Melea

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Rion kauerte neben Lea und hielt ihre Hand.

„Wie lange wird die Fahrt dauern?“

Geralt, der ebenfalls auf dem Boden saß, hatte ihren Kopf auf seinen Oberschenkel gelegt und hielt Leas andere Hand.

„Wir werden in weniger als einer halben Stunde am Tor sein.“

Lea war vor einiger Zeit erwacht und musste zu ihrem Entsetzen feststellen, dass sie sich nicht mehr auf Geralts Schiff befand. Eine ganze Weile war sie durch den düsteren Saal gerannt und hatte panisch nach ihrem Vater und Geralt gerufen, jedoch ohne Erfolg. Ergebnislos verlief auch die Suche nach einem Ausgang. Es gab keine Tür, kein Tor – nicht einmal einen feinen Spalt in den Wänden. Diese bestanden aus schimmerndem Material, das Lea eher an Perlmutt erinnerte. Aber die Wände waren steinhart, wie sie nach mehreren Tritten und Faustschlägen feststellen musste.

Dann erschien in der Mitte ihres weitläufigen Gefängnisses plötzlich eine Tür, bestehend aus einem bläulich schimmernden Licht. Diese hatte sie mehrmals umrundet und ungläubig gemustert, bis sie schließlich hindurchgegangen war. Letztlich gab es keine andere Wahl, und tatsächlich fand sie sich auf der Seeschlange wieder. Ihre Erleichterung wich schierem Entsetzen, als sie ihren Vater umarmen wollte und einfach durch ihn hindurchfiel.

Weder er noch die anderen sahen, hörten oder spürten sie. Sie hatte wirklich alles versucht, um auf sich aufmerksam zu machen. Und nachdem ihr die Puste ausgegangen war und sie gerade tief durchatmen wollte, sah sie ihren Vater, der ihren Körper vom Bett hob und auf dem Schreibtisch ablegte.

Daraufhin hatte sie geschrien, getobt und versucht, in ihren Körper einzudringen, was aber nicht gelang. Denn jedes Mal, wenn sie ihren Körper berührte, verkrampfte dieser und zuckte unkontrolliert. Das ging so lange, bis sie von einem Sog erfasst wurde, der sie in den Saal zurückbrachte.

Die Tür war verschwunden. Nun lag sie zitternd in einer Ecke und versuchte zu begreifen, was mit ihr geschah.

8. Mond, im 988. Jahr der Barriere

Königin Nalia

1

Die Bewohner eines kleinen Fischerdorfs am Rande der Hauptstadt waren in hellem Aufruhr. Inzwischen hatten sich alle am Strand vor der Königsklippe versammelt, um das eigentümliche Wesen zu sehen, das in der Nacht angespült wurde.

Die Größe der Kreatur entsprach einem Schweinswal, doch die Form erinnerte an eine Nacktschnecke ohne Fühler. Auch die immense Menge an Schleim, die das schiefergraue Tier absonderte, ließ eher auf diese Gattung schließen. Allerdings gab es wohl keine Schnecke mit einem Maul, das aus mehreren kreisrunden Kiefern bestand, die bis weit in den Schlund reichten. Bestückt waren diese mit handlangen und nach hinten gerichteten Zähnen.

Einige Stadtsoldaten waren bereits anwesend und hielten die Dörfler auf Abstand. Die Menschen staunten nicht schlecht, als drei große Planwagen und mehrere Reiter den Strand entlangkamen. Bei den Reitern handelte es sich um Soldaten der Königsgarde, und angeführt wurden sie von einem großen Mann in prachtvoller Rüstung.

Er ritt bis an die Wasserlinie, stieg aus dem Sattel seines dunkelbraunen Schlachtrosses und begrüßte den Hauptmann der Stadtsoldaten, indem er ihm wortlos die Hand gab.

„Und die Königin will es wirklich zum Palast schaffen lassen?“, fragte der Hauptmann.

„Ja. Sie möchte es von den Magiern und Alchimisten untersuchen lassen. Ihr kennt sie doch.“

Der Blick des Hauptmanns fiel auf die Planwagen, aus denen weitere Soldaten sprangen.

„Und wie sollen wir dieses Monstrum dahin bekommen?“

Die blaugrauen Augen seines Gegenübers funkelten amüsiert.

„Nun, Bigelis – schnappt Euch ein paar Männer und hievt es auf einen Wagen. Falls das nicht funktioniert, müsst ihr es wohl in mehreren Teilen abtransportieren. Was der Königin allerdings nicht gefallen wird.“

Der Hauptmann schaute ihn ärgerlich an, musste aber grinsen.

