Arbeitsleben - Nachrichten aus der Zwischenwelt der persönlichen Karriere« Kontakt mit mir auf. In diesem Blog gebe ich Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus Unternehmen die Möglichkeit, mir Mails zu schreiben und Texte aus ihrem Arbeitsleben, ihrem Unternehmen und ihrer Organisation anonym zu veröffentlichen.



Beim Leser der ersten Texte merke ich: Mia Schütz' Schreibstil ist weniger Dokumentation sondern eine gute geschriebene Geschichte. Vor allem die Aufzeichnung von Dialogen lässt vermuten, dass Frau Schütz so etwas wie einen Roman im Kopf hat. Warum sie diese Textform an mich als Blogbetreiber schickt – ein Rätsel. Vielleicht ist das ihre Art, an die Öffentlichkeit anonym heranzutreten? Eben kein Buch zu veröffentlichen, eher lose Kapitel mit Wochentagsnamen zu schreiben?



Ich einige mit ihr auf das Pseudonym »Mia Schütz«, um sie vor Konsequenzen in ihrem Arbeitsverhältnis zu schützen. Die ersten Kapitel erscheinen parallel im Blog, auf Facebook und bei Twitter.





Andreas Knierim, im Juni 2012







Step into the night, it will be alright.







Ben Gibbard







Wenn das hier ein Film wäre, dann würde jetzt das Licht im Kino ausgehen. Es würde immer dunkler, dann schwarz.



Wir wären sehr aufgeregt, denn jetzt beginnt der Film.



Und dann - vor unser aller Augen - würde sich der magische Satz auf der Leinwand zeigen:

Based on a true story

.





Mia







Montag







Innen. Mias Arbeitskoje. Tag.





Das ist jetzt mein Schreibtisch für den heutigen Tag, morgen ist es wieder ein anderer. Die Anweisung der Unternehmensleitung lautet: Keine persönlichen Utensilien wie Fotos, Andenken, Postkarten gehören auf den Schreibtisch. Morgens sind die Arbeitspapiere aus dem persönlichen Container auszupacken. Die Praktikanten drucken für die Schubladen ein Namenschild aus, das in den vorbereiteten Namensschildschlitz zu stecken ist. Abends sind die Arbeitspapier wieder einzupacken. In den persönlichen Container.



Aber bitte nur ganz wenige Papierchen, denn wir haben hier das papierlose Büro. Das bedeutet wiederum, dass wir am Scanner lustig anstehen, um Notizen unserer Chefs zu digitalisieren und in die richtigen Computerordner zu versenken. Und da bleiben sie, wie die Titanic, hunderttausend Meter tief.



Ich schaue auf meinen PC: Einer der schrecklichsten Erfindungen der Neuzeit ist der eigene Outlook-Kalender, in den die Anderen hemmungslos ihre unwichtigen Termine eingetragen können. Dabei denken sie sich wahrscheinlich: »Einer geht noch, einer geht noch rein.«. Ich werde dann eingeladen. So wie es bei Facebook nur Freunde gibt, so bedeutet Einladung bei Outlook, dass ich gefälligst da zu sein habe. Natürlich kann ich mir Zeiten eintragen, die mit privat belegt sind. Alle sehen das dann aber: Ein Termin ohne Betreff ist ein Termin, wo sich die liebe Mia einen Lenz macht und die Beine rasiert. So ist das hier.



Die Kommunikation zwischendurch ist Teil der Kultur unseres Unternehmens. Alles Wichtige wird eigentlich zwischendurch gemacht. Telefonate, E-Mails, Postings, Voice-Mails, SMS können wir uns sparen, denn beim Latte wird über die wichtigen Points gesprochen, pardon, getalkt. Ich habe mir dort gerade von meinem Chef eine komplette Präsentation absegnen lassen: »Ja, sehr gut, machen Sie mal, Frau Schütz. Das ist gut!«







Innen. Präsentationsraum. Tag.





Das Spiel geht so: Assistentin (also Mia, also ich) steht vorn, ist möglichst hübsch anzusehen. Die Männer glotzen mir auf die Brüste und die Beine und wenn ich mich jetzt umdrehe: auf den Hintern. Meine Körperteile werden später beim After-Work in lustiger Männerrunde analysiert.



