Melea

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Inhalt

Impressum 3

8. Mond, im 988. Jahr der Barriere Flucht 4

8. Mond, im 988. Jahr der Barriere Medon 42

8. Mond, im 988. Jahr der Barriere Königin Nalia 67

8. Mond, im 988. Jahr der Barriere Bewusstseinsstarre 108

8. Mond, im 988. Jahr der Barriere Der Dunkle 140

8. Mond, im 988. Jahr der Barriere Wahrträume 177

8. Mond, im 988. Jahr der Barriere Oreus 217

8. Mond, im 988. Jahr der Barriere Devorador 249

8. Mond, im 988. Jahr der Barriere Zukunftsvisionen 284

8. Mond, im 988. Jahr der Barriere Fürst Praxion 324

8. Mond, im 988. Jahr der Barriere Auf Leben und Tod 352

8. Mond, im 988. Jahr der Barriere Das Magmaross 385

8. Mond, im 988. Jahr der Barriere Neugeboren 423

9. Mond, im 988. Jahr der Barriere Seelenbrüder 451

9. Mond, im 988. Jahr der Barriere Zweimal Prinzessin 482

9. Mond, im 988. Jahr der Barriere Prinzessin Sonnensplitter 517

9. Mond, im 988. Jahr der Barriere Treuer Feind 550

9. Mond, im 988. Jahr der Barriere Ankunft der Könige 589

9. Mond, im 988. Jahr der Barriere Anandur 624

9. Mond, im 988. Jahr der Barriere Torgulas 645

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2021 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-903861-73-2

ISBN e-book: 978-3-903861-74-9

Lektorat: Mag. Eva Zahnt

Umschlagfoto: Godfer, Catiamadio, Dmitr1ch, Thomas Hertwig, Visualism Studio | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

8. Mond, im 988. Jahr der Barriere

Flucht

1

„Los, beeilt euch und sichert die Beiboote, sobald alle an Bord sind“, rief Geralt.

Er eilte übers Deck, zum Bug seines Schiffes, und blickte angestrengt in die Finsternis. Sturm und peitschender Regen machten es unmöglich, etwas Genaueres zu erkennen. Aber eines sah er deutlich, und das waren die Wellen, welche haushoch über das vorgelagerte Riff brandeten.

„Da kommen wir niemals durch!“

Er drehte den Kopf zu Matt, der dies gesagt hatte, dann wandte er sich den übrigen Inselbewohnern zu.

„Matt hat Recht! Es ist ja schon gefährlich, bei Tageslicht zwischen den Riffen zu segeln. Aber bei diesen Widrigkeiten ist es absolut unmöglich.“

„Diese Biester werden uns garantiert folgen. Und wer weiß, was für Bestien noch so im Wasser lauern. Ich sage, wir verschwinden von hier, solange wir noch können. Am besten werfen wir die kleine Hexe über Bord. Vielleicht genügt ihnen ja ein Opfer, und sie lassen uns unbehelligt ziehen“, sagte Jon.

„Jetzt reicht es mir aber, Jon! Lass gefälligst meine Tochter zufrieden. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätten wir vorhin Getica verloren“, schimpfte Rion.

„Dann erklär mir mal, warum sie so lange die Luft anhalten kann! Und wie es sein kann, dass sie von einem monströsen Bullenhai ans Boot gebracht wurde?“

Melea presste sich fester an Rion, der schützend seine Arme um sie legte, und flüsterte: „Ich weiß nicht, wieso der Hai das getan hat, Vater. Aber ich bin ganz sicher keine Hexe.“

„Getica war bereits von uns gegangen und …“, brüllte Jon aufgebracht, wurde aber von Adaric unterbrochen. Und der brüllte nicht leiser: „Melea hat meine Gemahlin unter Einsatz ihres eigenen Lebens gerettet. Und wenn du jetzt nicht sofort aufhörst, uns gegen sie aufbringen zu wollen, dann vergesse ich mich.“

Adaric drückte seine zitternde Frau an sich und ging mit ihr an die Reling.

„Wir beruhigen uns jetzt alle und überlegen, was wir tun können“, sagte Geralt beschwichtigend und fügte hinzu: „Sobald wir hier weg sind und die Gefahren hinter uns gelassen haben, werden wir über alle Geschehnisse sprechen. Aber ganz sicher nicht jetzt.“

„Bis auf Jon hat sich bisher keiner aufgeregt, Geralt. Und wenn es nach ihm geht, ist Melea eine Hexe und der schwarze Mann wahrscheinlich ein Totenbeschwörer, weil er Getica ins Leben zurückgeholt hat“, sagte Respa.

