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La San Felice

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Elftes Capitel.
Der Bruder Joseph

Die Klöster der südlichen Provinzen Italiens und besonders die der Terra di Lavoro, der Abruzzen, und der Basilicata, sind, welchem Orden sie auch angehören mögen und wie friedlich dieser Orden auch sei, nachdem sie im Mittelalter gegen die Einfälle der Barbaren errichtete Citadellen gewesen, in unserer Zeit Festungen gegen Invasionen geblieben, welche an Barbarei denen des Mittelalters nichts nachgeben.

Wir meinen die Invasionen der Brigands.

In diese Bauwerke, welche zugleich einen religiösen und kriegerischen Charakter besitzen, gelangt man nur über Zugbrücken, durch Fallgatter und auf Leitern, welche weggenommen werden können.

Nach Einbruch der Nacht, das heißt ungefähr um acht Uhr Abends, öffnen die Thore der Klöster sich nur in Folge mächtiger Empfehlungen oder auf einen Befehl des Abtes.

So ruhig der junge Mann sich auch anscheinend zeigte, so war er doch nicht ohne Sorge, das Kloster des Berges Cassino geschlossen zu finden. Da er aber zu dem Besuche, den er hier zu machen gedachte, nur eine Nacht hatte, und diesen Besuch nicht auf den nächsten Tag verschieben konnte, so hatte er sich aufs Gerathewohl hin auf den Weg gemacht.

Mit dem Armeecorps des Generals Championnet um sieben und ein halb Uhr in S. Germano angelangt, hatte er sich, ohne vom Pferde zu steigen, erkundigt, ob man unter den Benedictinern des heiligen Berges einen gewissen Bruder Joseph kenne, der gleichzeitig der Chirurg und Arzt des Klosters sei.

Seine Frage ward sofort durch eine Flut von Segenssprüchen und Lobpreisungen beantwortet worden.

Bruder Joseph war zehn Meilen weit in der Runde als ein außerordentlich geschickter Arzt bewundert, und als ein von der reinsten Nächstenliebe beseelter Menschenfreund verehrt.

Obschon er dem Orden nur durch das Gewand angehörte, denn er hatte kein Gelübde abgelegt und war einfach dienender Bruder, so hatte sich doch nie ein christlicheres Herz den physischen und moralischen Schmerzen der Menschheit gewidmet.

Wir sagen den moralischen, denn das, was den Priestern zur Erfüllung ihrer brüderlichen und tröstenden Mission ganz besonders fehlt, ist, daß sie, weil sie niemals Väter oder Gatten gewesen sind, weil sie niemals eine theure Gattin oder ein geliebtes Kind verloren haben, nicht die irdische Sprache kennen, welche man mit verwaisten Herzen sprechen muß.

In einem erhabenen Vers läßt Virgil die Königin Dido sagen, daß man vorzugsweise mit solchen Schmerzen Mitleid empfindet, welche man selbst erfahren. Eben dieses theilnehmende Mitleid ist es, worein Gott die Milderung der moralischen Schmerzen gelegt hat. Mit dem Leidenden weinen, heißt ihn trösten.

Die Priester aber, welche Worte für alle Leiden haben, besitzen doch selten Thränen für den Schmerz, wie furchtbar er auch sein möge.

Dies war aber durchaus nicht der Fall mit dem Bruder Joseph, dessen vergangenes Leben man übrigens durchaus nicht kannte und der eines Tages in das Kloster gekommen war, um die Gastfreundschaft desselben gegen Ausübung seiner Kunst in Anspruch zu nehmen.

Bruder Josephs Antrag war angenommen worden. Man hatte ihm Gastfreundschaft gewährt, und nun hatte nicht blos seine Wissenschaft, sondern auch sein Herz, seine Seele, seine ganze Person sich seinen neuen Mitbürgern gewidmet. Es gab keinen physischen oder moralischen Schmerz, dem er nicht Tag und Nacht bereit gewesen wäre, Trost oder Linderung zu bringen.

Gegen die moralischen Schmerzen hatte er Worte, die er aus der Tiefe seines Herzens schöpfte.

Man hätte meinen sollen, er selbst sei eine Beute aller dieser Schmerzen gewesen, welche er durch den Balsam der Thränen trocknete, den Gott uns gegen die Qualen gegeben, welche ohne diesen Balsam tödtlich werden würden, ebenso, wie er uns gegen das Gift das Gegengift gegeben.

In Bezug auf physische Schmerzen schien Bruder Joseph von der Natur nicht weniger begabt zu sein, als er es von der Vorsehung in Bezug auf die moralischen war.