„Also gut, General Halldor! Für diese Drecksarbeit gibt es für die Männer und mich aber ein Fass Bier. Auf Eure Kosten, versteht sich.“

Halldor verdrehte leicht die Augen, schlug aber in die dargebotene Hand ein.

„Aber nur, weil du es bist, Vater“, sagte er leise.

Lauter fragte er dann: „Wo ist der Fischer, der das Wesen gefunden hat?“ Hauptmann Bigelis wies mit der Hand den Strand hinauf.

„Wir haben soeben alle ins Dorf zurückgeschickt. Warum?“

„Ich soll ihm den Dank der Königin aussprechen und ihm etwas geben.“

„Fragt im Dorf nach dem alten Froft, er fand es in der Morgendämmerung.“

Halldor verabschiedete sich und ritt mit seinen Männern zum Dorf.

Die Königin lief in ihren Gemächern nervös auf und ab.

Vergangene Nacht war sie mal wieder von schrecklichen Alpträumen heimgesucht worden. Nun wartete sie auf den obersten Heiler.

„Wie lange soll das noch so weitergehen?“, fragte sie sich.

In jeder Nacht der vergangenen zwei Jahre hatte sie ihren verschollenen Gemahl und dessen Jagdgesellschaft im Traum gesehen. Die Männer ritten im schnellen Tempo durch einen finsteren Wald. Blätter rieselten von den Bäumen, und Baumgeister beobachteten den Trupp von den Wipfeln aus.

Die Gesellschaft machte an den Ruinen einer alten Burg Rast. Nalia beobachtete ihren König und seine Männer, wie sie sich betranken. Irgendwann in der Nacht stolperte ihr Gemahl durch die Ruinen und begegnete einem magischen Geschöpf.

In der Erscheinungsform einer wunderschönen Frau verführte es ihn auf einem verwitterten Steinaltar. Sie saß auf seinem Schoß und drückte seine Arme nach unten, sodass sie über seinem Kopf lagen. Steinerne Hände krochen daraufhin aus dem verwitterten Stein und umschlossen seine Hand- und Fußgelenke, was er gar nicht zu registrieren schien. Auch nicht, wie sich das Gesicht des Geschöpfes drastisch veränderte. Die Haut wurde faltig und grau, das lange Haar änderte die Farbe von blutrot zu schlohweiß. Dann entblößte die Hexe faulige Zähne, drehte den Kopf zu Nalia und fixierte sie aus rot-weiß-marmorierten Augen. Währenddessen rammte sie eine Hand in den Brustkorb ihres Gemahls und entriss ihm, unter schrillem Gelächter, das Herz.

Nalia konnte jetzt noch den Blick der Hexe spüren. Tief im Inneren hörte sie ihr fürchterliches Lachen. Aber das war noch nicht das Ende des Traums. Denn auch wenn Alatheus kein Herz mehr besaß, erhob er sich und schlachtete seine Gefährten ab. Auch diese erhoben sich wieder.

Nalia lief es eiskalt den Rücken hinunter. Seit zwei Jahren ließ sie jetzt nach ihrem Gemahl suchen. Nicht dass er ihr sehr ans Herz gewachsen wäre, aber sie wollte ihm zumindest ein anständiges Begräbnis zukommen lassen. Sie glaubte nicht mehr daran, ihn je lebendig wiederzusehen.

Es klopfte an der Tür, und der oberste Heiler trat ein. Er fiel auf ein Knie und beugte sein Haupt.

„Kommt, Helimus. Setzen wir uns.“

Nalia setzte sich und wies mit der Hand auf den Sessel neben sich.

„Der Trank hat leider nicht gewirkt“, sagte sie seufzend.

„Was habe ich meinem Gemahl nur getan? Wieso quält er mich Nacht für Nacht?“

Helimus sah sie besorgt an.

„Ich werde weiter nach etwas suchen, das Eure Träume unterbindet. Vielleicht solltet Ihr auch mal darüber nachdenken, wieder zu heiraten. Es könnte dem Spuk ein Ende bereiten, und Ihr …“

Nalia funkelte ihn zornig an und unterbrach ihn.

„Kein Wort weiter! Bevor ich nicht weiß, was mit Alatheus geschehen ist, werde ich keinen Gedanken an eine neue Heirat verschwenden. Damit das klar ist!“

Ihre Hände zitterten leicht, was dem Heiler natürlich nicht entging.