Sie stand bei Melea und tätschelte ihre Hand.

„Hör nicht auf den alten Griesgram, Kindchen! Selbst wenn du eine Hexe wärst, sollte er in Anbetracht der Situation froh darüber sein und hier keinen Aufstand proben. Denn gegen diese Kreaturen werden wir jede Hilfe brauchen, die wir bekommen können.“

„Jetzt reicht’s aber wirklich! Meinst du nicht, meine Kleine hätte genug durchgemacht? Musst du ihre Furcht auch noch weiter schüren?“, regte sich Rion auf.

„Wir sind zwar von der Insel runter, aber noch lange nicht außer Gefahr. Diese Kreaturen können sich im Wasser und an Land fortbewegen. Und was ihre scharfen Krallen und Zähne anzurichten vermögen, sah ich vorhin an meinem Sohn. Auch Geralt und Melea haben ihn gesehen“, blaffte Respa zurück.

Melea ergriff daraufhin Respas Hand und flüsterte:

„Es tut mir so leid, dass wir ihm nicht helfen konnten.“

„Dir muss gar nichts leidtun, Kindchen. Safrax’ Zeit war gekommen, und ich werde ihm bald folgen.“

„Sag so was nicht!“

„Ich kam nur mit euch, weil ihr nicht lockergelassen habt“, sagte Respa.

Geralt kam heran und legte eine Hand auf die Schulter der alten Respa.

„Die Frauen können den Lagerraum nutzen und sich ausruhen. Dort liegen allerhand Decken, und in einer Truhe sind noch einige Kleidungsstücke.“

Matt trat vor und fragte: „Hast du Waffen an Bord, Geralt?“

„Ich glaube, unten sind noch ein paar Speere. Ich werde sie holen, nachdem ich die Frauen einquartiert habe. Also, meine Damen. Folgt mir bitte!“

Geralt öffnete die Luke zum Unterdeck und stieg die steile Treppe hinab. Diese führte in einen dunklen, nach Fisch stinkenden Raum. Eine Weile hantierte er in einer Ecke, bis schließlich das warme Licht einer Öllampe den rechteckigen Raum erhellte. Er hängte die Lampe in eine Halterung unter der Decke, wo sie hin und her pendelte. Respa kam zuerst herein, gefolgt von Livilia, die Getica stützte. Susan trug ihre kleine Tochter auf dem Arm und Matt seinen Sohn, den Abschluss bildete Melea.

Sie blieb unter dem Türrahmen stehen und beobachtete, wie sich die Frauen einfach irgendwo an die Wand setzten und dort still verharrten. Geralt kramte derweil in einer Truhe und brachte einige Kleidungsstücke zum Vorschein. Er legte sie auf eine Hängematte und durchforstete einen Berg mit Hanfsäcken und anderen Sachen, bis er erleichtert aufatmete.

„Ah, da sind sie ja. Komm mal her, Matt.“

Matt nahm einige Kurzspeere entgegen, die sie auch zum Fischen benutzten.

„Verteile sie an die anderen, ich komme gleich nach oben“, sagte Geralt.

Matt ging vor seiner Frau in die Hocke und gab ihr sowie seinen beiden Kindern einen Kuss. Als er an Lea vorbeieilte, bedachte er sie mit einem seltsamen Blick. Das entging Geralt nicht, ebenso wenig wie die furchtsamen Blicke der Frauen, die ebenfalls zu Lea schauten. Nur die alte Respa blickte eher bewundernd auf sie. Geralt seufzte innerlich.

„Macht es euch bequem, dort liegen noch einige Decken“, sagte er.

Er ging zu Lea und lächelte sie aufmunternd an.