Wenn er das Uebel nicht allemal heilte, so gelang es ihm wenigstens fast immer den Schmerz zu lindern. Das Mineral- und das Pflanzenreich schienen ihm, um ihn diesen Zweck erreichen zu helfen, ihre verborgensten Geheimnisse anvertraut zu haben.

Handelte es sich anstatt jener langen und furchtbaren Krankheiten, welche ein Organ allmälig zerstören und durch diese Zerstörung langsam den Tod herbeiführen, um einen jener Unfälle, welche plötzlich und unerwartet das Leben in seinen Quellen angreifen, dann war es ganz besonders Bruder Joseph, welcher hier der wunderbare Operateur ward.

Das Bistouri, in den Händen Anderer ein Werkzeug der Vernichtung, ward in den seinigen ein Werkzeug der Erhaltung. Bei dem ärmsten wie bei dem reichsten Verwundeten brachte er schon alle jene Vorsichtsmaßregeln in Anwendung, welche die moderne Wissenschaft erfunden hat, um die Einführung des Eisens in die Wunde weniger schmerzhaft zu machen.

Mochte nun Einbildung des Patienten oder die Geschicklichkeit des Operateurs der Grund sein, kurz der Kranke sah ihn stets mit Freude kommen, und wenn neben einem Schmerzenslager Bruder Joseph jenes furchtbare Besteck mit den unbekannten Instrumenten öffnete, erweckte dieses in dem Herzen des armen Kranken, anstatt eines Gefühls des Entsetzens, stets einen Strahl der Hoffnung.

Uebrigens bezeichneten die Landleute der Terra di Lavoro und der Abruzzen, welche alle den Bruder Joseph kannten, ihn durch ein Wort, welches ihre unwissende Dankbarkeit für einen doppelten physischen und moralischen Einfluß ganz vortrefflich ausdrückte. Sie nannten ihn nämlich den Zauberer.

Und Tag und Nacht, ohne sich jemals darüber zu beklagen, daß er in seinen Studien unterbrochen, oder mitten im Schnee des Winters oder der Sonnenglut des Sommers aus dem Schlafe geweckt wird, erhob sich Bruder Joseph ohne eine Miene oder Geberde der Ungeduld, mit lächelndem Munde von seinem Sessel oder von seinem Bett, fragte den Schmerzensboten: »Wohin soll ich kommen?« und ging dann hin.

Dies war der Mann, welchen der junge Republikaner aufzusuchen kam, denn an einem blauen Mantel, an dem mit der dreifarbigen Kokarde geschmückten dreieckigen Hute, den er auf seiner gleichzeitig ruhigernten und kriegerischen Stirn trug, war es, wenn man auch noch nicht bis in die Mitte des Generalstabes des Obercommandanten gedrungen war, leicht, in dem nächtlichen Reiter einen Officier der französischen Armee zu erkennen.

Anstatt, wie er erwartet, die Thore des Klosters geschlossen und das Innere desselben in Schweigen versunken zu finden, fand er zu einem Erstaunen diese Thore offen, während die Glocke, diese Seele der Klöster, ein wehklagendes Geläute anstimmte.

Er stieg ab, band sein Pferd an einen eisernen Ring, bedeckte es mit jener beinahe brüderlichen Fürsorge, welche der Reiter seinem Pferd widmet, mit seinem Mantel, ermahnte es zur Ruhe und Geduld, als ob er es mit einem vernünftigen Wesen zu thun gehabt hätte, überschritt die Schwelle, ging in das Kloster hinein, verfolgte einen langen Corridor und gelangte so, durch ein Licht und fernen Gesang geleitet, bis in die Kirche.

Hier harrte seiner ein ergreifendes Schauspiel.

In der Mitte des Chores stand eine mit einem weißen und schwarzen Tuche bedeckte Bahre auf einer Estrade.

Um den Chor herum, in den Betstühlen, knieten die betenden Mönche.

Tausende von Kerzen brannten auf dem Altar und um das Trauergerüst herum.

Von Zeit zu Zeit ließ die langsam geschwungene Glocke ihre Schmerzensklage in die Luft hinaushallen.

Es war der Tod, der in das Kloster eingezogen war, und bei seinem Eintritte die Thür offen gelassen hatte.

Der junge Officier gelangte bis an den Chor, ohne daß das Klirren einer Sporen einen einzigen der Betenden bewogen hätte, den Kopf herumzudrehen.