„Habt Ihr heute schon etwas zu Euch genommen, Hoheit?“

Nalia seufzte erneut und erhob sich.

„Ich werde jetzt nach unten gehen und etwas essen. Bisher hatte ich noch keine Zeit dazu.“

Helimus stand ebenfalls auf und verbeugte sich.

„Ich werde Euch ein Stück des Weges begleiten, falls es Euch genehm ist.“

„Aber ja, kommt. Lasst uns gehen.“

Als sie an dem langen Flur mit den speziellen Gastgemächern vorbeikamen, bemerkte Nalia die nervösen Blicke des Heilers.

„Ihr braucht keine Furcht zu haben. Die Türen sind nicht böse“, sagte sie lächelnd.

Sie fuhr mit den Fingerspitzen über ein Türblatt, auf dem in prächtigen Farben Tiere verewigt waren. Auch magische Wesen schauten hinter Blättern oder Steinen hervor. Je länger sie hinsah, desto mehr entdeckte Nalia. Die Motive verändertensich unentwegt. Wo eben noch ein Hirsch gestanden hatte, saß nun ein Biber, und eine Eule hatte den Platz mit einem Eichelhäher getauscht.

Niemand wusste, wer diese Türen bemalt hatte, aber Gerüchten zufolge soll es eine Fee gewesen sein. Insgesamt gab es fünfzehn dieser Türen. Die Gemächer dahinter waren nur für ganz besondere Gäste. Diese suchten sich ihr Zimmer selbst aus, wodurch Nalia auf den Charakter des Besuchers schließen konnte.

Die Königin wandte sich Helimus zu, der an der gegenüberliegenden Wand verharrte.

„Nun kommt weiter. Ich werde Euch wohl nicht mehr davon überzeugen können, dass diese Türen ungefährlich sind.“

„In diesem Leben nicht mehr“, meinte der alte Heiler schmunzelnd.

Nalia ging in den Bankettsaal hinab und ließ sich ein verspätetes Frühstück bringen. Da sich Helimus unterwegs verabschiedet hatte, war sie wieder allein mit ihren Gedanken.

„Wer weiß, vielleicht hat er ja sogar Recht? Zwei Jahre sind eine lange Zeit. Irgendwann werde ich einen neuen König wählen müssen“, dachte sie.

Nach dem Frühstück ließ sie ihr Pferd bringen und unternahm einen Ausritt. Dies tat sie jeden Morgen, um sich selbst zu überzeugen, dass alles in Ordnung war. Sie hatte stets ein offenes Ohr für die Menschen, die im und um den Palast arbeiteten. Immerhin sorgten diese Menschen dafür, dass täglich ihr Essen auf den Tisch kam.

 

Das Palastgelände war riesig. Mit dem Pferd würde sie eine gute halbe Stunde brauchen, um bis zum Tor zu kommen. Aber dahin wollte Nalia heute nicht. Sie ritt den Waldweg hinauf, weil es im Schatten der Bäume angenehm kühl war. Dann folgte sie dem rechten Weg zu den Nutzgärten.

Der Palast versorgte sich mit fast allem selbst. Es gab einige Obstplantagen, aber auch Gemüse und Getreide wurden angebaut.

In dem Teil des Geländes, den sie nun durchritt, gab es auch ein paar Weiden und einige Gehege, Ställe und Koppeln für Arbeitspferde, Schweine, Rinder, Kühe, Schafe und Hühner.

Nalia winkte zwei alten Frauen zu, die sich um die Kräutergärten kümmerten und unterhielt sich eine Weile mit ihnen, bevor sie schließlich zu den Stallungen ritt.

Sie stieg aus dem Sattel, ebenso ihre ewigen Begleiter. Die vier Wachen der Königsgarde nahmen hinter ihr Stellung auf und folgten ihr.

„Ist jemand hier?“, rief Nalia in den Stall hinein.

Sie band die Zügel an einer nahegelegenen Koppel fest. Als sie leises Gelächter vernahm, hob sie den Saum ihres Kleides an und ging durch das hohe Gras hinter die Stallungen. Dort erblickte sie bei den Zwingern zwei Burschen, die sich einen Spaß daraus machten, einen kleinen Welpen zu quälen. Sie stachen mit spitzen Stöcken auf ihn ein, während der arme kleine Kerl herzerweichend winselte.

Nalia traute ihren Augen nicht, wandte sich ihren Wachen zu und wies mit dem Kopf zu den Burschen.