„Kommst du bitte mit mir?“

Lea folgte ihm in seine Kajüte, wo sie sich zunächst umsah, nachdem er Licht gemacht hatte. An der Wand vor ihr standen ein Schreibtisch und ein Stuhl. Die rechte Seite füllte ein Bett aus, auf dem einige Felle und Decken lagen, und an der linken Wand stand eine mittelgroße Holztruhe mit Eisenbeschlägen. Der Raum maß vielleicht vier Meter in der Breite und fünf in der Länge, und dementsprechend gab es noch genug Bewegungsfreiheit. Leas Blick fiel auf Geralt, der sich soeben daranmachte, das Schloss der Truhe zu öffnen. Dabei fluchte er leise vor sich hin, bis es endlich aufsprang und er den Deckel anheben konnte. Einen Moment lang kramte er darin und drehte sich schließlich zu ihr um. Er reichte ihr ein längliches Bündel und meinte: „Ich möchte, dass du den an dich nimmst und auch trägst.“

 

Lea nahm es zögerlich entgegen, öffnete die Verschnürungen und schlug den Stoff zurück. Ehrfürchtig zog sie den langen Dolch aus einer Lederscheide. Diese bestand aus gehärtetem Leder, auf der ein schönes Bild eingebrannt war. Unter einem großen Kirschbaum mit ausladenden Ästen stand ein äsender Hirsch, der sie anzusehen schien. Der Dolch mit der leicht gekrümmten Klinge war ein absolutes Meisterwerk. Geralt bemerkte ihre Faszination und erklärte: „Der Griff besteht aus Hirschhorn, und die Klinge wurde aus Zwergen-Erz geschmiedet. Was die Schriftzeichen auf der Klinge bedeuten, kann ich dir leider nicht sagen. Das musst du selbst herausfinden, er gehört dir.“

Lea bestaunte immer noch den Dolch, der so lang war wie ihr Unterarm. Die Klinge schimmerte blaugrau und war rasiermesserscharf, wie sie leider rasch feststellte. Sie schob sich den blutenden Daumen in den Mund und Geralt nahm ihr den Dolch aus der Hand, um ihn in die Scheide zurückzustecken.

„Dass er sehr scharf ist, brauche ich dir ja jetzt nicht mehr zu erklären“, sagte er lächelnd.

Er nestelte an den Riemen herum, die an der Scheide befestigt waren, und deutete auf ihr Bein.

„Darf ich?“

Lea nickte und beobachtete, wie er den Dolch seitlich an ihrer rechten Wade festband.

„Ich würde dich gerne etwas fragen.“

Geralt erhob sich und sah in ihre moosgrünen Augen, in denen die winzigen goldenen Sprenkel im Licht der Öllampe funkelten.

„Dann frag“, sagte Lea nach einigen Herzschlägen, da ihr sein durchdringender Blick unangenehm wurde.

„Mich würde interessieren, wie du das mit dem Hai angestellt hast.“

Lea seufzte leise.

„Wenn ich das selbst begriffen habe, werde ich es dir erklären.

Versprochen.“

Geralt sah sie noch einen Moment forschend an, nickte dann und wandte sich wieder seiner Truhe zu. Er nahm noch einige Bündel heraus, die er auf den Schreibtisch legte. Dann kam er wieder auf Lea zu.

„Darf ich mal?“

Er zog sie in den Raum hinein, da sie nach wie vor im Durchgang stand, und schloss die Tür. An der Wand dahinter hing eine Schwertscheide mitsamt Schwert. Er nahm es herunter und legte es sich um.

„Lea, ich möchte, dass du hier bleibst und zumindest versuchst, etwas zu schlafen. Du kannst dich hier wie zu Hause fühlen.“

Er schob sie zum Bett, bis sie sich zwangsläufig darauf setzen musste, und hockte sich vor sie.

„Und mach dir bitte keine Gedanken um die anderen, sie werden sich schon wieder beruhigen. Ich meine, nun ja … wann sieht man schon mal eine junge Frau, die anscheinend mit einem ausgewachsenen Bullenhai befreundet ist? Und sich auch noch mit diesem unterhält. Mir ist fast das Herz stehengeblieben. Aber du hast Getica das Leben gerettet, und das haben sie auch gesehen. Glaube mir, die Vernunft wird siegen. Sie werden aufhören, dich so anzusehen.“

Er streichelte sanft über ihre Wange.

„Ich muss jetzt nach oben, bitte schlaf ein wenig.“

Geralt erhob sich, drückte Lea einen Kuss auf die Stirn und nahm die Sachen vom Tisch.

„Danke“, sagte sie leise.

„Du musst mir nicht danken.“

„Geralt?“

Er wandte den Kopf zu ihr.

„Ja?“

Ihre Stimme bebte leicht.

„Dieses Wesen, das Getica und mich töten wollte …“

Geralt sog scharf die Luft ein und unterbrach sie.