Er befragte alle diese Gesichter eins nach dem andern mit den Augen und unter steigender Angst, denn unter denen, welche um den Sarg beteten, erkannte er nicht den, welchen er aufzusuchen gekommen war.

Endlich näherte er sich mit kaltem Schweiß auf der Stirn und mit zitternder Stimme einem der Mönche, welche, gleich den unbeweglichen auf ihren curulichen Stühlen sitzenden römischen Senatoren, wenigstens dem Geiste nach die Erde verlassen zu haben schienen, um dem Abgeschiedenen in die unbekannte Welt zu folgen, und fragte, indem er ihn mit dem Finger an der Schulter berührte:

»Mein Vater, wer ist gestorben?«

»Unser frommer Abt,« antwortete der Mönch.

Der junge Mann athmete auf.

Dann, als ob er einiger Minuten bedurft hätte, um jene Gemüthsbewegung zu besiegen, die er so gut in seine Brust zu verschließen verstand, daß sie niemals in seinen Zügen durchleuchtete, schwieg er einen Augenblick, während dessen eine dankbaren Blicke sich gegen Himmel richteten.

Dann fragte er:

»Ist Bruder Joseph abwesend oder krank, daß ich ihn nicht unter Euch sehe?«

»Bruder Joseph ist weder abwesend noch krank. Er ist in seiner Zelle, wo er wacht und arbeitet, was auch beten heißt.«

Dann wendete der Mönch sich zu einem Novizen und sagte:

»Führt diesen Fremdling in die Zelle des Bruders Joseph.«

Und ohne den Kopf herumgewendet, ohne die beiden, an welche er das Wort gerichtet, angesehen zu haben, stimmte der Mönch wieder in den gedämpften Trauergesang ein und versenkte sich wieder in eine Abgeschiedenheit von der Welt.

Was seine Unbeweglichkeit betraf, so war diese keinen Augenblick lang unterbrochen worden.

Der Novize forderte den Officier durch einen Wink auf, ihm zu folgen.

Beide schritten den Corridor entlang, in dessen Mitte der Novize eine Treppe von imposanter Bauart betrat, die durch das matte und zitternde Licht der Wachskerze, welche er in der Hand hielt und die alle Gegenstände unsicher und beweglich machte, noch imposanter erschien.

 

So erstiegen die Beiden vier Stockwerke von Zellen.

Endlich im vierten Stockwerke bog der Knabe links ab, schritt bis an das äußerste Ende des Corridors, zeigte auf eine Thür und sagte zu einem Begleiter:

»Dies hier ist die Zelle des Bruders Joseph.«

Während der Novize mit dem Lichte näher trat, um die Thür zu bezeichnen, las der junge Mann an derselben folgende Worte:

»In dem Schweigen spricht Gott zum Herzen des Menschen.«

»In der Einsamkeit spricht der Mensch zum Herzen Gottes.«

»Ich danke, sagte der junge Officier zu seinem Führer.

Dieser entfernte sich, ohne ein Wort hinzuzufügen, denn er war schon angesteckt von jener Unempfindlichkeit des Klosters, durch welche die Mönche ihre Entsagung von menschlichen Dingen zu beweisen glauben, während sie dadurch doch nur ihre Gleichgültigkeit gegen die Menschheit an den Tag legen.

Der junge Mann blieb unbeweglich vor der Thür stehen. Er drückte die Hand aufs Herz, wie um das stürmische Pochen desselben zu beschwichtigen, und sah, wie der Knabe sich entfernte und der leuchtende Punkt, als welcher seine Kerze in der dichten Finsterniß des unabsehbaren Corridors erschien, immer kleiner ward.

Der Knabe erreichte die Treppe und stieg dieselbe langsam hinab, ohne nur ein einziges Mal die Augen nach dem Fremdling herumgewendet zu haben, den er geführt.

Der Wiederschein seiner Kerze spielte noch einen Augenblick an den Mauern, ward immer bleicher und verschwand endlich ganz, während man noch einige Sekunden lang das immer schwächer werdende Geräusch eines schleppenden Trittes auf den Steinplatten der Treppe vernehmen konnte.

Der junge Mann, auf welchen alle diese Einzelheiten des klösterlichen Automatenlebens einen lebhaften Eindruck machten, pochte endlich an die Thür.

»Herein!« sagte eine sonore Stimme, bei deren lebhaftem Ausdruck der Anpochende zusammenzuckte, so sehr contrastierte sie mit Allem, was er soeben gesehen und gehört.