Schmocks.



Die Powerpoints meiner Präsentation rauschen nur so durch, anerkennendes Nicken aus der Runde. Meine Freundin Yana würde jetzt fragen: Nicken die wegen deiner Titten, deiner Schenkel, deinem Arsch oder wegen deiner tollen Ideen?



Mein Chef schmeißt sich in Pose: »Ja, sehr gut, Frau Schütz. Aus meiner Sicht fehlt da aber ...«. Zerpflückt die ganze Chose.



Das ist jetzt der Trick: Er lässt mich machen, tage- und wochenlang, gibt mir positive Rückmeldungen, nickt alles ab. Aber heute, in der entscheidende Sitzung, mit seinen männlichen Rivalen, holt er die dicke Wumme raus.



Assistentinnen werden hübsch klein gehalten, mit Karrierebröckchen einmal pro Monat gefüttert. Ansonsten haben sie dünn zu sein (nicht so schwierig bei diesen Fütterungszeiten) und die Schnauze im richtigen Moment zu halten.



Ich brenne aus. Mein Chefchen bemüht sich ehrlich, Arschloch der Woche zu werden. Unterm Tisch sehe ich seine Beine zappeln. Es ist ein Needy, ganz klar. Sexueller Notstand! Er kriegt keine Befriedigung. Hört wahrscheinlich dazu diese Altherren-Rocker, die auch keine Satisfaction kriegen. Chefchen, diese Pussy.



Wenn er gut drauf ist, fällt er ins Du. Echt. Er duzt mich, als ob es das Selbstverständlichste der Welt ist.



Er malt mit seinem Füller in meinen Texten rum. Picasso vollendet das Werk seiner Schützlinge. Dieser Spastologe.



Er ist ein Router. Reicht alle Aufgaben an uns durch. Um damit bei seinen Chefs Punkte zu sammeln. Ist sein Lieblingswort: »Damit können Sie punkten, Frau Schütz.« Er sammelt so viele Punkte, dass sein Sammelkartengesicht schon die Masern hat.







Innen. Mias Arbeitskoje. Tag.





Ohne mein Aufschreiben, ohne mein Logbuch, wäre ich schon tot. Immer, wenn es geht, schreibe ich was auf. In mein schönes Buch. Vorn steht in Prägeschrift Notizen. Dickes Papier innen. Ich reagiere mich damit komplett ab. Ich muss das machen, sonst raste ich hier, wie noch keiner gerastet ist.



Ich schlafe so gern. Sieben, acht, neun Stunden in der Nacht. Am Wochenende viel mehr. Ich liebe es, in meinem Bett zu liegen, den Tag vorbei streichen zu lassen. Ich gleite sanft in die nächste Ebene. Ich träume. wunderbar. Morgens wache ich zart, ganz zart wieder auf.



Etwas ist merkwürdig. Wirklich im Sinne, dass es würdig ist, es mir zu merken: Ich schlafe so gern, aber ich schlafe immer weniger. Gestern nur noch zwei Stunden am Stück. Dafür schlafe ich am Tag! Für eine Sekunde, für zwei oder drei Sekunden. An der Arbeit! Im Café! Im Bus! Ich nehme es kaum wahr, gleich bin ich wieder wach, mein Kopf sinkt gar nicht nach unten.



»Hey Mia, Miiiiia! Mia?«



Diese Worte: Via Bluetooth schweben sie herbei, erreichen den Drahtlosstecker, der über mein rechtes Ohr direkt mit meiner Hypophyse verbunden ist: »Yana, hallo? Bist du es wirklich? Sprichst du gerade mit mir?«

 



Yana lacht: »Spinnst du? Natürlich spreche ich mit dir. Ich vermute mal, du sitzt in deiner Mini-Büro-Koje und hast einen Stecker im Ohr. Dein Telefon hat meinen Anruf automatisch in Empfang genommen und mir gerade geantwortet. Stimmt oder? Hallo? Haaaallo!«