„Was denn für ein Wesen?“

„Es hatte Getica über Bord gezogen, und ich bin ihr daraufhin hinterhergesprungen.“

Geralt hockte sich wieder vor sie und legte die Bündel zur Seite.

„Bei den Göttern! Ich dachte, sie wäre aus dem Boot gefallen und durch die Strömung unter Wasser gezogen worden?“

„Dieses Wesen … es hatte lange Fangarme, wie die eines Kraken.“

„Du meinst, ein Riesenkalmar hat sie aus dem Boot geholt?“

Lea schüttelte den Kopf und schloss die Augen, während sie zitternd durchatmete.

„Was dann?“

„Du wirst mir wahrscheinlich nicht glauben. Ich kann ja selbst kaum glauben, was ich da unten gesehen habe.“

„Natürlich werde ich dir glauben. Also, erzähl! Was ist passiert?“

„Ich tauchte Getica hinterher und bekam ihre Hand zu fassen. Doch als ich sie zu mir ziehen wollte, durchfuhr ein heftiger Ruck meinen Arm, und ich wurde mit ihr in die Tiefe gezogen. Dabei fiel mir auf, dass sich irgendwas um ihre Körpermitte gewickelt hatte. Es leuchtete fahl, und ich zog mich heran, um danach zu greifen. Aber meine Hände rutschten ständig daran ab. Ich dachte noch, dass es wie ein Fangarm aussah, als sich auch schon einer um mein Handgelenk wickelte. Ein stechender Schmerz schoss daraufhin durch meine Hand, bis in die Schulter hinauf. Ich ließ Geticas Hand los und versuchte, den glitschigen Fangarm von meinem Handgelenk zu lösen, was allerdings höllisch wehtat. Tja, und dann sah ich den Angreifer.“

Erneut schloss Lea die Augen, und Geralt ergriff ihre zitternden Hände, als sie leise weitersprach.

„Ich bekam allmählich Atemnot, trotzdem konnte ich den Blick nicht abwenden. Das Wesen besaß silbergraue, fahl leuchtende Haut. Vom Stirnansatz bis weit über den Rücken hatte es eine stachelige Rückenflosse. Drei große hellblaue und lidlose Augen starrten mich an, sie befanden sich auf der Stirn des Wesens. Es hatte ein vor Zähnen starrendes Maul, drei Fangarme an jeder Körperseite, und von der Hüfte abwärts folgte eine Schwanzflosse.“

Sie blickte kurz auf und fragte: „Du kennst doch das alte Buch von Vater? Das mit den Mythen und Sagen?“

Geralt konnte nur nicken, da sein Mund und der Hals staubtrocken waren.

„Dann hast du bestimmt die Zeichnung von der Nixe darin gesehen.“

Erneut nickte er.

„So eine Schwanzflosse hatte das Wesen auch.“

Lea starrte nach unten auf seine Hände, die ihre hielten.

„Wie konntet ihr euch befreien?“, fragte er heiser.

„Gar nicht! Dieses Wesen wollte uns töten, und ich bekam Panik, als Getica jegliche Gegenwehr einstellte. Ich sah dem Wesen in die Augen und flehte in Gedanken, dass es uns freigeben soll. Dabei zerrte ich an meiner Hand, so lange, bis es den Kopf schieflegte und mich ganz überrascht ansah. Dann wiegte es den Kopf hin und her, als wenn es überlegen würde, und wieder sagte ich in Gedanken: ‚Lass uns los!‘

Daraufhin entblößte es seine spitzen Zähne zu einem grausigen Grinsen und schüttelte langsam den Kopf.“

„Warte mal! Meinst du etwa, es hat dich verstanden?“

„Ich weiß, wie sich das anhören muss, aber es ist so geschehen. Und nach dem, was Mo mir heute Nachmittag erzählt hat …“

Sie schüttelte leicht den Kopf und zuckte mit den Schultern.