„Wir sollten den jungen Männern die gleiche Behandlung zukommen lassen, findet ihr nicht auch?“

Die Wachen zückten grinsend die Schwerter und umkreisten die beiden Burschen. Kurz darauf quiekten die Jungs wie Ferkel, da ihnen die Männer abwechselnd in den Allerwertesten stachen.

Nalia ließ sie eine Zeitlang gewähren, bis sie schließlich sagte: „Das reicht vorerst.“

Missbilligend begutachtete sie die Jungs und trat näher an sie heran, worauf zwei Wachen die Burschen am Nacken packten und auf die Knie zwangen.

„Kniet gefälligst vor eurer Königin, ihr kleinen Bastarde“, brüllte der Hauptmann der Wache.

Nalia ging vor den beiden auf und ab und verschränkte die Hände auf dem Rücken.

Dann erst sah sie dem einen und dann dem anderen fest in die Augen. Die Burschen senkten direkt die Köpfe.

„Mmh, was mach ich nur mit euch? Wie kommt ihr dazu, meine Hunde zu quälen? Und dann auch noch einen, der sich nicht mal wehren kann.“

Wieder musste der Hauptmann einschreiten. Er verpasste jedem einen Schlag in den Nacken.

„Antwortet gefälligst!“

Einer der Jungs stotterte.

„Wir … er … er ist doch bloß eine Missgeburt. Der Meister kaufte einen Sack Welpen am Hafen, bemerkte aber nicht, dass einer von ihnen schwach und blind war.“

Nalia traute ihren Ohren nicht.

„Das gibt euch nicht das Recht, das arme Geschöpf zu quälen. Ich werde mit eurem Meister darüber sprechen, ob Burschen wie ihr überhaupt tragbar für mich sind. So, und nun zu eurer Bestrafung.“

Nalia sah den Hauptmann an.

„Was meint Ihr? Welche Strafe ist gerechtfertigt für solch eine Tat?“

„Nun, ich denke, wir sollten ihnen eine Hand abschlagen und sie vom Palastgelände jagen“, meinte er grinsend.

Der andere Bursche blickte ängstlich auf.

„Das könnt Ihr doch nicht zulassen, Herrin.“

Der Hauptmann verpasste ihm einen heftigen Schlag in den Nacken.

„Sie ist deine Königin, du Trottel.“

Er sah Nalia an und sagte nun todernst: „Beide Hände. Und im Alp Hain aussetzen.“

Die Königin bemerkte das schelmische Funkeln in seinen Augen. Zudem zuckten seine Mundwinkel verdächtig, als die Burschen zu wimmern anfingen. Sie musste sich sehr zusammennehmen, um nicht auch zu grinsen.

„Ich werde es mir überlegen. Zunächst sollen die beiden jeweils zehn Peitschenhiebe erhalten. Und wenn mir zu Ohren kommt, dass ihr auch nur eine Fliege erschlagen habt, dann seien euch die Götter gnädig.“

Nalia nickte ihren Wachen zu.

„Kümmert euch um die Bestrafung. Umgehend!“

Die Burschen wurden auf die Beine gezerrt, ihrer Hemden entledigt, und einer der Männer besorgte eine Lederpeitsche aus dem Stall. Während Nalia die Peitschenhiebe zählte, nahm sie das kleine Fellbündel, das sich gegen ihr Bein gedrückt hatte, auf ihre Arme.

Sie sah traurig in die weißen pupillenlosen Augen des schwarzen Welpen.

„Du siehst trotz deiner Behinderung kräftig aus. Du wirst deinen Weg finden, da bin ich mir sicher.“

Sie setzte ihn in einen freien Zwinger und stellte eine Schale Wasser hinein. Auf dem Weg zum Palast sprach sie noch einmal den Hauptmann an.

„Würdet Ihr bitte einen Blick auf die beiden haben? Ich will wissen, was sie sonst noch so anstellen.“

Er verbeugte sich.

„Natürlich, Eure Hoheit. Es wird mir ein Vergnügen sein.“

Nalia ging über den großen Vorplatz des Hauptgebäudes, als laute und sehr schnelle Hufschläge sie innehalten ließen.

Ein rothaariger Junge und ein Torwächter zügelten ihre Pferde und sprangen aus den Satteln. Während der Wächter bereits kniete, kam der Junge zögerlich näher und sah sie aus großen Augen an. Zumindest so lange, bis er am Handgelenk gepackt und auf die Knie gezerrt wurde.