»Ja, ja jetzt raff' ich es. Ich wollte sowieso gerade wach werden. Ich meine: mit meiner Arbeit anfangen.«



»Mia, Mia, du tagträumst immer mehr. Gestern bist du auch dauernd weggedöst. Muss ich mir Sorgen machen?«



»Ehrlich gesagt: Ja, du musst dir Sorgen machen. Ich mache mir jedenfalls welche.«



»Okay, dann sofortiges Mittagessen.«



»Du weißt schon, dass es 9 Uhr morgens ist?«



»Mit sofortig meinte ich die Verabredung zum Mittagessen.«



»Ja, schon kapiert. Wollte dir nur zeigen, dass ich Sinn für Ironie besitze. Ich schlage das Brötchengeber vor.«



»Jetzt drehst du vollständig ab, oder? Brötchengeber?



»Ja, hat hier letzte Woche aufgemacht. Ist doch ein witziger Name.«



»Total witzig. Ich komme da hin. Will sagen: Mein Handy-Navi bringt mich dort hin. Ein Uhr?«



»Ja, ein Uhr. Bye.«



»Bye, baby, bye, bye.«



Ich schlafe wie ein Delfin. Diese klugen Tiere legen einfach eine Gehirnhälfte lahm und pennen. Ok, das ist gut. Ich nenne das jetzt mal Delfinschlaf.



Mal hier ein Stündchen schlafen, mal dort. Ich habe inzwischen massig Zeit. Still schlafe ich sekündlich vor mich hin, lächle in mich hinein und genieße mein Leben Nummer zwo, das neuerdings in der Nacht stattfindet.







Innen. Brötchengeber. Tag.





Yana ist nicht zu übersehen. Denn Yana ist mit Abstand die Schönste, Klügste von allen. Eine Anhängerin der Polyamorie übrigens, sie hat sogar ein T-Shirt: Ich bin für nichtmonogame Beziehungen. Das Shirt trägt sie aber nur nachts. Sagt sie zumindest.



Überall, wo sie sich bewegt, scheinen die Menschen ihre Klugheit zu bemerken. Die Leute ergeben sich still ihrem Schicksal, denn Yana kriegt sie alle. In Millisekunden. Sie schwenkt ihre geheime und unsichtbare All-in-one-Fernbedienung, auf der sie alle Menschtypen gespeichert hat. Sie drückt die Knöpfe und dirigiert alle Human-Maschinen in Reichweite mit traumwandlerischer Remote-Controll-Sicherheit. Es funktioniert immer. Wenn ich immer sage, meine ich immer. Denn auch ich funktioniere nach den Yana-Regeln der heiligen Macht.



Sie fragt mich gleich, noch vor dem Hinsetzen: »Hallo McFly, jemand zu Hause?«



Marty McFly ist der Typ aus Zurück in die Zukunft (

http://de.wikipedia.org/wiki/Zur%C3%BCck_in_die_Zukunft

). Michael J. Fox, der heute so komisch redet. Parkinson oder so was. Sorry, muss ich kurz erklären: Biff, sein Widersacher, haut da dem, leider etwas trotteligen, Hauptdarsteller auf den Kopf: »Hallo McFly, jemand zu Hause?« (

http://www.youtube.com/watch?v=kh9PYtmVybU

)



Ich spiele mit: »Lass den Quatsch. Ich habe dich gleich am Eingang gesehen, Biff! Nur: Auf diesem Planenten versteht mich keiner mehr. Darf ich dir erzählen, was wirklich los ist?«



»Aber sicher, Sweetheart. Kuscheln wir uns hier an diesen Tisch und nehmen uns alle Zeit der Welt.«



Das kann ich gut gebrauchen kann. Yana erfährt jetzt alles über meine Schlaflosigkeit, meine Delfinrecherchen und meine Angst, das mir Flossen wachsen könnten.