„Was erzählte er dir denn?“

„Am besten fragst du ihn selbst. Ich kann nicht in Worte fassen, was er mir alles sagte.“

„Das werde ich, aber jetzt erzähl erst mal weiter.“

„Meine Muskeln verkrampften bereits, und ich schloss innerlich schon mit meinem Leben ab. Ich dachte: Wieso hilft uns denn keiner? Und einen Herzschlag danach war plötzlich der Druck um mein Handgelenk fort. Ich griff hastig nach Getica, da es plötzlich dunkler wurde. Und im letzten Schimmern, das die Haut des Wesens abgab, sah ich den oberen Teil seines Körpers. Dieser schwebte langsam in die Tiefe. Ich befreite Getica eilig von dem Fangarm, da er sie weiterhin umschlossen hielt und uns mit hinab zog. Dabei sah ich den unteren Teil des Wesens, es war in der Mitte zerteilt worden. Darüber war ich so erschrocken, dass ich das letzte bisschen Sauerstoff verlor. Und wenn in dem Moment nicht der Hai gekommen wäre, säßen Getica und ich nicht auf deinem Schiff. Er umrundete mich, bis ich mich an seiner Rückenflosse festhalten konnte. Dann brachte er uns an die Oberfläche und schließlich zum Boot.“

Leas Augen füllten sich mit Tränen, als Geralt vorsichtig ihren Ärmel hochschob und die Wunden an ihrem Handgelenk begutachtete. Zu sehen waren Abdrücke von Saugnäpfen, in deren Mitte es aus kleinen Löchern blutete.

Geralt war entsetzt und wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. Es war nicht so, dass er ihr keinen Glauben schenkte. Er selbst war völlig durch den Wind – was kein Wunder war nach den seltsamen Dingen, die er heute beobachtet hatte.

„Alles hatte mit dem Aufziehen des Unwetters begonnen“, überlegte er. Dieses drohte heftig zu werden, weshalb die Bewohner der Insel beschlossen hatten, sich in eine Schutzhöhle im Gebirge zurückzuziehen. Er war mit den anderen vorausgegangen, während Rion nochmal in ihre Bucht zurückgekehrt war, um die Häuser abzusichern und nach Lea zu suchen. Nach einem heftigen Streit zwischen Rion und ihm war sie wütend davongelaufen. Laut Adaric und Getica hatte Lea vor, bei Mowanye unterzukriechen, der eine Höhle im Gebirge bewohnte. Doch ihr Vater wollte sichergehen, dass sie nicht vielleicht doch zum Haus zurückgekehrt war.

Sie weilte jedoch tatsächlich bei Mowanye, wie Geralt feststellte, als er an dessen Höhle vorbeikam. Dies war auf dem Weg zu einer Klippe, wo er sich einen Überblick über den aufziehenden Sturm verschaffen wollte. Und was er dort zu sehen bekommen hatte, bescherte ihm jetzt noch eine Gänsehaut. Durch die düsteren Wolkenmassen wirkte das tobende Meer fast schwarz, und hinter dem vorgelagerten Riff der Insel leuchtete ein Areal von mindestens einhundert Schritten Durchmesser.

Giftgrün. Das Licht drang aus der Tiefe herauf, und er konnte große Schatten erkennen, die sich darin bewegten.

Nachdem es plötzlich verschwunden war, eilte er zu Mowanyes Höhle, um Lea abzuholen. Sie war nicht weniger durcheinander als er selbst. Doch auf die Frage, was der Schamane mit ihr besprochen hatte, erhielt er keine Antwort. Allerdings bekam er eine Antwort auf seine Frage, ob die Lichterscheinung nur seiner Einbildung entsprungen war, als Rion bei der Schutzhöhle eintraf. Denn er berichtete ihm, was er vom Strand aus beobachtet hatte. Es waren eben diese Lichter gewesen.

Daraufhin gab es endlose Diskussionen mit den übrigen Bewohnern, vor allem Jon schenkte ihnen keinen Glauben. Trotzdem kamen sie irgendwann überein, die Männer in zwei Gruppen aufzuteilen. Die erste, bestehend aus Rion, Jon und Matt, übernahm die erste Wache an der Klippe. Doch bevor Rion ging, kam es zu einem kleinen Streit zwischen ihm und Lea, da sie unbedingt nochmal zu Mo wollte, was er ihr ausdrücklich verbot. Und nachdem Rion fort war, versuchte er alles, um Lea davon abzuhalten. Aber er war nun mal nicht ihr Vater, und im Gegensatz zu Rion vertrat er die Meinung, dass Lea alt genug sei, um zu wissen, was sie tat. Und so kam es, dass er sie zu Mo begleitete. Auch jetzt noch, im Nachhinein, wehrte sich sein Verstand dagegen zu glauben, was dort geschehen war. Denn als sie ankamen, stand der Schamane inmitten des Lagerfeuers, und um ihn herum tanzten tropfenförmige Flammen.