„Majestät, der Junge hat eine dringende Nachricht vom Hafen. Er beharrte darauf, zu Euch vorgelassen zu werden und sagte, es ginge um Leben und Tod.“

Nalia ließ die beiden aufstehen und betrachtete den zerzausten und verschwitzten Burschen.

„Er muss wie ein Dämon geritten sein“, dachte sie.

Sie trat einen Schritt auf den Jungen zu.

„Wie ist dein Name?“

„Tanais“, antwortete er leise.

„Nun, Tanais, was hast du mir mitzuteilen? Sprich!“

„Am Hafen hat ein Schiff angelegt, die Seeschlange. Der Kapitän und die Besatzung stammen von der Insel Kalmar. Der Kapitän und ein Mann namens Rion berichteten von fremdartigen Kreaturen, die sie angegriffen und die Insel eingenommen haben. Sie haben es gerade so geschafft, zu fliehen. Bei ihrer Flucht sahen sie noch viele fremde Schiffe, die nahe der Insel vor Anker gingen. Die Kalmarer sind auf dem Weg hierher und wollen mit Euch sprechen. Außerdem …“

Nalia hob eine Hand, woraufhin Tanais verstummte, und wandte sich einem Wachmann zu.

„Holt sofort Hauptmann Celvin her. Er soll ein paar Männer mitbringen.“

Nalia sah ihm nach, bis er im rechten Nebengebäude verschwand. Wenig später kam der Hauptmann mit Gefolge angelaufen, und die Männer fielen vor Nalia auf die Knie. Doch sie wedelte ungeduldig mit einer Hand.

„Erhebt Euch, Hauptmann, und hört zu. Es geht um die Insel Kalmar.“

Sie wandte sich wieder an den Jungen.

„Wann werden sie hier sein?“

„Ich schätze, dass sie bereits am Tor sind. Ich wäre ja schneller hier gewesen, aber ich wurde am Tor ziemlich lange aufgehalten.“

Er bedachte die Torwache mit einem gehässigen Seitenblick, was Nalia ignorierte.

„Gibt es sonst noch etwas zu berichten?“

Tanais nickte heftig.

„Ja, Hoheit. Eine junge Frau ist schwer verletzt. Rion trug sie und sagte, sie bräuchte so schnell wie möglich Hilfe. Und er weinte bei den Worten, Hoheit.“

Celvin schob sich vor den Jungen und griff nach seiner Schulter.

„Wie sah die Frau aus?“, fragte er atemlos.

Tanais bekam leuchtende Augen.

„Sie hat lange dunkelbraune Haare und bestimmt ein sehr schönes Gesicht, wenn sie nicht so viele Prellungen hätte. Außerdem war sie sehr schlank und groß.“

„Bei den Göttern“, flüsterte Celvin.

Er drehte sich zur Königin um und sah sie nervös an.

„Nehmt ein paar Männer mit und bringt die Leute auf schnellstem Wege hierher. Ich werde mich darum kümmern, dass sich Helimus persönlich der Frau annimmt.“

Einen Augenblick später war vom Hauptmann nichts mehr zu sehen, und Nalia wandte sich wieder Tanais zu. Sie nestelte an ihrem Gürtel und zog aus einem kleinen Fach, das auf der Innenseite eingenäht war, eine Silbermünze hervor.

„Das hast du sehr gut gemacht, Tanais“, sagte sie lächelnd und drückte ihm die Münze in die Hand.

Kurz darauf eilte Nalia durch den Palast zu den Krankenquartieren. Dort trug sie Helimus auf, ein Zimmer herrichten zu lassen und ihr zwei Männer mit einer Trage zu schicken. Außerdem sollte er sich bereithalten, wenn die junge Frau gebracht würde. Danach eilte sie zurück und fing unterwegs einen Diener ab. Ihm gab sie die Anweisung, im Nebengebäude einige Gästezimmer herrichten zu lassen und auch Essen und Getränke bereitzustellen. Dann schickte sie einen Boten los, der General Halldor holen sollte.

Als Lea die Augen öffnete, bemerkte sie sofort das dämmrige Licht und erhob sich langsam.

„In welcher Hölle des Schattenreichs bin ich hier nur gelandet?“, murmelte sie ängstlich.

Langsam näherte sie sich der Mitte ihres weitläufigen Gefängnisses. Von dort sah sie zuerst zur linken und dann zur rechten Wand. An beiden Wänden befand sich jeweils eine Tür, und diese waren vorhin definitiv nicht da gewesen. Beide leuchteten fahl, so wie die Tür, durch die Lea auf die Seeschlange gelangt war.