Sie schaut mich an:»Wäre doch super, so mit Flossen durch das Meer zu gleiten. Bleib' locker, du bist kein Fisch, pardon kein fischiges Säugetier.«



»Ich fühle mich aber wie einer. Bei Schlafen zumindest.«



»Was sagt der Doc?«



»Ich war noch nicht da. Er zapft mir sowieso nur literweise Blut ab, ich muss in diesen dämlichen kleinen Becher pinkeln, wo immer was daneben geht. Und wahrscheinlich noch auf dem LSD-Fahrrad strampeln.«



»EKG.«



»Was?«



»Es heißt EKG-Fahrrad.«



»Ach, scheiß drauf, wie es heißt. Ich will das alles nicht.«



»Weil es ganz gut ist, so wie es ist?«



»Bitte hör' auf, mich so hundertprozentig zu verstehen. Ja, weil es super ist, so zu schlafen. Meine Lebenszeit hat sich plötzlich verdoppelt.«



Das ist, rein rechnerisch, sicher nicht ganz korrekt. Gefühlt stimmt es aber!



»Und was machst du so aus deinem Leben, mein doppeltes Lottchen?«



»Ich erkunde mein Viertel in der Nacht.«







Außen. Strasse. Langsam Nacht.





Ich laufe. Mein Rhythmus ist wunderbar. Meine Gedanken halten Schritt, meine Schritte sind Ideen für mein neues Leben:



Erster Schritt - Zweifel.



Zweiter Schritt - Trost.



Dritter Schritt - Zweifel.



Diese Strasse mit ihrer Schwärze. Die Laternen sind kaputt oder abgestellt, hier kommt doch sowieso niemand mehr hin, wer will hier denn leben? An meinen dunkelsten Stellen?



Wenn du glaubst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her. Hat mal jemand Kluges gesagt.



Mein Lichtlein erscheint in Form einer Retro-Neonreklame. Heimat steht drauf. Ist irgendwie auch gar nicht Retro sondern Original: Ich sehe durchs Fenster: Helle Tische, antike Tische, abgebeizt. Hier liebt jemand seine Tische, abgebeizt wahrscheinlich durch tagelanges, genüssliches Streicheln. Eine Rose auf jedem Tisch! Eher Rosenknospen! In winzigen Vasen!







Innen. Heimat. Nacht.





Ich stoße die Tür auf. Ich ergebe mich meinem Schicksal. Jedes Molekül meines Körpers sprengt in eine andere Richtung, fliegt durch diesen Raum, kreist und verweilt und kommt zum Eingang zurück. Dann setzen sich alle Moleküle wieder zum Mia-Körper zusammen.



»An die Bar stellen« hämmert es mir in den Kopf.



Der Barkeeper schaut mich an: »Guten Abend. Gibt es irgendetwas, was Ihnen fehlt und wir Ihnen hier und heute geben könnten?«



Eine Frage wie in Mister Magorians Wunderladen (

http://de.wikipedia.org/wiki/Mr._Magoriums_Wunderladen

). Ich bin die süße Natalie Portmann, hinter der Theke lächelt Dustin Hoffmann. Tapfer denke ich meine Dialogzeile: »Ja, das gäbe es schon was: Endlich mal ein Fünkchen Anerkennung für das, was ich bin und tue.«



Ich fasse es nicht. Keinen Kino-Talk jetzt. Ich glaube, ich dreh jetzt vollkommen ab. Bleib cool, Mia. Das hier ist eine Bar: »Ich hätte gern ein Glas Rotwein.«



»Irgendwelche Vorlieben?«



»Haben Sie Rioja?«



»Habe ich. Kommt sofort.«



Ich trinke.



Ich stelle mein Glas wieder hin.



Ich schaue mich um: Heimat trifft es ganz gut. Warme Farbtöne an den Wänden. Gedämpftes Licht. Angenehm warm.



Danke für den Wein. Ist gut. Tut gut. Der Barkeeper widmet sich seiner Arbeit. Spricht nicht. Tut gut.



Ich darf bleiben.



Dann gehe ich. Nach Hause.







Dienstag







Innen. Mias Arbeitskoje. Tag.





Weiter im Existentialismus. Gibt mir meine Arbeit Sinn? Ich stehe morgens auf, ich dusche mich, ich schminke mich, ich nehme den Bus, ich grüsse freundlich, ich stürze mich in meine Aufgaben. Ohne diesen Alltag wäre ich nichts. Ich freue mich auf meine Karriere.