Auch Lea dachte an das Ritual, mit dem Mo seine Ahnen beschworen hatte.

Klar und deutlich sah sie sein Gesicht vor sich, verzerrt zu einer unmenschlichen Grimasse. Der Mund geöffnet, als würde er einen stummen Schrei von sich geben, und die Augen verdreht, sodass man nur das Weiße sah. Die Flammen, in denen er stand, besaßen ein bizarres Eigenleben. Sie tanzten um seinen Körper herum, und Lea meinte, Gesichter erkennen zu können.

Furcht und Faszination lösten sich mit jedem Lidschlag ab. Sie hatte nicht auf Geralt gehört, der sie anbrüllte, zurückzukommen, als sie in die Höhle hineingelaufen war. Kaum war sie drinnen, veränderten sich die Flammen. Einzelne lösten sich von Mowanye und der Feuerstelle, in der er stand. In dem Moment wurde Lea klar, dass es sich tatsächlich um flammende Gesichter handelte, denn sie wurde von glimmenden Augenpaaren angestarrt. Die Mehrzahl der Flammen umkreiste weiterhin Mo, wurde dabei immer schneller und drang dann fauchend in seinen Mund, die Nase und die Ohren ein. Lea erwachte aus ihrer Starre aus Faszination und Furcht, da Mowanye plötzlich zusammenbrach. Doch Geralt hielt sie fest, als sie zu ihm wollte. Die Angst um den Schamanen und dass er verbrennen könnte gab ihr die Kraft, sich loszureißen. Aber dann waren es die Flammenwesen, die sie abhielten, zu Mo zu gelangen. Wie zuvor den Schamanen umkreisten sie nun Lea, und eines der Wesen verharrte direkt vor ihrem Gesicht.

Lange Feuerhaare umrahmten das Antlitz einer Frau. Ihre Augen glühten wie glimmende Kohlen, und Lea spürte jetzt noch den Blick, der bis in ihr tiefstes Inneres reichte und anscheinend ihre Seele in Augenschein nahm.

 

Im Augenwinkel hatte sie gesehen, wie Mo sich aufrichtete. Seine dunkle Haut glänzte vom Schweiß, der in Bächen über seinen Körper floss. Lea musste mehrmals seinen Namen flüstern, bis er völlig entsetzt zu ihr sah. Sofort sprach er seltsame Worte in einer Sprache, die Lea nicht zuordnen konnte.

Nach und nach schwebten die Wesen zum Lagerfeuer zurück und verschmolzen mit den Flammen. Nur eines blieb zurück – das vor ihrem Gesicht.

Mit Verwunderung dachte Lea daran, dass es keinerlei Hitze verströmt hatte, und mit Schrecken an den Umstand, dass sich dieses Wesen nun irgendwo in ihrem Körper versteckte. Sie sah das Lächeln der Frau vor ihrem inneren Auge, bevor diese urplötzlich auf sie zuschoss. Lea stolperte und stürzte auf den Rücken, was zur Folge hatte, dass sie durch den offenen Mund die Luft einzog. In dem Moment verschwand das Wesen fauchend darin.

2

„Geralt?“

Lea und er zuckten erschrocken zusammen, als der laute Ruf sie aus ihren Gedanken riss.

„Ich komme“, rief Geralt zur Tür und wandte sich Lea zu.

„Du wirst dich jetzt hinlegen. Ich schicke dir gleich Mo runter, damit er sich die Verletzungen ansehen kann. Wir reden später weiter, ich muss oben nach dem Rechten sehen.“

Lea sah noch eine Weile zur offenstehenden Tür, bis sie schließlich aufstand und diese schloss. Sie wühlte im Seesack, den sie vorhin in aller Eile gepackt hatte, und zog trockene Sachen an.

Unschlüssig, ob sie sich wirklich einen Moment lang hinlegen sollte, starrte sie anschließend das Bett an. Dann seufzte sie leise und setzte sich auf die Kante. Mit einer Hand strich sie über ein besonders dickes graues Fell, das wohl mal einem Wolf gehört hatte, und kroch darunter. Erschöpft, wie sie war, dauerte es auch nicht lange, bis sie einschlief.