Er öffnete die Thür und sah sich einem Manne von ungefähr fünfzig Jahren gegenüber, der aber deren kaum vierzig zu zählen schien. Eine einzige Falte, die des Nachdenkens, furchte seine Stirn, aber kein Silberfaden glänzte als Vorbote dieses Alters in dem üppigen schwarzen Haar, in welchem man die Spur der Tonsur vergebens suchte.

Die linke Hand auf einen Todtenkopf stützend, wendete er mit der Rechten die Blätter eines Buches um, in welchem er aufmerksam las.

Eine Schirmlampe beleuchtete dieses Gemälde, indem es dasselbe in einen Lichtkreis einschloß. Der übrige Theil dieses Gemachs blieb in Halbschatten gehüllt.

Der junge Mann näherte sich mit ausgebreiteten Armen. Der Lesende richtete den Kopf empor und betrachtete mit Erstaunen die glänzende Uniform, welche ihm unbekannt zu sein schien.

Kaum aber befand sich der, welcher sie trug, in dem von der Lampe geworfenen leuchtenden Ringe, als ein zwiefacher Ruf dem Munde der beiden Männer entfuhr:

»Salvato!«

»Mein Vater!«

Es waren in der That der Vater und der Sohn, welche nach zehnjähriger Trennung einander wiedersahen und sich in die Arme sanken.

Unsere Leser hatten in dem nächtlichen Reiter wahrscheinlich Salvator bereits wiedererkannt, vielleicht aber haben sie nicht vermuthet, daß Bruder Joseph sein Vater war.

Zwölftes Capitel.
Vater und Sohn

Die Freude des seit zehn Jahren aller Genüsse des Familienlebens beraubt gewesenen Vaters, der, indem er seinen Sohn wieder sah, in sich gleichzeitig die sanftesten und die mächtigsten Fibern der väterlichen Liebe erwachen fühlte, schien die ganze Stufenleiter der menschlichen Empfindungen durchzumachen und in seinem Ausdruck, der durch seine Milde etwas Bezauberndes und durch seine Gewalt etwas Furchtbares hatte, gleichzeitig an die Klage der Taube und an das Brüllen des Löwen zu streifen.

Er eilte seinem Sohne nicht entgegen, sondern er stürzte sich auf ihn. Es genügte ihm nicht, ihn auf die Wangen zu küssen, sondern erfaßte ihn in die Arme, hob ihn empor, wie er mit einem Kinde gethan haben würde, drückte ihn an sein Herz, schluchzte und lachte durcheinander und schien einen Ort zu suchen, wohin er ihn für immer, außerhalb der Welt, fern von der Erde, in der Nähe des Himmels bringen könnte.

Endlich warf er sich auf einen Schemel von Eichenholz, hielt seinen Sohn, wie die Madonna von Michel Angelo den Gekreuzigten, auf den Knien, während seine keuchende Stimme nur immer und immer wieder rief:

»Wie, Du bist es! Mein Sohn! mein Salvato! mein Kind! Du bist es! Du bist es!«

»O mein Vater, mein Vater!« antwortete der junge Mann, selbst keuchend. »Ich schwöre Dir, daß ich Dich liebe, wie nur ein Sohn lieben kann, aber ich schäme mich beinahe der Schwäche dieser Liebe, wenn ich sie mit der Größe der deinigen vergleiche.«

»Nein, nein, schäme Dich nicht, mein Sohn,« antwortete Palmieri. »Die fruchtbare Natur, die Ifis mit den hundert Brüsten, will es so – unermeßliche, unendliche Liebe in dem Herzen der Eltern, beschränkte Liebe in dem der Kinder! Sie schaut vor sich, diese gute, immer logische und intelligente Natur. Sie hat gewollt, daß das Kind sich über den Tod des Vaters trösten könne, welcher diese Welt vor ihm verlassen soll; daß dagegen der Vater untröstlich sei, wenn er unglücklicherweise das Kind, welches bestimmt war, ihn zu überleben, sterben sieht. Sieh mich an, Salvato, und unsere zehnjährige Trennung entschwinde in deinem Blick.«

Der junge Mann heftete seine großen schwarzen, ein wenig scheuen Augen auf seinen Vater, indem er seinem strengen Gesicht den sanftesten Ausdruck gab, den er ihm geben konnte.