Unschlüssig, was sie tun sollte, trat sie von einem auf den anderen Fuß, bis sie wegen eines lauten Fauchens herumfuhr. Sie taumelte entsetzt zurück, da sich unmittelbar vor ihr ein flammendes Frauengesicht befand.

„Was willst du von mir?“, fragte Lea ängstlich.

Das Flammengesicht verharrte an Ort und Stelle.

„Hab keine Furcht vor mir, Melea. Ich will versuchen, dir zu helfen.“

„Hast du mich hierhergebracht?“

Die Feuerahnin kam nun etwas näher.

„Nein! Das Blut des toten Gottes hält dein Bewusstsein gefangen.“

Lea schüttelte unverständlich den Kopf.

„Was soll das heißen? Was für ein toter Gott?“

Die Flammenfrau sagte nichts, sondern wies mit einer feurigen Hand, die plötzlich auftauchte, zur rechten Tür. Dann verschwand sie einfach. Lea drehte sich langsam um und ging zu der Tür. Dort schaute sie auf ihre zittrige Hand, die bereits auf dem

Knauf lag.

„Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig.“

Lea drehte den Knauf und fand sich in einem großen, langgestreckten Raum wieder, der komplett mit Holz verkleidet war. An der Decke hingen Öllampen, die ein seltsames blaues Licht verströmten. Erstaunt besah sie sich die Lampen, die in dreieinhalb Metern Höhe leicht hin und her schaukelten.

„Ich bin auf einem Schiff.“

Am anderen Ende des Raumes bemerkte sie im Halbdunkel eine Bewegung. Sie ging an der Außenwand entlang in die Richtung.

„Tretet ein!“

Lea hätte fast aufgeschrien, als die Stimme in ihrem Kopf erklang.

Erschrocken hielt sie sich eine Hand vor den Mund und hockte sich hastig neben eine riesige Truhe, als es plötzlich heller wurde. Zwei große Feuerschalen standen da, und ihr Inhalt ging plötzlich in Flammen auf. Die Schalen flankierten einen großen, goldenen Thron. Leas Augen weiteten sich, als sie die seltsame Kreatur darauf betrachtete.

Das Wesen besaß einen fast menschlichen Körper, abgesehen davon, dass die dürren Arme und Beine viel zu lang waren. Der Kopf war nicht menschlich und wirkte viel zu groß, ebenso wie die giftgrünen und lidlosen Augen. Einen Mund gab es nicht, und dort, wo die Nase hätte sein sollen, befanden sich zwei kleine Löcher. Unter der milchig weißen Haut schimmerten grüne Adern.

Lea wandte fassungslos den Blick ab, da sie laute Schritte vernahm, und hielt unwillkürlich den Atem an, als Medon und ein weiterer Geflügelter den Raum betraten.

Die beiden knieten vor dem Thron nieder, und wieder erklang eine Stimme in ihrem Kopf. Diese besaß einen sehr sanften Klang. Dennoch bekam Lea eine Gänsehaut.

„Sprecht!“

Sie besah sich den zweiten Geflügelten und stellte fest, dass dieser um einiges breiter und größer als Medon war.

„Herr, mein Sohn hat schwere Wunden davongetragen, als er die Flüchtigen stellen wollte.“

Lange dürre Finger winkten den Verletzten zu sich.

„Komm zu mir, Medon. Lass mich sehen, was sich zugetragen hat.“

Er erhob sich stöhnend und kniete unmittelbar vor dem Thron wieder nieder. Lea beobachtete, wie das Wesen eine Hand auf den Kopf des Geflügelten legte, woraufhin er gequält aufstöhnte. Das war kein Wunder. Medon hatte heftige Verbrennungen erlitten, und das Wesen nahm keinerlei Rücksicht. Es drückte die Finger in das rohe Fleisch an Stirn und Schläfen, doch Medon gab keinen weiteren Ton von sich.

 

„Dass er überhaupt noch lebt“, dachte Lea.

Sie betrachtete entsetzt die Verletzungen, die er vom Feuer davongetragen hatte. Sein Rücken war eine große, blutende Wunde, und die gigantischen Schwingen waren zu schwarzen Klumpen geschmolzen. An Armen und Beinen gab es offene und nässende Brandwunden, bei den meisten konnte sie bis auf das rohe Fleisch sehen.