Im Traum lief Lea wieder durch den Höhlengang. Für einen kurzen Moment wunderte sie sich, da sie dieser Traum vor ein paar Stunden schon einmal ereilt hatte. Und auch diesmal war sie sich völlig darüber im Klaren, zu träumen. Mehrere Gänge zweigten von diesem Gang ab, aber sie lief weiter, bis sie in die große Höhle gelangte. Eine Vielzahl von Geräuschen drang zu ihr, es war ihr jedoch nicht möglich zu erfassen, woher diese stammten.

Sie vernahm Gesprächsfetzen. Die fremdartigen Worte wurden von knurrenden und schmatzenden Lauten begleitet. Und wie zuvor bekam Lea eine Gänsehaut. Sie fragte sich: „Was ist das nur für ein seltsamer Ort hier?“

Sie stand noch immer im Höhleneingang und wurde nun von irgendetwas angerempelt. Erschrocken blickte sie sich um, konnte aber nichts entdecken. Allerdings hörte sie etwas, und zwar direkt neben sich. Die Geräusche erinnerten stark an einen witternden Hund, weshalb sie langsam zurückwich. Und als sich ein furchteinflößendes Knurren hinzugesellte, veranlasste dieses sie, sich gehetzt umzusehen.

Auf der gegenüberliegenden Seite der Höhle entdeckte sie einen weiteren Gang, und plötzlich erfasste sie das Gefühl, unbedingt dorthin zu müssen.

Eilig und so leise wie möglich durchquerte sie die große Höhle, stolperte aber einige Male über Dinge, die sie nicht sah. Das Knurren und Wittern verfolgte sie und war beständig hinter ihr. Dennoch blickte sich Lea weiterhin um, wobei sie versuchte, sich einzureden, dass dies nur ein Traum sei und ihr nichts geschehen könne.

Zu ihrer Linken erhob sich ein großes Podest. Sieben Stufen führten dort hinauf, wobei diese für einen Riesen gemacht zu sein schienen. Sie waren einen halben Meter hoch und gut zwei Meter tief.

Lea blieb stehen und betrachtete den riesigen Thron, der sich auf dem Podest erhob. Dieser bescherte ihr abermals eine Gänsehaut. Furcht kroch in ihr hoch, nicht nur wegen der enormen Ausmaße des Throns. Es handelte sich nicht um einen gewöhnlichen Sessel. Dieser schien aus braunem und zähem Schlamm zu bestehen, und immer wieder entdeckte sie eine Bewegung unter der seltsamen Masse – als ob sich etwas aus dem Inneren befreien wollte.

Lea machte schon einen Schritt in Richtung der Stufen, als das Knurren unmittelbar hinter ihr ertönte. Sie dachte nicht nach, als sie losstürmte und in den Gang hineinlief, den sie von der anderen Seite gesehen hatte. Der war allerdings nicht sehr lang, und ihr blieb kurz das Herz stehen, bis sie an der rechten Seite eine schwarze Eichentür erblickte. Diese stand einen Spalt offen, und sie schlüpfte leise hindurch. Wieder stand sie in einer großen Höhle, doch diese war offensichtlich bewohnt.

Die hintere Wand konnte sie bei dem dämmrigen Licht, das hier herrschte, nur erahnen. Links von ihr standen mehrere Regale an der Wand, die mit Büchern und Schriftrollen vollgestopft waren. Zu ihrer Rechten stand ein monströser Tisch, der Platz für zehn schwere Eichenstühle bot. Diese hatten Rückenlehnen, hinter denen sie sich problemlos hätte verstecken können, und die Sitzflächen boten Platz für zwei ausgewachsene Männer.

Lea konnte sich keine Wesen vorstellen, die Verwendung für solche Möbel gehabt hätten, und dachte erleichtert: „Dies ist definitiv nur ein Traum. Und wenn ich gleich aufwache, wird sich herausstellen, dass auch alles andere bloß ein böser Traum gewesen ist.“

Sie ging lächelnd an den Regalen vorbei, bis diese endeten und Wandteppichen und Gemälden Platz machten. Dort verschwand ihre Zuversicht mit einem Schlag, und sie betrachtete angewidert einige Bilder. Darauf waren Menschen mit abgehackten Gliedmaßen zu sehen, die mit weit aufgerissenen Mündern den Betrachter anstarrten und darauf warteten, von der dunklen Gestalt, die sich auf allen Gemälden wiederfand, endlich erlöst zu werden. Mit flauem Magen kehrte sie der Wand den Rücken, und ihr Blick fiel sofort auf einen steinernen Schreibtisch an der gegenüberliegenden Wand. Auf diesem stand eine Öllampe, die einzige Lichtquelle in dieser Höhle. Lea starrte den Stuhl an, der ebenfalls über eine sehr hohe Rückenlehne verfügte, und ein seltsames Gefühl überkam sie.