»Ja,« sagte Palmieri, indem er Salvato mit einem eigenthümlichen Gemisch von Liebe und Stolz betrachtete, »ja, ich habe Dich zu einer starken, kräftigen Eiche erzogen und nicht zu einem zierlichen Palmbaum, dem Schilfrohr der heißen Zone. Ich würde daher unrecht daran thun, wenn ich mich heute darüber beklagen wollte, daß ich dieses feste Holz mit einer rauhen Rinde bedeckt sehe. Ich wollte, daß Du ein Mann und ein Krieger würdest, und Du bist geworden, was ich beabsichtigte. Laß mich die Epauletten küssen, welche Dich als Brigadechef bezeichnen; sie beweisen deinen Muth. Du hast die Kraft gehabt, mir zu gehorchen, als ich bei unserm Abschied zu Dir sagte:

»Schreibe mir nicht eher, als bis Du meiner Liebe und meiner Fürsorge bedarfst. Ich fürchtete die irdischen Schwächen und hoffte einen Augenblick, daß, durch mein Streben gerührt, Gott sich meinem Geiste offenbaren würde, denn wenn mein Herz glauben will –beklage mich, mein Sohn! – beharrt der Geist dennoch auf seinem Zweifel. Aber nicht wahr, Du hast nicht die Kraft gehabt, in meiner Nähe vorüber zu gehen, ohne mich zu sehen, ohne mich zu umarmen, ohne mir zu sagen: Mein Vater, es bleibt Dir auf der Welt ein Herz, welches Dich liebt, und dieses Herz ist das deines Sohnes! Dank, mein geliebter Salvato, Dank!«

»Nein, mein Vater, nein, ich habe nicht gezögert, denn eine innere Stimme sagte mir, daß ich Dir eine Freude brächte, die Du schon lange erwartet. Und dennoch, als ich unterwegs war, kam wieder der Zweifel über mich. Am Fuße dieses Berges trennten wir uns vor zehn Jahren, ich, um mich in der Welt zu verlieren, Du, um mit Gott allein zu sein. Ich bin gekommen, ohne mein Pferd zu einem schnelleren Schritt anzutreiben, ohne es zu einem langsameren zu nöthigen, aber ich fühlte, wie sehr Dich ich liebe, als ich, nachdem ich die Schwelle der Kirche überschritt und an den Eingang des Chors gelangt war, mitten unter allen jenen über den Sarg des Abtes geneigten Häuptern vergebens das deinige suchte. Einen Augenblick lang quälte mich der Gedanke, daß Du, mein geliebter Vater, unter jenem Leichentuch schlummertest. Ich erschrak fast selbst über den veränderten Ton meiner Stimme, als ich fragte, wo Du wärest. Ein Wort beruhigte mich, ein Jüngling führte mich hierher. Deiner Thür gegenüber fühlte ich mich wieder vom Zweifel erfaßt, ich zitterte, Dich versteinert zu finden wie jene murmelnden Statuen, welche ich im Schiff der Kirche gesehen und welche ebensowenig der Menschheit anzugehören schienen wie die Memnonsäule, denn Töne von sich geben, heißt nicht leben. Dennoch aber bedurfte es, um mich wieder zu beruhigen, nur jenes von Dir ausgesprochenen Wortes: »Herein!« Mein Vater, mein Vater, Dank sei Gott, Du bist der einzige Lebende unter allen diesen Todten.«