Mit dem Delfinschlafen kann ich jetzt plötzlich was Besonderes, habe aber trotzdem überhaupt nicht das Hier-Bedürfnis.



Telefon klingelt. Ich bin Roboter-Mia und gebe mit meiner Roboter-Stimme tolle Auskünfte zu unserem Unternehmen. Am anderen Ende der Leitung ist sicher ein Journalisten-Roboter, so wie der gerade spricht.



Unser Büro mit den lieben KollegInnen: Autistisches Cocooning nennen das dann wohl die Experten = Isolation in feindlicher Umgebung. Alle erzählen, dass sie immer mit allen kommunizieren. Stimmt aber nicht, Leute. Die wichtigsten Infos werden hier gehandelt wie seltene Erden.



Es war ganz klar mein Traumjob. Super klar. Nach all dem Theorie-Shit im Studium, nach all den Karriere-Tussis, den Ego-Taktikern, die vor mir im Hörsaal gesessen hatten. Bachelor und Master einfach nur so raushauen und dabei mit den Wimpern klimpern in Richtung Professor. Meine Geschlechtsgenossinnen: die Laura-Maries, die Lenas, die Hannahs. Vornamen, bei denen sich die Eltern was gedacht haben. Ist nämlich wichtig, wie das Kind heißt. Gibt ihnen einen besseren Start ins Leben und ebnet die Karriere. Ist wissenschaftlich erwiesen. Nicht solche Loser wie Jennifer oder Kevin.



Bei den was-gedacht-Vornamen bin ich keine Ausnahme. Mia sollte es sein - spätestens in den 1990er Jahren der beliebteste Vorname. Ist meinen Eltern einfach so eingefallen, sie hatten keine Vorbilder. Sagen sie, lügen sie.



Meines Google-Wissens gibt es da eine Musik-Band (

http://www.miarockt.de/

), dann eine englische Sängerin – alles vor meiner Geburt. Dann einen Song (na gut, der heißt Mamma Mia und hat irgendetwas mit Griechenland zu tun, keine Ahnung was) und eben mich, die Kurzform von Maria: Mia.



Ich bin die Projektion meiner Eltern, würden deren Therapeuten sagen. Sie hatten sich das freie Kind gewünscht, herausgekommen ist - welche Schande - das Duckmäuserkind. Also genau das Kind, was sie selbst auch schon waren.



Ich schaue mich um: Hier im Büro sind wir alle Feinde. Meine lieben KollegInnen schauen mich so an, als wären sie schon jetzt meine Chefs. Das müssen sie auch, denn die Chance, Führungsverantwortung zu übernehmen, ist mit 30 am höchsten. Dann nimmt es Jahr für Jahr ab – jedes Jahr um zehn Prozent. Glaubt den Studien! Hängt euch rein. Mit 40 seid Ihr Müll! Go big or go home!



Wir sind immer da. Und wenn wir mal nicht da sollten, entschuldigen wir uns dafür:



»Entschuldigung, ich gehe mal aufs Klo.«



»Entschuldigung, ich hol' mir mal schnell einen Kaffee.«



»Entschuldigung, ich geh' mal kurz nach Hause zum Schlafen.«



Wir arbeiten. Besser: Wir tun so, als ob wir arbeiten. Unsere Facebook-Pinnwand will doch weiterleben! Wir müssen posten! Der Chef liest doch sowieso online mit, ist froh über die Details unseres erbärmlichen Daseins. Holt sich darauf einen runter. Meine ich nur so symbolisch.



Bei uns ist es nicht so wie in den Büro-Serien. Wir sind dafür zu blöd. Wir sind nicht richtig böse. Gibt es nur im Fernsehen.



Wir sind irre. Meine Kollegin hat um ihren Schreibtisch herum eine Kuscheltiersammlung aufgebaut. Wir lachen mit ihr darüber. Wenn sie nicht dabei ist, lästern wir ab.