Wie von selbst bewegten sich ihre Beine langsam voran, als ob sie magisch angezogen würden. Und Lea fragte sich noch, ob dort wohl jemand saß. Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende geführt, ertönte eine tiefe Stimme.

„Ich habe befohlen, mich nicht zu stören!“

Abrupt blieb sie stehen und sah den Mann erschrocken an, der urplötzlich vor dem Schreibtisch stand. Er trug einen schweren Ledermantel mit einer Kapuze über seinem Kopf.

Mit einem leisen Knurren ging er knapp an ihr vorbei zur Tür, wobei er sie nicht zu bemerken schien.

„Verzeiht, Meister! Ich bin einer Spur gefolgt, die mich hierher führte.“

„Und, siehst du hier jemanden außer mir?“, fragte der Mann erbost.

Kleinlaut antwortete der andere.

„Nein, Herr. Aber ich bin mir sicher, dass mich meine Nase nicht täuscht.“

Melea konnte ihn nicht sehen, ging aber davon aus, dass es sich um ihren knurrenden Verfolger handelte. Ein wütendes Knurren war nun zu hören, was wiederrum von dem Mann stammte, und er sagte grollend.

„Ich werde deine Nase gleich abschneiden und dir als Nachtmahl zubereiten, wenn du nicht augenblicklich verschwindest.“

Meleas Verfolger winselte leise.

„Ja, Meister, ich bin schon weg.“

Der Kapuzenmann warf die Tür ins Schloss und kehrte langsam in die Höhle zurück. Dabei fiel Lea seine Statur auf. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Der Mann war größer und breiter als Geralt, und der maß bereits knapp zwei Meter. Hinter dessen breitem Kreuz hätte sie sich zweimal verstecken können.

„Wieso kann ich ihn sehen, aber den anderen nicht? Und warum sieht er mich nicht?“, fragte sich Lea unbehaglich.

Als er auf ihrer Höhe war, überkam sie plötzlich ein unbeschreibliches Gefühl der Furcht. Unwillkürlich wich sie zurück. Doch sie hielt mitten in der Bewegung inne, da der Mann abrupt stehenblieb und seinen Kopf in ihre Richtung drehte. Lea konnte nur die Kinnpartie und den Mund sehen, da der Rest des Gesichtes im Schatten der Kapuze verschwand. Sie spürte, dass er sie anstarrte. Leise knurrend wandte er sich zu ihr, und Lea hielt den Atem an. Ganz langsam wich sie zurück und erstarrte erneut, als sie ihren Schatten entdeckte, der bis zur gegenüberliegenden Höhlenwand reichte. Erschrocken blickte sie auf, genau in dem Moment, als sich eine Hand um ihren Hals schloss. Prompt verlor sie den Boden unter den Füßen und krachte mit dem Rücken gegen eine Wand.

„Wer bist du? Zeig dich!“

Lea strampelte wild mit den Beinen und versuchte, ihre Finger unter die Hand des Mannes zu zwängen, um den Griff um ihren Hals zu sprengen.

„Zeig dich“, herrschte er sie erneut an.

Seine Stimme erschien Lea wesentlich dunkler als vorhin. Aber das rückte in den Hintergrund, da sie vergeblich nach Atem rang. Sie ging dazu über, nach ihm zu schlagen. Dabei wischte sie ihm die Kapuze vom Kopf, und beim nächsten Schlag fing er ihre Hand ab. Verwundert meinte er: „Das sind keine Männerhände.“

Er ließ ihre Hand los und betastete ihren Körper, worauf Lea reflexartig reagierte und ihm eine schallende Ohrfeige verpasste. Knurrend setzte er sie auf dem Boden ab und umfasste jetzt mit beiden Händen ihren Kopf. Währenddessen hustete Lea würgend und krallte sich an seinem Mantel fest, im verzweifelten Versuch, Atem zu schöpfen. Ihr Zustand schien ihn jedoch nicht zu interessieren. Er riss brutal an ihren Haaren und zwang so ihren Kopf in den Nacken.