»Ach, mein lieber Salvato,» antwortete Palmieri, »dennoch war es dieser künstliche Tod, den ich suchte, als ich mich in ein Kloster zurückzog. Das Kloster hat das Gute, daß es den Selbstmord siegreich bekämpft. Nach einem großen Schmerz, nach einem unersetzlichen Verlust sich in ein Kloster zurückziehen, heißt sich moralisch eine Kugel durch den Kopf jagen; es heißt, wie die Kirche sagt, den Leib tödten, ohne die Seele zu berühren, und hierin beginnt eben für mich der Zweifel, weil das Gebot mit der Natur im Widerspruch steht. Nach dem Ausspruch der Kirche den Menschen abstreifen, heißt nach Vollkommenheit trachten, während eine geheime Stimme mir zuruft, daß der Mensch desto besser ist, je mehr er Mensch ist, und folglich durch die Wissenschaft, durch die Wohlthätigkeit, durch das Genie, durch die Kunst, durch Herzensgüte auf das ganze Menschengeschlecht einwirkt. Derjenige, welcher in dieser frommen Zurückgezogenheit, sagen unsere Brüder, von dem irdischen Geräusch am wenigsten bemerkt, ist der, welcher, weil er von der Erde am weitesten entfernt, Gott am nächsten ist. Ich wollte meinen Körper und meinen Geist unter diesen Ausspruch beugen und noch lebend mich zur Leiche machen. Mein Geist und mein Körper lehnten sich jedoch dagegen auf und sagten: »Die Vollkommenheit ist, wenn sie überhaupt existiert, in der entgegengesetzten Richtung zu finden. Lebe in der Einsamkeit, aber nur um zum Nutzen der Menschheit den Schatz der Wissenschaft, den Du erworben, zu verdoppeln. Lebe im Nachdenken, aber dein Nachdenken sei fruchtbar. Verwandle deinen Schmerz in einen aus Philosophie, Menschenliebe und Thränen zusammengesetzten Balsam, um damit die Schmerzen anderer zu heilen. Heißt es nicht in der Iliade, daß der Rost von der Lanze des Achilles die Wunden heilte, welche diese Lanze zugefügt? Allerdings hat die arme Menschheit mich gut unterstützt, indem sie zu mir kam, während ich zögerte, zu ihr zu gehen, und indem sie das Wort des Lebens anstatt das Wort des Todes zu Hilfe rief. Ich folgte dem Ruf, der mich lockte. Allen, welche nach mir schrien, antwortete ich: »Hier bin ich!« Ich bin nicht vollkommener, sicherlich aber nützlicher geworden. Und, seltsamer Weise, indem ich mich von den gemeinen Grundsätzen entfernte, folgte ich immer mehr jener Stimme meines Gewissens, welche zu mir sagte: Du hast im Laufe deiner Existenz drei Personen das Leben gekostet; anstatt aber Buße zu thun, anstatt zu fasten, anstatt zu beten – was nur dir von Nutzen sein kann, wenn man nämlich annehmen kann, daß das vergossene Blut durch Gebet, Fasten und Buße wirklich gesühnt wird – lindere so viel Schmerzen, als Dir möglich ist, verlängere das Leben so vieler Menschen als Du kannst, und glaube mir, die Dankgebete derer, deren Leben Du verlängert und deren Schmerzen Du gelindert, werden die Anklage der Elenden ersticken, welche Du vor ihrer Zeit aus dem Leben gesendet, damit sie vor dem Richterstuhl des Höchsten Rechenschaft von ihren Verbrechen geben!»

»Bleibe bei diesem Leben der Liebe und der Selbstaufopferung. Du hast den rechten Weg gewählt, mein Vater. Diese Menschen, welche Dich umgeben – ich habe von ihnen und von Dir sprechen gehört, man fürchtet sie und man achtet sie; Dich aber liebt und segnet man.«

»Und dennoch sind sie glücklicher als ich, wenigstens vom Gesichtspunkt der Religion aus betrachtet. Sie beugen sich unter den Glauben, ich aber kämpfe mit dem Zweifel. Warum hat Gott den fluchbeladenen Baum der Erkenntniß in sein Paradies gesetzt? Warum muß der Mensch, um zum Glauben zu gelangen, stets einem und zwar oft dem gesündesten und besten Theile seiner Vernunft entsagen, während die unerbittliche Wissenschaft uns nicht blos verbietet, irgend etwas ohne Beweis zu behaupten, sondern auch nur zu glauben?«

»Ich verstehe, mein Vater. Du bist ein rechtschaffener Mann, ohne auf Vergeltung zu hoffen; Du thut Gutes, ohne Lohn zu erwarten. Du glaubst, mit einem Worte, nicht an ein anderes Leben als das unsrige.«

»Und Du, glaubst Du an ein anderes?« fragte Palmieri.

Salvato lächelte.

»In meinem Alter,« sagte er, »beschäftigt man sich wenig mit jenen ernsten Fragen des Lebens und des Todes, obschon ich bei dem Beruf, den ich gewählt, fortwährend zwischen Tod und Leben schwebe und sehr oft dem Tode näher bin als jene Greise, welche mit schlotternden Knien und weißem Haar an das Thor des Campo santo pochen.«

Salvato schwieg einen Augenblick und setzte dann hinzu:

 

»Auch ich habe kürzlich an jenes Thor gepocht, wenn ich aber auch die Antwort auf die Frage, welche ich an das Grab richtete, nicht mit Gewißheit erwartete, so erwartete ich sie wenigstens mit Hoffnung. Warum machst Du es nicht wie ich, mein Vater? Warum versuchst Du wie Hamlet die Nacht des Grabes zu durchdringen und zu erforschen, welche Träume sich während des ewigen Schlafes in unserm Gehirn bewegen werden? Warum, nachdem Du recht gelebt, fürchtest Du, schlimm zu sterben?»