Ein anderer Kollege hat eine Bechersammlung von Coffeeshops weltweit. Nein, eigentlich nur von Starbucks weltweit. Er lässt sich die Becher immer von Anderen mitbringen. Alle sehen gleich aus. Nur er kennt die Herkunft. Er macht Führungen durch seine Bechersammlung: »Aus Paris!« »Oslo!« »Neuseeland!« Ich freue mich schon darauf, wenn er mein Chef wird.



Was produzieren wir eigentlich? Ach, ja richtig: Kommunikation. Das machen wir. Im Team machen wir das. Dauernd. Prokrastinativ. Mein Arbeitsplatz ist ein Holodeck. Mit Borgs.







Innen. Yanas Loft. Nacht.





Als ich die schwere Lofttür hinter mir zudonnere, sehe ich Yana auf dem Colosseum-Sofa von Tappezzeria Rocchetti (

http://www.homedit.com/colosseum-sofa-from-tappezzeria-rocchetti/

). Das Ding ist mir absolut bekannt. Yana spricht seit Wochen davon, zeigt mir massenhaft Bilder auf ihrem Handy. Jetzt raucht sie, jetzt sitzt sie, jetzt lacht sie sich kaputt.



Ich stelle die Frage, die sie selbstverständlich erwartet: »Wo hast du das denn her?«



Rauch dampft ihr aus den Nasenlöchern: »Vom Meister persönlich. Ich soll in meinem Blog darüber schreiben. Er würde sich darüber freuen. Molte grazie, Tappezzeria! Nehmen Sie doch Platz, Frau Schütz, hier bedeutet Grandezza noch etwas.«



Ich flöze mich drauf, klaue Yana die Zigarette. Inhaliere. Huste. Lache. Wir beiden lachen.



»Komm' Mia, du fängst an.«



»Och nö. Ich hab' keine Lust. Ich bin so was von kaputt.«



»Nicht Rumzicken. Ich sage H und du beginnst unten.«



Ich hasse dieses Lifestyle-Spielchen, Yana liebt es. In ihrer Loft gelten ihre Regeln. Na gut: »Für deine süßen Füße natürlich Schuhe von Hermès. Ich arbeite mich an deinen langen Beinen in Strümpfen von Hudson langsam innen an den Schenkel nach oben. Ah, was ist das? Dessous von huit. Ein knallenger Rock, der wohl den Po betonen soll. Das tut er auch. Ist von Helmut Lang. Der Ausschnitt ist gewagt, das Diadem von Hervé van der Straeten darauf schön platziert. Wo soll man hingucken? Jacke von Habsburg. Fett Mascara von Helena Rubenstein.«

 



»Ich heule gleich!«



»Dann verschmiert's! Die langen blonden Haare sind lose zusammen gebunden. Herrenhut von Hilfiger. Die Luft ist geschwängert mit Hugo Deep Red. Nein besser: Mit Herve Leger.«



Einspruch von Yana: »Frechheit. Riecht blumig. Hugo ist besser.«



»Also Hugo Deep Red. In der H&M-Tasche Hartmann-Pflaster von der Rolle zum Festbinden von Handgelenken. An Bettgestellen. Ein Fußball aus der HSV-Kollektion ist auch drin.«



»Ganz gut. Außer der H&M-Tasche. Igitt. Bonus für den versteckten Fußball, wir wollen den Kerlen ja nicht gleich zeigen, dass wir was von der Abseitsregel verstehen. Sie erklären uns Doof-Tussis das doch so gerne. Malus für den HSV, wann lernst du es endlich: St. Pauli Totenkopf-Kollektion. Kiezkicker. Freibeuter der Liga. Und wenn du sie nicht schon für die Schuhe verschwendet hättest: Gürtelschnalle von Hèrmes.«



»Wie bei den Prolos. Berndinen-Schick.«



»Leider nein. Todschick.«



»And now for something completely different. Ich bin dran: Y - von oben!«



»Miststück. So leicht kriegst du mich nicht, Y ist doch geil. Los geht's: Die kurzen schwarzen Haare sind gepflegt mit Yung Asia. Hut von Yesey. Make-up, ganz wenig Make-up aus der Serie von Yves Rocher für dein schönes, ebenes Gesicht. Betont deine hohen Wangenknochen. Tasche von Yachting, Marina Yachting.