Lea löste sich schockiert von diesem Anblick, als das Wesen sagte: „Das Mädchen ist stark im Geiste und anscheinend sehr mutig. Aber sie wurde von einem Klyhrr gebissen und trägt somit mein Blut in sich. Sie wird noch in einer Bewusstseinsstarre sein.“

Das Wesen nahm die Hand von Medons Kopf.

„Was wünschst du von mir, Medon?“

Der Geflügelte blickte hasserfüllt auf.

„Rache!“

Das Wesen nickte zufrieden und legte seine Hand erneut auf Medons Kopf.

Dieser brüllte nun schmerzerfüllt und krümmte sich.

„Das kann nicht sein“, wisperte Lea völlig entsetzt.

Medons Körper wurde immer durchscheinender, als würde er sich auflösen. Es dauerte nicht lange, bis seine gepeinigten Schreie abrupt verstummten.

Lea starrte den grauen Nebel in der Gestalt des Geflügelten ungläubig an.

Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken, als das Wesen sagte: „Finde das Mädchen. Dringe in ihr Bewusstsein ein, und du wirst deiner Rache freien Lauf lassen können.“

Als sich Lea bewusst wurde, was er da gesagt hatte, schlug sie eine Hand vor den Mund. Sie spürte den Schrei, der sich ihre Kehle hocharbeitete. Das Wesen lachte leise, und Lea spürte plötzlich seinen Blick. Doch als sie zu ihm schaute, starrte er immer noch Medon an.

Sie schüttelte sich unbehaglich und beobachtete den Nebel, der sich schnell verzog.

„Und nun zu dir, Oreus. Warum ist mein Heer noch nicht vollzählig?“

Der andere Geflügelte senkte den Kopf.

„Das Portal ist zusammengebrochen, Herr. Eure Hexer arbeiten fieberhaft daran, es wiederherzustellen, um die Armeen hierher zu holen. Aber es treffen immer mehr Schiffe von Euren Inseln …“

Lea verspürte einen Sog und fand sich wenig später im Saal wieder, wo sie schreiend auf die Knie fiel und wie ein kleines Kind auf den Boden trommelte.

„Wie lange dauert das denn noch? Verflucht noch mal“, regte sich Rion auf.

Sie standen seit geraumer Zeit vor den Toren zum Palast, und nicht nur er verlor langsam die Geduld.

„Solange wir keinen Befehl erhalten, Euch passieren zu lassen, werdet Ihr warten müssen“, sagte einer der Wachen.

„Meine Tochter liegt dort in der Kutsche, und …“

„Das habt Ihr uns schon ein Dutzend Mal mitgeteilt. Ohne entsprechende Order bleiben diese Tore geschlossen.“

Rion war drauf und dran, dem Mann an die Kehle zu gehen, weshalb Matt ihn am Arm packte und ein paar Schritte wegzog. In dem Moment sprang Geralt vom Wagen, und allein dessen Gesichtsausdruck reichte aus, Matt dazu zu bewegen, Rion loszulassen und stattdessen Geralt zu packen.

„Lass mich los! Ich hau die Idioten jetzt weg.“

Matt keuchte vor Anstrengung bei dem Versuch, Geralt festzuhalten. Doch der schien sein Gewicht gar nicht zu spüren. Während er hinter ihm herschlitterte, sah Matt zu den Wachen. Die sechs Männer starrten Geralt an, der jeden von ihnen um

mindestens eine Haupteslänge überragte. Zudem war er doppelt so breit und seine Oberarme so dick wie ihre Oberschenkel.

„Lass den Mist, Geralt! Die Jungs haben Schwerter und Hellebarden, und diese werden sie auch einsetzen.“

„Ich wickele denen ihre Scheißhellebarden um die Hälse, wenn sie nicht auf der Stelle die Tore öffnen.“

Geralt blieb verblüfft stehen, da die Männer eilig die Tore aufrissen.

„Geht doch“, murmelte er.

„Na, endlich! Ich sage den anderen Bescheid und bleibe dann bei Lea“, sagte Rion und lief zu den Wagen.

Matt atmete tief durch. Als er die Männer erblickte, die auf der anderen Seite der Tore soeben ihre Pferde zügelten, fragte er: „Ist das Celvin?“

„Er trägt den Umhang eines Hauptmannes, das kann er nicht sein.“

Der Mann, über den sie sprachen, war direkt aus dem Sattel gesprungen und stand nun seitlich zu ihnen, während er kurz mit einem Wachmann sprach. Dann kam er mit ausgreifenden Schritten zu ihnen.

„Er ist es tatsächlich“, meinte Geralt und umarmte Celvin kurz.