»Ich fürchte nicht, schlimm zu sterben, mein Sohn, ich fürchte blos, ganz zu sterben. Ich bin einer von denen, welche nicht zu lehren verstehen, was sie nicht glauben. Meine Kunst ist nicht so untrüglich, daß sie ewig gegen den Tod zu kämpfen verstünde. Nur Herkules kann sicher sein, ihn stets zu überwinden. Wenn nun im Vorgefühl seines nahen Endes ein Kranker zu mir sagt: Sie können als Arzt nichts mehr für mich thun. Versuchen Sie, da Sie mich nicht heilen können, wenigstens mich zu trösten, dann benütze ich nicht die Ermattung seines Geistes, um in ihm einen Glauben zu erwecken, der nicht in mir selbst lebt, sondern ich schweige, um nicht einem Sterbenden eine Versicherung ohne Beweis, eine Hoffnung ohne Gewißheit zu geben. Ich bestreite nicht die Existenz einer übernatürlichen Welt, sondern ich begnüge mich – und dies ist schon genug – nicht daran zu glauben. Da ich nun aber nicht daran glaube, so kann ich diese übernatürliche Welt denen, welche in dem Dunkel des Todeskampfes sie suchen, auch nicht versprechen. Da ich, sobald ich einmal meine Augen für immer geschlossen, fürchte, weder das Weib, das ich geliebt, noch den Sohn, den ich liebe, wiederzusehen, so kann ich auch nicht zu dem Ehegatten sagen: Du wirst dein Weib wiedersehen, oder zu dem Vater: Du wirst dein Kind wiedersehen.«

»Aber ich, ich habe meine Mutter wiedergesehen, das weißt Du.«

»Nein, dem ist nicht so gewesen, mein Sohn. Eine Frau aus dem Volke, ein plumpes, von Furcht erfülltes Gemüth sagte: Es stand am Bett des Knaben ein Schatten, welcher ihn singend wiegte, und ich, damals noch jung und Freund des Wunderbaren, sagte: Ja, das kann wohl sein! Ich glaubte damals sogar, daß dem so gewesen sei. Wenn man aber alt wird – Du wirst es selbst erfahren, Salvato, – wenn man alt wird, stellt sich der Zweifel ein, weil man sich der furchtbaren und unvermeidlichen Wirklichkeit immer mehr nähert. Wie oft bin ich in dieser Zelle allein mit jenem verzehrenden Gedanken an das Nichts, welcher in einem gewissen Alter ins Leben tritt, um es nie wieder zu verlassen und welcher als unsichtbares, aber greifbares Gespenst neben uns einherwandelt – wie oft, sage ich, bin ich bei jener Erinnerung an die poetische Legende deiner Kindheit niedergekniet und habe zu der Stunde, wo, wie die Sage behauptet, die Gespenster erscheinen, in das tiefste Dunkel gehüllt, Gott angefleht, zu meinen Gunsten des Wunder zu erneuen, welches er für Dich gethan; aber niemals hat Gott mich einer Antwort gewürdigt. Ich weiß, daß er einem Atom, wie ich bin, keine Kundgebung seiner Macht und seines Willens schuldig ist, aber dennoch wäre es gut, nachsichtig und barmherzig von ihm gewesen, wenn er mich erhört hätte. Er hat es nicht gethan.«