»Gilt nicht!«



»Gilt doch. Weil Y so schwer ist.«



»Die Beine etwas zu kurz, gut kaschiert im Hosenanzug von Yves Saint Laurent.«



»Unverschämtheit. Meine Beine sind nicht kurz.«



»Beine sind eine Frage des Maßstabes. Strümpfe von Yvana N.«



»Gibt es nicht. Erfunden.«



»Doch. Die haben aber nur Taschen. Ich tausche Marina Yachting gegen Yvana N.. Jetzt aber: Yohji Yamamoto, die Schuhe sind von ihm. Doppelter Bonus für die zwei Y. Schließlich: Lobende Erwähnung für die Gesamterscheinung. Von Yana.«



»Was ist mit der Unterwäsche? Ich bin es mir wert.«



»Y-Front-Slip von Jockey?«



»Herrenslips! Du Schwein!«



»Kollektion Yogi Löw? Na gut, nehme ich zurück. Also: Y-dildo! (

http://schlafzimmer-blog.de/tag/y-dildo/

) Neuheit für G-Punkt und PS-Punkt. Noch mal zu mitschreiben: Ich penne so gut wie gar nicht mehr. Habe Flashbacks. Gehe nachts spazieren. Habe eine Bar gefunden.«



»Passiert mir dauern.«



»Aber nicht so eine Bar.«



»Aha, und was ist so eine Bar?«



»Gemütlich, schön.«



»Ist keine Bar. Kein Interesse. Bars sind cool oder out.«



»Ich merke schon. Wird nix mit uns. Wir können Freunde bleiben. Ich geh' noch ein bisschen spazieren. Morgen mehr. Teuerste.«



»Aber ohne, dass ich dich dauernd anposten muss!«



»Ohne Post. Ich melde mich. Versprochen.«







Innen. Heimat. Endlich Nacht.





»Dasselbe wie gestern? Es hat Ihnen, glaube ich, ganz gut geschmeckt?« Der perfekte Barkeeper, in vollendeter Höflichkeit.



»Ja, bitte, wie gestern. Werden hier alle Besucher am zweiten Tag zu Stammgästen?«



»Na ja, Sie sind wohl so etwas wie ein Rekordhalter. Bei allen anderen brauche ich noch eine zweite Bestellung, um mir das Getränk zu merken.«



»Muss ich mich geehrt fühlen?«



»Falls Sie das meinen: Ich stehe nicht auf Frauen. Aber bei Ihnen könnte ich eine Ausnahme machen. Geehrt genug?«



»Ja, ich bin geehrt genug. Bin ich in einer Schwulenbar gelandet?«



»Ach, immer dasselbe. Kaum fühlen sich die Frauen mal an der Theke wohl, glauben sie, um sie herum wären alle schwul.«



Ich will widersprechen, er hat aber Recht. Ich lasse es.



»Ich führe Sie mal in die Heimat-Mannschaft ein: Hier vorn Ruben, Emil, Tomàs, Morris. Da hinten: Luzie, Elli, Claire, Pascal.«



Er zeigt tatsächlich mit dem Vorstellungsfinger auf jeden einzelnen in der Heimat. Die Angezeigten deuten, jeder für sich, eine kleine Willkommensgeste an. Das Ritual scheint bekannt. Einer beteiligt sich nicht, schaut in sein Glas. Er heißt Morris.



Der Barkeeper streckt seine Hand hin: »Ich bin Carl, mit C.«



Automatisch schlage ich ein. Wieso, verflucht, werde ich hier so schnell eingeweiht? »Ich bin Mia, mit M. Würde meine sexuelle Orientierung gerne noch für mich behalten.«



Carl schaut mir direkt in Augen. Ich schaue genauso zurück: »Erzählst du mit etwas über Ruben, Emil, Pascal, Tomàs, Morris, Luzie, Elli und Claire?«