„Wo ist Lea? Geht es ihr gut? Was ist überhaupt passiert?“

„Wir werden dir alles erklären, aber Lea braucht unbedingt einen Heiler, und wir müssen zur Königin.“

Celvin rannte zu den Wagen und rief: „Lea! Lea, wo bist du?“

Sander zeigte auf den hinteren Wagen, woraufhin Celvin darin verschwand. Kurz darauf sprang er wieder heraus und rannte zu den Toren. Dort sprach er mit einem Mann zu Pferd, der wenig später davonpreschte. Celvin stieg ebenfalls auf sein Pferd.

„Ich bringe euch zum Palast!“

Die Insassen der beiden Kutschen wurden ziemlich durchgeschüttelt, da Celvin ein hartes Tempo vorgab. So gelangten sie schnell zum Palast, und nun standen die Kalmarer vor dem Hauptgebäude.

Die Fassade war in Grau gehalten, wie der gigantische Felsen, in den der Palast und die beiden Nebengebäude hineingebaut waren. Das Hauptgebäude ragte mehrere Meter heraus, sodass es aussah, als wäre es aus dem Felsen gewachsen. Weiße Balkone entlang der ersten und zweiten Etage hoben sich von dem tristen Grau ab und verliefen über die gesamte Breite von etwa dreißig Metern. Über den Balkonen gab es weitere drei Etagen. Zwischen den breiten Fensterfronten hatten Steinmetze fantastische Figuren in den Stein gemeißelt, tierische sowie menschliche.

Rion konnte sich nur schwer vom Anblick des Palastes lösen. Er war noch nie hier gewesen, und ihm waren bereits die Stallungen riesig erschienen, an denen sie vorhin vorbeifuhren. Aber dieser Anblick raubte ihm schier den Atem.

Kopfschüttelnd sah er zum Eingang, der über zwei riesige Flügeltüren verfügte, und fragte sich, ob hier Riesen ein und aus gingen.

„Welcher normale Mensch braucht Türen von vier Metern Höhe?“, murmelte er.

Die beiden Wachen rechts und links der Tore trugen silberglänzende Rüstungen und schwarze Umhänge. Sie waren mit Schwertern und Hellebarden bewaffnet. Bestimmt gaben sie eine imposante Erscheinung ab, doch neben den Toren wirkten sie ein wenig verloren, wie Rion fand.

Geralt wartete auf Celvin, der soeben sein Pferd an einen Stallburschen übergab und zu ihnen kam.

„Wie geht es weiter?“

Celvin deutete mit dem Kopf zum Eingangsportal, aus dem gerade sechs Soldaten der Königsgarde traten. Die Männer nahmen auf der Treppe Aufstellung. Kaum standen sie, kamen zwei ältere Männer mit einer Bahre herunter.

Geralt wollte zu Rion, als die Männer die Trage neben ihm ablegten, doch Celvin hielt ihn zurück.

„Keine Sorge! Sie gehören dem Heilerorden an und werden Lea direkt zu Helimus bringen. Er ist der Oberste und wird sich persönlich um sie kümmern.“

Während ein Heiler auf Rion einsprach und ihn dazu bewegte, Lea auf die Trage zu legen, sprach der andere mit Respa und Mo.

„Sind die Heiler wirklich so gut, wie man in der Stadt munkelt?“, fragte Geralt leise.

„Besser! Glaub mir, Lea wird wieder auf den Beinen sein, noch bevor die Sonne untergeht.“

Als die Heiler die Bahre aufhoben, musste Celvin Geralt erneut festhalten.

„Lass sie ihre Arbeit tun, Geralt!“

Lea wurde die Stufen hinaufgetragen. Oben angekommen, blieben die Männer vor einer hochgewachsenen Frau stehen. Sie machten Anstalten, die Trage abzusetzen, aber die Frau winkte ab und beugte sich über Lea. Sanft legte sie eine Hand auf ihre Stirn und sprach dabei mit den Heilern. Allerdings sehr leise, sodass die Kalmarer nichts mitbekamen. Kurz darauf eilten die Männer in den Palast.

Geralt stand vor den Stufen und bewunderte die schöne Frau, die dort oben stand. Ihre glatten schwarzen Haare reichten bis zur schlanken Taille, und die großen tiefblauen Augen schienen alles zu erfassen, was um sie herum geschah. Als sie ihn

ansah, zupfte jemand energisch an seinem Hosenbein, woraufhin er nach demjenigen schlug.