»Er wird es noch thun, mein Vater.«

»Nein, denn dies wäre ein Wunder und die Wunder gehören nicht zur logischen Ordnung der Natur. Was sind wir übrigens, daß Gott in seiner unwandelbaren Ewigkeit sich die Mühe nehmen sollte, den von ihm der Schöpfung vorgeschriebenen Gang zu ändern? Was sind wir für ihn? Ein unbemerkbarer Auswuchs der Materie, auf welchem seit Jahrhunderttausenden ein complicirtes, unerklärliches, flüchtiges Phänomen vor sich geht, welches man das Leben nennt. Dieses Phänomen erstreckt sich im Pflanzenreiche vom Moose bis zur Ceder, im Thierreiche vom Infusorium bis zum Mastodon. Das Meisterwerk des Pflanzenreiches ist die Sensitive, das Meisterwerk des thierischen Lebens ist der Mensch. Worin beruht die Ueberlegenheit, welche das zweibeinige ungefiederte Thier Platos über die andern Thiere besitzt? In einem Zufall. Seine Ziffer ist auf der Leiter der geschaffenen Wesen die höchste, denn sie gab ihm das Recht zu einem vollständigern Theil seiner Individualität, als seinen unter ihm stehenden Brüdern verliehen ward. Wer sind die Homer, die Pindar, die Aeschylos, die Sokrates, die Perikles, die Phidias, die Demosthenes, die Cäsar, die Virgil, die Justinian, die Karl der Große? Ein wenig besser organisierte, ein wenig vollkommenere Gehirne als die des Elephanten oder des Affen. Was ist das Kennzeichen dieser Vollkommenheit? Der Ersatz des Instinkts durch die Vernunft. Was ist der Beweis dieser höhern Organisation? Die Fähigkeit zu sprechen, anstatt zu bellen oder zu brüllen. Wenn aber der Tod kommt, wenn er das Wort auslöscht, wenn er die Vermunft vernichtet, wenn der Schädel dessen, welcher Karl der Große, Justinian, Virgil, Cäsar, Demosthenes, Phidias, Perikles, Sokrates, Aeschylos, Pindar oder Homer war, sich wie der Aoricks mit schönem, gutem Schlamme füllt, dann ist Alles gesagt. Die Posse des Lebens ist ausgespielt und das in der Laterne erloschene Licht entzündet sich niemals wieder. Du hast oft den Regenbogen gesehen, mein Kind. Es ist ein unermeßlicher Bogen, der sich von einem Horizont zum andern erstreckt und bis in die Wolken emporsteigt, dessen beide äußersten Enden aber die Erde berühren. Diese beiden äußersten Enden sind das Kind und der Greis. Studiere das Kind und Du wirst sehen, daß, so wie sein Gehirn sich entwickelt, sich vervollkommnet und reift, auch der Gedanke, das heißt die Seele, sich entwickelt, sich vervollkommnet und reift. Studiere den Greis und Du wirst im Gegensatze hierzu sehen, daß, sowie das Gehirn erschlafft, sich vermindert und erstarrt, der Gedanke, das heißt die Seele, sich trübt, dunkler wird und endlich erlischt. Mit uns geboren, ist sie dem fruchtbaren Wachsthum der Jugend gefolgt, und ehe sie mit uns stirbt, folgt sie dem Alter in seiner unfruchtbaren Hinfälligkeit. Wo war der Mensch, ehe er geboren ward? Niemand weiß es. Was war er? Nichts. Was wird er sein, wenn er nicht mehr ist? Nichts, das heißt das, was er war, ehe er geboren ward. Wir müssen in einer andern Gestalt fortleben, sagt die Hoffnung. Wir müssen in eine bessere Welt übergehen, sagt der Stolz. Was kommt mir darauf an, wenn ich während der Reise das Gedächtniß verloren, wenn ich vergessen habe, daß ich gelebt, und wenn dieselbe Nacht, welche das Diesseits der Wiege umhüllte, sich auch auf das Jenseits des Grabes erstreckt? Erst an dem Tage, wo der Mensch die Erinnerung an seine Umgestaltung und an seine Wanderungen bewahrt, wird er unsterblich und der Tod für ihn nichts weiter sein als ein Zufall seiner Unsterblichkeit. Nur Pythagoras erinnerte sich eines vorhergegangenen Lebens. Aber was will ein Thaumaturg, welcher sich erinnert, gegen eine ganze Welt bedeuten, welche vergißt? »Doch, setzte Palmieri den Kopf schüttelnd hinzu, »genug über diese trostlose Frage. Die Einsamkeit gebiert diese schlimmen Träume. Ich habe Dir mein Leben erzählt; erzähle Du mir das Deine. In deinem Alter schreibt das Leben sich mit goldenen Buchstaben. Wirf einen Strahl deiner Morgenröthe und deiner Hoffnungen in meine Dämmerung und meine Zweifel. Sprich, mein geliebter Salvato, und laß' mich selbst den Ton meiner Worte, selbst den Hall meiner Stimme vergessen.«

Der junge Mann gehorchte. Er hatte seinerseits seinem Vater die ganze Morgendämmerung einer Existenz zu erzählen. Er schilderte ihm seine Kämpfe, seine Triumphe, seine Gefahren, seine Liebe.

Palmieri lächelte bald, bald weinte er. Er wollte die Wunde sehen, er wollte die Brust untersuchen, und wie der Vater nicht müde ward, zu fragen, eben so wenig, als der Sohn müde ward, zu antworten, so sahen sie so den Tag kommen und mit dem Tage drang zu ihnen das Wirbeln der Trommeln und das Schmettern der Trompeten herauf, welche ihnen verkündeten, daß es Zeit sei, sich wieder zu trennen.