»Gegenfrage: Kennst du die etwa alle, Blitzvornamenmerker?«



»Zurückgegenfrage: Und wenn dem so wäre?«



»Gegenzurückgegenantwort: Dann bräuchte ich dir ja nichts über sie zu erzählen.«



»Brilliante Argumentation, höre ich da eine rhetorische Schulung?«



»Und schon wieder eine Gegenfrage.«



»Also gut: Ich beherrsche die Mnemotechnik.«



»Na, dann ist ja alles klar.«



»Will sagen, ich memoriere den Namen im Stillen oder, wie eben, laut, CARL und schon verankere ich den Namen im Raum oder gleich mit der Person.«



»Du hörst den Namen nur einmal und merkst ihn dir?«



»Yes, Mylord.«



»Ich bin demütig vor so viel Können.« Er verbeugt sich tatsächlich, es klingt nicht ironisch.



»Ruben hat ein rundes Gesicht, die Rundungen sind wie bei den Frauen von Rubens. Emil hatte eine Brille, wie im Film Emil und die Detektive.« (

http://de.wikipedia.org/wiki/Emil_und_die_Detektive_%282001%29

)



Carl steigt ein: »Ich kenne sogar noch die erste Fassung von 1954. (

http://de.wikipedia.org/wiki/Emil_und_die_Detektive_%281954%29

) Auch da hatte der Emil schon eine Brille.«



»Bei meiner Technik ist es egal, aus welchem Jahr der Film ist. Hauptsache, ich weiß, welcher Film gemeint ist.«



»Schon okay. Barkeeper können mit Belehrungen umgehen. Tägliche Übung. Ich weine dann erst später abends ins Kissen. Oder haue drauf, aufs Kissen, meine ich.«



»Auf Emotionen können wir keine Rücksicht nehmen. Weiter: Pascal hat einen Haufen Seiten vor sich liegen, er programmiert in Pascal und hat gerade alles ausgedruckt.«



»Wenn Pascal programmiert, stehe ich am Rand der Erde, denn die ist eine Scheibe. Pascal hasst Computer!«



»Es ist eine Merktechnik, keine-Intuitionsmaschine von der Sorte: Wir raten hier mal die Biografien der Menschheit.«



»Schon klar, schon klar.«



»Tomàs ist schwierig. Ich habe einen Thomas aus ihm gemacht, das H rausgenommen und ihm hinter die Ohren geschoben.«



»Wie bei Onkel Otto. Ach nee, das war ja kein H, das war eine Antenne.«



»Onkel Otto? Antenne? Du sprichst in Rätseln.« Ich grinse ihn an. Irgendwie freue mich, mit ihm zu reden, ihm meine Technik zu erklären. Er hört so konzentriert zu, das spornt mich an. Onkel Otto werde ich nachher googeln, versprochen.



Carl grinst zurück: »Weiter auf unserer Namensliste.«



Aber gerne: »Morris ist Morris.«



»Bitte?«



»Hab' ich mir einfach so gemerkt.«



Mia, du lügst. Morris ist Morris, weil du ihn interessant findest.



Carl holt mich auf den Planeten zurück: »Das ist dann aber keine Merktechnik, wenn Morris Morris ist.«



Ich lenke ab: »Kommen wir zu den Frauen: Luzie hatte eine wirre Frisur, kommt aus meiner Lieblingsserie als Kind.«



»Stopp, ich weiß es: Luzie, der Schrecken der Strasse.« (

http://www.tv-kult.de/?tvdbid=393&title=Luzie-der-Schrecken-der-Strasse

)



»Auch deine Lieblingsserie?«



»Leider war ich da schon in den Zwanzigern. Aber ich saß mit meinem Neffen vor der Glotze. Was für ein Seriending! Aus der Tschechoslowakei, so hieß das damals noch. Mein Neffe wollte in den Fernseher kriechen. Ganz nah bei Luzie sein.«



Ich seufze: »Ging mir auch so.«



Carl mahnt zur Eile: »Aber weiter: Was ist mit Elli?«



»Sie steht auf einem Schiff, das über einen Berg gezogen wird.«



»Bitte?«



»Der Film heißt Fitzcarraldo (

http://de.wikipedia.org/wiki/Fitzcarraldo

). Es gibt doch eine Ella Fitzgerald